[Rezension von: Münnich, Nicole: Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesellschaftlichem Eigensinn : die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urbane Erfahrung. - Wiesbaden : Harrassowitz Verlag, 2013. - 444 S.]:
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Veröffentlicht: |
2013
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Geschichte: 1848/1878 bis 1989 auf diese einzugehen. Besonders durch den Vergleich von Finnland und Jugoslawien legt sie eine fundierte Studie zur Frühphase des Kalten Krieges in Europa aus der Perspektive zweier in den Cold War Studies eher wenig beachteten Länder vor. Gießen Jürgen Dinkel Nicole Münnich, Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesell schaftlichem Eigensinn. Die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urhane Erfahrung. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2013 (Balkanologische Veröffentlichungen, 57). 444 S„ ISBN 978-3-447-06881-9, €74,Anfang 1962 entschloss sich die Belgrader Stadtverwaltung, alle von Menschen oder Tieren gezogenen Fuhrwerke auf den Straßen Belgrads zu verbieten. Gedacht war dies als Maßnahme, um ein Zeichen rückständiger bäuerlicher Lebenskultur aus der sozialis tischen Metropole zu verbannen. Leider hatten die Stadtväter nicht bedacht, dass es nicht genügend Lastwagen gab, die die Pferdefuhrwerke hätten ersetzen können. Der Beruf der Lastenträger erlebte eine nicht vorgesehene Konjunktur. Schließlich musste die Armee einspringen, indem sie temporär 600 ihrer Lastwagen für den Transport von Gütern nach und in Belgrad zur Verfügung stellte. Diese Episode, die Nicole Münnich in ihrer Ge sellschaftsgeschichte Belgrads schildert (359f.), repräsentiert eines der zentralen Themen dieser Arbeit: das wiederholte Scheitern — gemessen an den politischen Intentionen - von Modernisierungsprojekten in Belgrad, sei es, weil sich die Bevölkerung diesen entzog oder weil die politischen Visionen nicht mit den materiellen Möglichkeiten
korrespondierten. In den letzten Jahren erfreut sich die Sozial- und Kulturgeschichte Belgrads eines regen historiographischen Interesses. Dubravka Stojanovič und Nataša Mišković schilderten die unzureichende bzw. oberflächliche Modernisierung Belgrads im „langen“ 19. Jh.,1 Predrag Markovič stellte die besondere Position Belgrads zwischen Ost und West während des Kalten Krieges dar.2 Nicole Münnich greift in ihrer Studie, die 2010 als Dissertation an der Universität Leipzig verteidigt wurde, einige dieser Themen auf, entwirft aber einen Interpretationsansatz, der über Dichotomien - wie „Moderne“ und „Rückständigkeit“ hinausgeht. Die zentrale konzeptionelle Grundlage dafür ist das Lüdtkesche Paradigma des Eigen-Sinns: Die jeweils unterschiedlich motivierten Bedürfnisse, Erwartungen und Prakti ken der „einfachen“ Beigraderinnen und Belgrader sorgten für eine deutliche Modifikation des revolutionären Vektors der Stadtpolitik. Das am Beispiel Belgrad entwickelte Phänomen der „Rurbanisierung“ differenziert Münnich, indem sie dieses nicht als Trägheit der ländli chen Kultur der in die Stadt migrierten Bauern erklärt, sondern als eine durchaus rationale Anpassung an die spezifischen Bedingungen und Unzulänglichkeiten der Metropole (374). Mit diesem konzeptionellen Apparat plaziert sich die Arbeit zugleich im Kontext neuerer Interpretationen des Staatssozialismus (und leistet einen Beitrag zu diesen), die diesen nicht in binären Oppositionen, sondern in Begriffen der Aushandlung und der Herrschaft als soziale Praxis begreifen. Münnich möchte „sowohl den Alltag und die Lebensweise
[.] in 518 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen den Blick nehmen, diesen aber auch einbetten in einen mit strukturanalytischen Verfahren untersuchten Kontext“. Mithin zielt die Arbeit auf die „Schnittstelle von Individuum und gesellschaftlicher Struktur“ (27). Empirisch stützt sich die Autorin auf ein breites Spektrum von Quellen - von archivalischer Überlieferung über Erinnerungen und Presseberichte bis zu zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen (wobei die Qualität der jugoslawischen Soziologie dieser Zeit deutlich hervortritt). Die Autorin untersucht das Spannungsverhältnis zwischen politischen (Um-) Gestal tungsversuchen und popularen Strategien sowie die sich daraus ergebenden Belgrader Le bensrealitäten anhand von drei Themenfeldem: Stadtplanung, Wohnungsbau und Konsum. Alle drei Aspekte waren nicht nur zentral für die Strukturen und Formen des realen Lebens in der Stadt, sondern stellten Arenen starker politischer Intervention dar. Anhand dieser Probleme lassen sich nicht nur wesentliche Dimensionen der Entwicklung der Stadt und ihrer Gesellschaft behandeln, sondern auch weitergehende Fragen, die von der Autorin wiederholt mit gesamtjugoslawischen Prozessen in Verbindung gebracht werden; Belgrad wird nicht als isolierte Einheit behandelt. Denn so einmalig in vielerlei Hinsicht Belgrad war, so jugoslawisch war die Stadt gleichzeitig, was angesichts ihrer Hauptstadtfunktion und der damit einhergehenden symbolischen Aufladung nicht weiter verwundert. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf die 1960er Jahre — eine zwar pragmatisch (im Sinne der Bewältigung des empirischen
Materials) nachvollziehbare, konzeptionell aber nicht ganz befriedigende Entscheidung. Diese Jahre mögen aufgrund der relativ liberalen Politik in Jugoslawien sowie ihrer wirtschaftlichen Dynamik eine Periode darstellen, in der sich manche der hier untersuchten Probleme kristallisierten; aber diese Perspektive verstellt den Blick auf länger wirkende Entwicklungen. Wie würde z. B. das Urteil über die Adaptation der Migranten vom Dorf ausfallen, wenn nicht bloß die ersten Jahre nach ihrer Zuwanderung betrachtet werden würden, sondern zwei Jahrzehnte? Zudem unter stellt dieser Untersuchungszeitraum, dass die drei betrachteten Themenfelder eine analoge Temporalitat aufwiesen, was hinterfragt werden kann. In allen drei Kapiteln bietet die Autorin nicht nur eine Vielzahl von interessanten empirischen Daten - das Buch ist auch als historische Soziologie Belgrads in den 1960er Jahren zu lesen -, sondern eine Reihe von wichtigen Schlussfolgerungen. Dazu gehört die enge Verbindung der Kommunalpolitik und der internationalen Position Jugoslawiens. Des Weiteren zeigt sich wiederholt ein Missverhältnis zwischen ambitionierten städte baulichen Plänen und knappen Mitteln, wobei die weiterreichenden Pläne der Belgrader Kommunisten weniger auf einen radikalen Umbau des Stadtzentrums zielten als auf die Errichtung des Neustadtviertels Novi Beograd. Auf die architektonische Gestaltung nahmen die Parteiführer relativ wenig Einfluss, was ein Ausweis der stärkeren Ausdifferenzierung und relativen Autonomie unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsräume in Jugoslawien im Vergleich zu
anderen staatssozialistischen Ländern ist. Darin manifestierte sich auch die Dezentralisierung des Landes. Zudem hatten es die Machthabenden mit einer eigensinnigen Bevölkerung zu tun: Als Repräsentationsräume der Macht gedachte Orte wie der zentrale Marx-Engels-Platz wurden von den Belgradern kurzerhand zum Parkplatz umfunktioniert. Das Kapitel über den Wohnbau liefert umfassende Informationen, wie in Jugoslawien Wohnungen errichtet und verteilt wurden (oder auch nicht). Die Autorin rekonstruiert Südost-Forschungen 72 (2013) 519
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 detailliert, „wie man in Belgrad zu einer Wohnung kam“ (so der Titel eines Unterkapitels, 192). Dass Belgrad bei der Versorgung der zahlreichen Migranten mit Wohnraum vom Dorf Schwierigkeiten hatte, ist weder verwunderlich noch systemspezifisch; durchaus besonders war aber das Entstehen großer Siedlungen mit illegal errichteten Häusern. Diese Gemein schaften konnten, unterstützt von der Presse, ihre Ansprüche regelmäßig gegen den Staat durchsetzen, nicht zuletzt weil sich letzterer ohnehin nicht in der Lage sah, die Ansprüche nach Wohnraum zu befriedigen. Hier räumte die Regierung bzw. die Stadtverwaltung letztlich dem Markt und der Privatinitiative weiten Raum ein, um die Defizite des Staates auszugleichen; die ökonomische Liberalisierung wurde somit durch Praktiken von „unten“ stark angetrieben. Ähnlich ist die Stoßrichtung des Kapitels über die Belgrader Konsum gewohnheiten: Die städtische Bevölkerung wollte vom Einkäufen auf den Bauernmärkten nicht ablassen, u. a. wegen ungebrochener Ernährungsgewohnheiten, und begeisterte sich nur zögerlich für die neu errichteten Supermärkte. Sie enttäuschte damit die Hoffnungen der Stadtväter, die in ersteren einen dem Stadtbild abträglichen Anachronismus und in letzteren ein Signum der angestrebten Moderne sahen. Letztlich fügte sich die Stadt dem Unvermeidlichen und setzte nicht mehr auf ein Verdrängen der Märkte, sondern auf deren Regulierung und Modernisierung. Was in diesen beiden Kapiteln allerdings zu kurz kommt, ist eine systematische Diskussion der sozialräumlich differenzierten Ungleichheit
sowie der Distinktionspraktiken unterschiedlicher Gruppen (wie zwischen den Alteingesessenen und den Zugewanderten), für die Münnich einige Indizien gibt, ohne diese Themen weiter zu verfolgen. Nicole Münnich hat eine umfassende, interessante und in vielen Aspekten wegweisende Studie zur Entwicklung einer in mancherlei Hinsicht paradigmatischen, in anderer einma ligen südosteuropäischen Stadt nach dem 2. Weltkrieg vorgelegt. Die Autorin rekonstruiert detailliert und überzeugend, wie es der städtischen Bevölkerung immer wieder gelang, sich ihre Stadt entgegen anderslautender politischer Ziele anzueignen, wie aber auch die Politik lernte und sich anpassungsfähig zeigte. Demgegenüber fallen die Schwächen des Buches kaum ins Gewicht: So verwundert die konsequente Vermeidung von Leerzeichen vor dem Prozentzeichen. Störender sind manche Exkurse, deren Relevanz sich nicht erschließt. Der „historische Abriss“ (Kapitel 2) wäre verzichtbar gewesen, ebenso die für die Fragestellungen des Buches wenig zielführenden allgemeinen Ausführungen über die unzureichende Gleich stellung der Frauen in Jugoslawien (Kapitel 5). Diese Einwände sind aber gegenüber dem empirischen und interpretatorischen Ertrag der Arbeit als geringfügig zu gewichten. Die Studie macht nicht nur neugierig, wie es nach den „langen“ Sechzigern weitergegangen ist, sondern legt auch die Erzählstränge aus, die für eine Fortsetzung aufgegriffen werden sollten. Regensburg Ulf Brunnbauer 1 Dubravka Stojanovič, Kaldrma i asfalt. Urbanizacija i evropeizacija Beograda, 1890-1914. Beograd 2008; Nataša MiŠKOVić, Basare und
Boulevards. Belgrad im 19. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2008. 2 Predrag Markovič, Beograd izmedju istoka i zapada. 1948-1965. Beograd 1996. 520 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Cezar Stanciu, Războiul nervilor. Dispute Ceauşescu-Brejnev 1965-1971 [Der Ner venkrieg. Die Ceauşescu-Breschnew-Dispute 1965-1971]. Târgovişte: Cetatea de Scaun 2011. 270 S., ISBN 978-606-537-077-7, RON 35,Nous évaluons la récente publication du volume indiqué ci-haut, qui a la structure suivante: «Sommaire», «Préface» (signé par le maître de conférences Silviu Miloiu), «Introduction» (nous citons de cette introduction: «Depuis tant de décennies la question fondamentale est la même: combien a été l’illusion et combien a été la réalité [.]. Le mythe d’un Ceauşescu libéral, réformateur, mythe alimenté par les succès de sa politique externe, sera liquidé définitivement après 1971, malgré le fait que la politique externe a évolué pour beaucoup d’années en continuation dans le même cadre ») ; puis les cinq chapitres du volume ; «Tableau chronologique» ; «Glossaire», «Index» ; «Abréviations» ; àia fin du volume l’auteur présente une bibliographie exhaustive. Nous trouvons aussi des indications bibliographiques dans les notes en bas des pages. L’utilisation de mémoires, d’interviews, d’archives, a offert à l’auteur la possibilité d’une vaste documentation, et une des qualités remarquables du livre est justement l’analyse évolutive des rapports entre l’Union soviétique et la Roumanie dans la période 1965-1971. Le livre n’a ni caractère critique, ni caractère approbatif ; pour son objectivité (ou neutra lité) le livre a les traits d’un vrai documentaire, malgré qu’il s’agisse d’une oeuvre vraiment scientifique, ce qui suppose évidemment des jugements d’appréciation
de la part de l’auteur. Les opinions de l’auteur se trouvent, d’une façon récapituladve, dans les « conclusions », contenues à la fin du cinquième chapitre; l’auteur écrit: «Au final, on peut dire que la poli tique de la dissidence dans le bloc communiste, politique que la Roumanie a pratiquée a été réelle et n’a pas été - pas du tout - une manifestation négligeable pour l’Union soviétique» (230). Dans un sens positif, il résulte clairement, tenant compte des documents du Comité central, que cette politique a été sincèrement en accord avec les intérêts de l’indépendance de la Roumanie, dans la mesure où le concept de l’indépendance a été vraiment utile dans les conditions de la politique interne et internationale. Le livre contient aussi une série d’illustrations (photographies) par exemple: Ceauşescu et Brejnev à Moscou ( 1966) ; le départ de Corneliu Mănescu en Italie dans une visite officielle (1966) ; Nicolae Ceauşescu, secrétaire général du Parti communiste roumain et Luigi Longo, secrétaire général du Parti communiste italien (16-17 août 1967) ; Nicolae Ceauşescu à son départ de Belgrade (4 juin 1968) salué par Iosip Broz Tito ; l’entrevue de Nicolae Ceauşescu avec Mao Tzedun (3 juin 1971) ; Nicolae Ceauşescu et Gheorghe Maurer (29 juin 1967). La limitation temporelle fixée par l’auteur à la période 1965-1971 lui a permis d’éviter n’importe quelle comparaison avec une autre période - par exemple la période 1971 - 1989, comparaison qui inévitablement aurait influencé le point de vue de l’auteur sur l’ensemble des événements qui, après 1989, ont changé la face de
l’Europe et aussi la configuration politique du monde entier. L’auteur a évité le piège d’analyser une certaine période avec le but de la comparer, d’une manière positive ou négative, avec une autre période, comme l’a fait Voltaire dans son uvre « Le siècle de Louis XIV », dans laquelle Voltaire a mis en évidence ce qui était négatif - à son avis - dans la politique de Louis XIV pour mettre davantage l’accent sur ce qui était positif dans la politique de Louis XV, roi contemporain de l’écrivain. Südost-Forschungen 72 (2013) 521
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 Ce qui s’ensuit - des analyses détaillées de l’auteur concernant chaque phase de la période 1965-1971 — est l’idée que la politique de la Roumanie a été la continuation de la traditionnelle politique de balancement (parmi les exemples illustratifs, ceux de Michel le Brave et de Constantin Brâncoveanu) entre les grands pouvoirs, avec l’intention de relâcher l’influence et même la domination d’un seul grand pouvoir sur l’État roumain; cette politique de balancement a été favorisée par l’apparition, à un moment donné, de l’antagonisme sino-soviétique.1 L’auteur ne pouvait éviter l’omission de quelques informations, étant donnée la richesse du matériel: par exemple, il n’a pas mentionné l’expression du président américain John son concernant « les chiens de la guerre » qu’on ne doit pas déchaîner, allusion qui a été interprétée comme une référence a une éventuelle occupation de la Roumanie par l’Union Soviétique (après l’invasion de la Tchécoslovaquie). Voilà quelques-unes des opinions exprimées par l’auteur: « Ceauşescu ne pouvait affirmer son indépendance que si Moscou se trouvait en difficulté» (144); en relation avec le discours public de Ceauşescu immédiatement après l’invasion de la Tchécoslovaquie, l’auteur écrit: «[.] le plus long et le plus brillant jour de savie [.]. Ce jour a été pour lui un moment de grand courage» (153). Il faut mentionner que l’auteur fait référence aux situations dans lesquelles Constantin Pârvulescu a organisé des manifestations, beaucoup de temps avant sa fameuse prise de position verbale contre la réélection
de Nicolae Ceauşescu, dans le sens d’une dissidence et d’une affiliation concomitante à la politique prosoviétique; ainsi, à l’occa sion d’une Plenaire du Comité central, Constantin Pârvulescu a déclaré que seulement dû à l’aide des autres Etats socialistes « nous avons développé notre économie socialiste, économie que nous pouvons agrandir muldlatéralement » (173); à cette occasion Nicolae Ceauşescu a combattu les affirmations de Constantin Pârvulescu et en fin de compte Constantin Pârvulescu représenta un cas isolé et conséquemment inoffensif (ce détail doit être retenu parce qu’il est la preuve d’une continuité de l’attitude politique de Constantin Pârvulescu et nous fournit l’explication pour la manifestation ultérieure de Constantin Pârvulescu lors de l’opposition expresse à la réélection de Nicolae Ceauşescu). Par la vaste bibliographie utilisée, par l’objectivité dans la présentation de la période analysée, par l’absence d’erreur dans le texte imprimé, le volume sera un repère bibliogra phique qu’on ne pourra pas négliger. Des courtes références en relation avec le changement d’attitude de Ceauşescu dans l’année 1971 sont présentes dans le volume (228: «Le procès de dégénération néo-staliniste est devenu irréversible en 1974»); dans le 5eme chapitre intitulé «Le revers de la médaille» sont mentionnées les diverses théories explicatives du changement de Ceauşescu (Dennis Deletant, Florin Constantiniu, Vladimir Tismàneanu, Robert King) et l’explication de l’auteur est la suivante: « [.] malgré que la visite en Asie ne peut pas être sous-estimée, les rations des
décisions prises par Nicolae Ceauşescu ont été surtout internes, tenant compte de la faiblesse du parti causée par la libéralisation et la pression exercée par Moscou » (230). Mediaş 522 Betinio Diamant Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 1 Concernam cette politique de balancement: Lucreţiu Pătrăşcanu, après son retour de Moscou, où il avait signé l’armistice, a affirmé en face de Iuliu Maniu que la politique roumaine de « balance ment » ne pourra être suivie en continuation et jusqu’à la mort de Staline, le maintien cette politique n’a pas été possible; le premier signe d’un changement a été la révolte de Berlin. Dans l’opinion de Molotov (Molotov remembers. Inside Kremlin Politics. Conversations with Felix Chuev. Chicago 1993) la mort de Staline ne fut pas naturelle (326: „I too am of the opinion that Stalin did not die a natural death. He wasn’t seriously ill. He was working steadily [.]“). Η τιτοϊκή Γιουγκοσλαβία και η μεταπολιτευτική Ελλάδα του Καραμανλή (1974-1979). Έγγρα φα από τα γιουγκοσλαβικά αρχεία [Tito-Jugoslawien und das postdiktatorische Griechenland Karamanlis’ ( 1974-1979). Dokumente aus den jugoslawischen Archiven]. Hg. Spyridon Sfetas. Thessaloniki: University Studio Press 2012. 300 S., ISBN 978960-12-2075-8, €18,Die vom Balkan-Zeithistoriker Spyridon Sfetas zusammengestellte Quellenedition besteht aus 33 ins Griechische übersetzten Dokumenten aus dem „Arhiv Jugoslavije“. Dabei handelt sich mehrheitlich um Akten aus dem 2009 von Seiten des „Muzej Istorije Jugoslavije“ an das „Arhiv Jugoslavije“ abgetretenen,Arhiv Josipa Broza Tita“.1 Diese Archivalien, die aller Wahrscheinlichkeit nach nun im Aktenfonds „Lični Fond Josipa Broza Tita“ (Nummer 838) gelagert sind, werden in der Quellensammlung Sfetas durch mehrere Schriftstücke aus dem Aktenfonds „Kabinet Predsednika Republike“
(Nummer 837) ergänzt.2 Ihr Studium gewährt uns interessante Einblicke in die griechisch-jugoslawischen und zyprisch-jugoslawischen Beziehungen der 1970er Jahre. Die Zeitspanne der Dokumente erstreckt sich insbesondere auf die Jahre 1974-1979, als das Verhältnis zwischen Athen und Belgrad nach dem Zusam menbruch der griechischen Militärdiktatur und der Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland einen deutlichen Aufschwung verzeichnete - trotz der weiterhin bestehenden Differenzen in der Makedonischen Frage. Eingeleitet wurde die griechische Annäherung zu Jugoslawien durch den ersten postdiktatorischen Premierminister Griechenlands Konstan tinos Karamanlis, der am 24.7.1974 infolge der türkischen Invasion auf Zypern von dem verzweifelten Militär als „Retter in der Not“ aus seinem Pariser Exil zurückgeholt und mit der Regierungsverantwortung beauftragt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Karamanlis 68 Jahre alt und hatte bereits die Regierungsgeschäfte Griechenlands acht Jahre lang von 1955 bis 1963 durchgehend geleitet. Seit dieser Zeit pflegte er trotz ideologischer Unterschiede ein gutes persönliches Verhältnis zu Tito. Nachdem der konservative Politiker aus dem ma kedonischen Nordgriechenland den demokratischen Transitionsprozess mit sicherer Hand gesteuert und zweimal die Wahlen mit seiner neu gegründeten Partei „Neue Demokratie“ (1974, 1977) gewonnen hatte, wechselte er 1980 auf den Posten des Staatspräsidenten. Dessen Politik der guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu Jugoslawien (und Bulgarien) als Grundpfeiler der griechischen Balkan-Politik wurde von seinen
Nachfolgern in den 1980er Jahren, dem konservativen Georgios Rallis (1980-1981) und dem Sozialdemokraten Andreas Papandreu (1981-1989), konsequent fortgesetzt. Südost-Forschungen 72 (2013) 523
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 Սա den sich in den jugoslawischen Archivalien der hier zu besprechenden Quellenedition widerspiegelnden Annäherungsprozess zwischen Athen und Belgrad in den Jahren 19741979 richtig einschätzen zu können, muss die Vorgeschichte der griechisch-jugoslawischen Beziehungen berücksichtigt werden. Die Einleitung des Herausgebers mit den wichtigsten Erkenntnissen aus dem zusammengestellten Archivmaterial ist in dieser Hinsicht nur zum Teil zufriedenstellend. Denn Sfetas beginnt seinen Rückblick auf die Entwicklung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen erst mit dem Staatsstreich des 2. April 1967 durch die von Georgios Papadopulos angeführten Obristen und den negativen Auswirkungen, die dieser auf das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten hatte. Es wäre dennoch sinnvoll gewesen, den zeitlichen Bogen der Vorgeschichte bis in die frühe Phase des Kal ten Krieges zu spannen, um dem Leser gewisse Kontinuitäten und Brüche in der Belgrader GriechenlandPolitik sowie in der Athener Jugoslawien- und Makedonien-Politik deutlicher vor Augen zu fuhren. Sfetas wäre aufjeden Fall eine kompetente historische Darstellung des wechselhaften Verhältnisses zwischen Athen und Belgrad seit Ende des Zweiten Weltkriegs zuzutrauen. Denn in den letzten 15 Jahren hat er eine Fülle von Publikationen zum Griechischen Bürgerkrieg, zur Makedonischen Frage und nicht zuletzt zur griechisch-jugoslawischen Beziehungsgeschichte veröffentlicht - darunter auch weitere Quelleneditionen mit bul garischen und jugoslawischen Archivalien.3 Seine progriechische Grundeinstellung in der
Makedonischen Frage ist zwar in all seinen Schriften schwer zu übersehen. Dennoch bleiben die auf aufwendige Archivrecherchen zurückgreifenden und daher faktenreichen Studien des langjährigen Mitarbeiters des Thessaloniker „Institute for Balkan Studies“ er kenntnisreiche Beiträge für die Südosteuropaforschung. Der anschließende kurze Rückblick auf die Entwicklung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zwischen dem Ende des Griechischen Bürgerkriegs im Spätsommer 1949 und dem besagten Obristen-Putsch von 1967, der in der vorliegenden Quellenedition vermisst wird, basiert größtenteils auf eben diesen Vorarbeiten von Sfetas. Das Verhältnis Athens zu Belgrad war zu Beginn des Kalten Krieges aufgrund der star ken jugoslawischen Einmischung in den Griechischen Bürgerkrieg stark belastet. In Athen zeigte man sich nach Ende des Bürgerkriegs auf Druck der USA bereit, die diplomatischen Beziehungen zum moskaufeindlichen Jugoslawien wieder aufzunehmen, vorausgesetzt Belgrad würde seinen Anspruch auf Anerkennung einer in Nordgriechenland lebenden makedonischen Minderheit aufgeben. Die politische Ausgangslage für eine griechisch jugoslawische Annäherung war günstig. Schon ab Mitte 1948, als Jugoslawien aus dem Kominform ausgeschlossen wurde, hatte die Belgrader Führung ihren ehrgeizigen Plan, ein Großmakedonien innerhalb der jugoslawischen Föderation zu realisieren, aufgegeben. Nach wiederholten angloamerikanischen Aufforderungen gab Tito ab Ende 1950 seine rhetorische Aggressivität gegenüber Griechenland auf. Die strittige Minderheitenfrage wurde vorerst auf Eis gelegt. Dem
Belgrader Kurswechsel musste auch die politische Führung in Skopje folgen. Das Totschweigen des Makedoniendisputs sowie das gemeinsame Empfinden, durch den Warschauer Pakt bedroht zu werden, waren die entscheidenden Parameter für die ra sante Verbesserung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zwischen 1950 und 1960. Nach dem Tod Stalins 1953 fand allerdings eine durch viele Schwankungen gekennzeich nete Annäherung zwischen Moskau und Belgrad statt, die in der 1. Hälfte der 1960er Jahre 524 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen ihren Höhepunkt erreichte. Diese Entwicklung gab Jugoslawien den erforderlichen Rück halt, die fast ein Jahrzehnt lang totgeschwiegene Thematik der Existenz einer makedonischen Minderheit in Nordgriechenland erneut in den Vordergrund der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zu stellen. Folge dieses aufflammenden Interesses Jugoslawiens für die Make donier Nordgriechenlands war eine Krise zwischen Athen und Belgrad, die von Dezember 1961 bis Dezember 1962 anhielt. Sie wurde erst durch das „Gentlemens Agreement“, das vom griechischen Außenminister Evangelos Averof und seinem jugoslawischen Kollegen Koča Popovič am 2.12.1962 geschlossen wurde, beendet. Darin wurde ein Schweigepakt in Bezug auf die Makedonische Frage beschlossen, in dem beide Parteien vereinbarten, sich — zumindest öffentlich — nicht gegenseitig mit diesem Thema zu konfrontieren. Bel grad wurde darüber hinaus von griechischer Seite aufgefordert, die Angriffslust Skopjes gegen Griechenland zu bändigen. 1963 verfolgte dann Belgrad bereits wieder eine Politik guter Beziehungen zu Griechenland, die nicht durch die makedonische Minderheitenfrage gefährdet werden sollte. Das Thema musste aus der Sicht jugoslawischer Diplomaten auf so vorsichtige Art und Weise angeschnitten werden, dass in Athen bezüglich der Sicherheit der griechischen Grenzen keine Ängste hervorgerufen werden sollten. Der Staatsstreich des 2.4.1967 führte zu einer Verschlechterung der griechisch jugoslawischen Beziehungen. Hauptgrund dafür war erneut die Makedonische Frage. Eine der ersten außenpolitischen Maßnahmen der griechischen
Junta war die Kündigung einer 1965 von der liberalen Regierung Georgios Papandreous mit Belgrad geschlossenen Verein barung zum freien „grenzüberschreitendenVerkehr“ innerhalb einer 30 km breiten Zone auf beiden Seiten der griechisch-jugoslawischen Grenze. Der Grund dafür lag in der Befürchtung des Regimes, dass das Abkommen die Propaganda makedonischer Nationalisten in den siawophonen Dörfern der Präfektur Florina begünstigen könnte. Die griechisch-jugoslawischen Beziehungen gerieten daraufhin bis Ende 1969 in einen Stillstand. Dies änderte sich in den Jahren 1970/1971, als die Obristen im Zuge ihrer Isolierung von Westeuropa eine Annä herung sowohl an den Ostblock als auch an die blockfreien Staaten suchten. Jugoslawien auf der anderen Seite, sah sich nach der Niederschlagung des Prager Aufstands 1968 durch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten erneut stark bedroht und war dementsprechend bereitwilliger, engeren Kontakt zur ultrarechten Junta aufzunehmen. Trotz der kurzfristigen Annäherung war es abermals das makedonische Minderheiten-Problem, das das Verhältnis zwischen Athen und Belgrad auf den Prüfstand stellte. Die wiederholten jugoslawischen Bemühungen, in die bilateralen Beziehungen auch die Sozialistische Republik Makedonien einzuschleusen, riefen auf griechischer Seite großen Unmut hervor. Der Fall des Obristen-Regimes im Sommer 1974 brachte in Griechenland die „alte“ politische Klasse wieder an die Macht. Die türkische Invasion auf Zypern und die dadurch erfolgte Teilung der Insel führten zu einem radikalen Kurswechsel in der griechischen Si
cherheitspolitik. Nicht mehr die sog. „Gefahr aus dem Norden“, sondern die aus dem Osten bestimmte das Athener Verteidigungsdogma. Dementsprechend leitete die politische Klasse des Landes unter der Führung Karamanlis einen Annäherungsprozess zu den nördlichen Nachbarstaaten ein, auf den sowohl Sofia als auch Belgrad positiv reagierten. Aus den in den Quellenedition Sfetas beinhalteten Archivalien geht hervor, dass Ka ramanlis und Tito ein vertrauliches Verhältnis pflegten, das eine wichtige Grundlage für Südost-Forschungen 72 (2013) 525
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 die Intensivierung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen ab 1974 darstellte. Auf der anderen Seite spielte dabei politischer Pragmatismus eine wichtige Rolle. Das jugoslawische Engagement bei der UNO zur Entschärfhng des Zypern-Konflikts unter Berücksichtigung der zentralen griechischen Anliegen (Abzug der türkischen Besatzungstruppen, Rückkehr der griechisch-zyprischen Flüchtlinge in ihre Heimatorte) war nicht ganz uneigennützig. Belgrad versprach sich aus der Unterstützung zentraler griechischer Positionen in der Zypern-Frage ein größeres Entgegenkommen Athens in einer Reihe offener Fragen in den bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern. In der Tat kam die Regierung Karamanlis mehreren Belgrader Forderungen nach: Jugoslawien erhielt privilegierte Freihafenrechte in Thessaloniki, nachdem ein entsprechender 50 Jahre alter Vertrag aus dem Jahr 1923 abgelaufen war, ein Abkommen zum Ausbau der Wasserkräfte der Grenzflüsse wurde abgeschlossen und ein Programm der bilateralen Zusammenarbeit auf den Gebieten von Bildung und Kultur vereinbart. Zur Zufriedenheit Belgrads und v. a. Skopjes wurden als Projektpartner auch Einrichtungen der Sozialistischen Republik Makedonien akzeptiert. Das war allerdings auch das einzig nennenswerte Zugeständnis der griechischen Seite in der Makedonischen Frage. In Jugoslawien sah man die enger werdenden Beziehungen zu Athen als einen willkomme nen Anlass, um Griechenland erneut mit der Frage der Anerkennung einer makedonischen Minderheit und deren Rechten zu konfrontieren. Allerdings war der Belgrader Druck
zur Revision der Athener Haltung in der Minderheitenfrage nicht groß, sodass die ältere grie chische Position der „nicht existierenden Minderheit“ unverändert blieb. Bezeichnend dafür ist ein Ausschnitt aus den im Mai 1976 zwischen Tito und Karamanlis stattgefundenem Gesprächen, deren Protokoll Sfetas in seine Quellenedition aufnahm: „TITO: Ich werde ehrlich zu Ihnen sein. Sie wissen, es existiert weiterhin das Problem der Anerkennung der Rechte nationaler Minderheiten. [.] Sie wissen, Herr Präsident, wir kamen nicht hierher [nach Athen], um die Frage der Anerkennung der Rechte der nationalen Minderheit zu stellen, sondern um jene Aspekte zu unterstützen und weiterzuentwickeln, die uns ver binden. Es ist keineswegs unsere Absicht, neue Probleme zu verursachen. Sie haben auch ohne dieses [die Minderheitenfrage] genügend Probleme. In unserem Land haben wir die nationale Frage völlig gelöst; alle Nationen und alle ethnischen Gruppen genießen bei uns dieselben Rechte. Dementsprechend können wir unsere Grundposition nicht ändern. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Anerkennung der Rechte nationaler Minderheiten einen Staat nicht schwächen, sondern ihn stärken kann. Karamanlis: „Herr Präsident, hier geht es nicht um irgendwelche Ängste, sondern um unterschiedliche Betrachtungsweisen dieses Thema. Aus unserer Sicht hat der Begriff,Makedonien* ausschließlich eine geogra phische Bedeutung“ (190f.). Die Quellensammlung Sfetas trägt v. a. der weiteren Erkundung der griechisch-jugosla wisch-makedonischen Beziehungen im Südosteuropa des Kalten Krieges bei. Darüber hinaus
finden sich darin interessante Informationen zur jugoslawischen Vermittlerrolle zwischen Nikosia, Athen und Ankara zur Beilegung des Zypern-Konflikts. Außerdem wird die Pu blikation durch einen Anhang ergänzt. Dieser beinhaltet ein Gesprächsprotokoll zwischen dem griechischen Außenminister Dimitrios Bitsios und seinem jugoslawischen Kollegen Miloš Minićaus aus dem Jahr 1976 in serbokroatischer Sprache sowie mehrere bulgarische 526 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Akten in Originalsprache zur Zypern-Krise von 1974, die aus einem angeblichen „Archiv“ Todor Zivkovs stammen sollen. In Letzterem wird das große Interesse Bulgariens an der Schwächung der südosteuropäischen Nato-Flanke durch die Zypern-Krise dokumentiert. Der Anhang macht noch einmal die Hauptschwäche der sonst spannenden Quellen edition ersichtlich, die in der wenig gründlichen Arbeitsweise des Herausgebers liegt. Denn Sfetas unterlässt es konsequent, vollständige und/oder korrekte Angaben zur Herkunft der Archivalien seiner Sammlung zu liefern. Der am Originalmaterial interessierte Leser wird feststellen, dass es ein ,Archiv Josipa Broza Tita“ als eigenständige Behörde genauso wenig wie ein ,Archiv Todor Živkov“ gibt. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemängeln, dass Sfetas in der Einleitung darauf verzichtet, den im Untertitel verwendeten Begriff „jugo slawische Archive“ weiter zu präzisieren. Deudich werden diese Mängel auch im Fall des besagten Bitsios-Minić-Protokolls im Anhang, zu dessen Herkunft keinerlei Informationen angeführt werden - vermutlich stammt auch dieses aus dem besagten Aktenfonds „Kabinet Predsednika Republike“ (Nummer 837) des „Archiv Jugoslavije“. Sfetas hat vor allem griechischen Historikern, die des Serbokroatischen nicht mächtig sind, mit dieser Quellenedition einen großen Dienst erwiesen. Die besagten Einwände gegen die wenig sorgfältige Betreuung dieser Veröffendichung schmälern jedoch den Gesamteindruck. Wien Adamantios Skordos 1 Vgl. Preuzet Archiv Josipa Broza Tita od Muzeja Istorije Jugoslavije, unter Archiv Jugoslavije,
http://www.arhivyu.gov.rs/system/sr-cyrillic/home/newsplus/viewsingle/_params/newsplus_news_ id/42657.html , 30.7.2013. 2 Vgl. Lista fondova uz perioda nakon 1945 godine — sortirano po azbučnom redu, unter Archiv Jugoslavije, http://www.arhivyu.gov.rs/active/sr-cyrillic/home/glavna_navigacija/arhivska_gradja/ fondovi_i_zbirke/fondovi_iz_perioda_nakon_l945_godine/fondovi_nakon_l 945.html , 30.7.2013. 3 Vgl. Spiridon Sfetas, Στη Σκιά του Μακεδονικού. Η κρίση Αθήνας-Βελιγραδίου στη δεκαετία του 1960. Thessaloniki 2007; ders. (Hg.), Ο ακήρυχτος πόλεμός για το Μακεδονικό. ΒουλγαρίαΓιουγκοσλαβία 1968-1989. Thessaloniki 2010; Basilēs Kontēs/ Spiridon Sfetas (Hgg.), Εμφύλιος Πόλεμος. Εγγραφα από τα γιουγκοσλαβικά και βουλγαρικά αρχεία. Thessaloniki 1999. Südost-Forschungen 72 (2013) 527
Rezensionen Geschichte: seit 1990 Ivan ČOLOVIĆ, Kulturterror auf dem Balkan. Essays zur Politischen Anthropologie. Osnabrück: fibre-Verlag 2011. 255 S„ ISBN 978-3-938400-71-5, € 24֊ Welchen Wert für die Debatte über die gegenwärtige Kulturpolitik auf dem Balkan hat ein Buch, das aus Texten besteht, die überwiegend ein paar Jahre vor dem Erscheinungs datum schon einmal veröffentlicht wurden? Colovié beantwortet diese Frage im Vorwort seines Buches, wenn er darin kurz die Entstehungsgeschichte erläutert: Es sei sein „polni sches Buch“, da er es auf Anregung von Andrzej Stasiuk und Monika Sznajderman, beide Mitarbeiter eines polnischen Verlags, zusammengestellt hat. Vieles, was Colovié über den Balkan geschrieben hat, treffe deren Meinung nach auch auf Polen zu. „Der Virus der anti demokratischen Ansteckung“ (Adam Michnik in einer Kurzrezension auf dem Buchrücken der polnischen Ausgabe) verbreite sich auch in anderen postkommunistischen Ländern und nicht nur auf dem Balkan. Somit sind Colovics Thesen nicht nur auf dem Balkan von Belang. Das Buch ist erstmals im Jahr 2007 in Polen erschienen, bemerkenswerterweise erst ein Jahr später im serbischen Original und 2011 schließlich von seinem Sohn Nikola Colovié ins Deutsche übersetzt worden. Diese Rezension behandelt die deutsche Überset zung der serbischen Ausgabe. Die Entstehungsgeschichte des Werkes deutet also an, dass es Colovié um mehr geht, als sich im hohen Alter durch diese Veröffentlichung selbst zu beweihräuchern. Letzterer Eindruck entsteht im Geleitwort des Buches, in dem die Kulturanthropologin Dagmar Burkhart
sämtliche seiner Werke und bisherigen Leistungen heraushebt. Natürlich pran gert Colovié durch das erneute, gebündelte Erscheinen der Texte in diesem Werk wieder einmal die Kultur Serbiens und des Balkans „als Zünder des Hasses und Krieges“ an und warnt - vielleicht auch vor dem aktuellen Hintergrund der EU-Beitrittskandidaturen südosteuropäischer Länder — eindringlich davor, durch eine Rückkehr zum Nationalismus das demokratische Projekt in Serbien zu gefährden. Es soll aber wohl auch den NichtBalkanländern dabei behilflich sein, nicht in das gleiche Fahrwasser zu geraten, in dem sich Serbien nach Colovics Meinung kulturpolitisch seit geraumer Zeit befindet. Der Anspruch des Buches dürfte demnach nicht mehr sein, die Kulturpolitik in Serbien vom Nationalismus wegzulenken. Das hat Colovié mit vielen seiner Essays schon früher versucht. Ob es aber sinnvoll ist, Colovics Texte wie Blaupausen über die Kulturdiskussion in Polen zu legen, darf bezweifelt werden. Zumal fragwürdig ist, ob diese Debatte in Polen überhaupt stattfindet. Adam Michniks Warnung in der Kurzrezension auf dem Buchrücken der polnischen Ausgabe erweckt eher den Eindruck, als wolle man sie in Polen künstlich anstoßen. Diese Zweifel ausgeklammert, ist das Buch dennoch lesenswert, da die polemische Art des Autors dem Leser einen guten Einblick in die Auseinandersetzungen in Serbien gibt. Interessant ist vor allem, dass nicht nur die Thematik selbst dem Leser aufgezeigt wird, sondern auch wie die Debatte vonstatten geht. Die Gliederung des Buches hat den Rezensenten nicht immer überzeugt. Es lassen sich
verschiedene Cluster - namendich Sprache, Räume und Musik - erkennen, die Beiträge eines Clusters sind jedoch leider manchmal zwischen zwei Beiträgen eines anderen Themengebie tes angeordnet. Auch die Qualität der Essays ist nicht immer auf gleichem Niveau. Nach 528 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Inhalten geordnet, würde der Beitrag „Der eigene Herr auf eigenem Grund und Boden“ gut zu „Der Mythos vom geistigen Raum der Nation“ passen, da auch dieser unter dem Begriff der Räume zu fassen ist. So steht er im Buch leider zwischen zwei Beiträgen, die sich mit Musikkultur befassen. Auch der sehr gute Beitrag „Kultur, Nation, Territorium“ würde dann nicht in der unscheinbaren Mitte des Buches verschwinden. Er könnte so an der Stelle nach dem zähen Essay über die Gusla zusammen mit dem Text über das Kloster Hilandar einen gelungenen Höhepunkt am Ende des Buches markieren. Den Einstieg in das große Themenfeld der Kulturpolitik macht der Essay „Im Namen der Kultur. Wenn sich die Politik auf die Kultur beruft“. Darin stellt Čolović die These in den Vordergrund, dass die Kultur auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien den politischen Machthabern bzw. dem „aggressiven, ethnischen Nationalismus“ zur Legitimation diene. Die Kultur wird von der Politik zweckentfremdet. Hier wird auch sofort Grundlegendes klar, was sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht: Kultur in diesem Raum sei immer etwas Negatives, sobald einzelne Kulturelemente von Politikern für ihre Zwecke missbraucht werden. Es herrsche auf dem Balkan ein anderes Kulturverständnis als in westlichen, demokratischen Staaten, in denen die politische Führung durch eine Verfassung und Wahlen legitimiert sei und nicht andersweidg gerechtfertigt werden müsse. Paradox an Colovics These ist aber gerade, dass auch die Balkanstaaten Demokratien sind, er dessen politische Akteure aber oftmals als Machthaber,
und nicht als Politiker diskreditiert. Man muss sich an diesem Punkt auch die Frage stellen, ob der Autor hier nicht einfach den Westen idealisiert. Beispielhaft dafür könnte man den „Kulturkampf“ um die Homoehe erwähnen. Hat so ein Kampf, wie er momentan beispielsweise in Kroatien geführt wird, nicht auch vor nicht allzu langer Zeit in demokratischen Ländern stattgefunden? Im Text „Kultur, Nation, Territorium“ wird die Kritik am nationalistischen Kulturmo dell deutlicher als im Rest des Werkes. Er behandelt die Phase der „Deserbisierung“ nach Milosevic und die Grundangst der serbischen Nationalisten, das Verschwinden des eigenen Volkes. Der Autor schreibt vom Wandel des „echten“ Krieges in einen Kulturkrieg in Ser bien nach 1999, denn laut den Nationalisten diente der Nato-Einsatz der Vernichtung des serbischen Volksgeistes. Seither gelte es für sie, die kranke serbische Seele zu heilen, mit allen im Buch beschriebenen Kulturpraktiken. „Im Kloster Hilandar. Nationalismus als Religion“, dem gelungensten Essay (dieser ist leider nicht in der polnischen Ausgabe abgedruckt, da er in der serbischen Ausgabe seine Erstveröffentlichung hatte), wird der Missbrauch dieses serbisch-nationalen Gedächtnisortes anhand von Pilgerfahrten der Fußballmannschaft Partizan Belgrad und Politikern aufge zeigt. Der Autor erkennt in diesen Reisen ein erneutes Wiederaufleben des Nationalkults in Serbien und eine Gefährdung der Demokratie. Diese Kernaussage kann stellvertretend für alle anderen im Buch befindlichen Essays stehen, denn ob es sich nun um ein Moster, Musikinstrument, Mythen,
Abstammung oder Sprache handelt, veranstalten die Politiker auf all diesen Feldern ihren „Kulturterror“. Exemplarisch dafür wird am Rande die „Pilgerfahrt“ von Slobodan Milosevic geschildert: Entgegen aller Regeln reiste dieser per Hubschrauber an und landete direkt vor dem Moster. Den Mostervorsteher begrüßte er mit „Guten Tag“ (nach einer anderen Version mit „Hallo Genosse Mostervorsteher“, wieder nach einer ande ren mit „Hallo Priester“). Vor seinem Besuch hatten sich allerdings schon etliche Mönche Südost-Forschungen 72 (2013) 529
Geschichte: seit 1990 vom Kloster entfernt und danach eine zusätzliche Fastenzeit eingeführt. Sie weihten auch jede Stelle, auf die der Präsident seinen Fuß gesetzt hatte und züchteten an der Stelle, an der der Helikopter gelandet ist, von da an keine Tomaten mehr. Die Politiker benutzen Kultur also als Ressource zum Machterhalt und treten sie zu allem Überfluss noch mit Füßen. Die beiden letzten Beiträge sind gesondert zu betrachten und bestehen aus einem Inter view mit Katarina Luketič aus der Zagreber Zeitung „Zarez“ und einem Nachtrag aus der Belgrader Zeitung „Danas“. Sie sind ebenfalls nicht in der polnischen Ausgabe zu finden. Im Nachtrag kritisieren der Präsident des Zentralrats der Bosniaken, Krkić, und der He rausgeber der Kritischen Ausgabe von Medjedovićs Epik, Colaković, die Darstellung des Guslaspielers Avdo Medjedović als Fleischer in Colovics Beitrag über die Gusla. Colović zitiert darin die Selbstaussage des Guslaspielers, dass er ein Fleischer sei. Krkić und Colaković missfallt diese Aussage, scheinbar ist für sie der rohe Beruf des Fleischers nicht kompatibel mit der „Hochkultur“ des Guslaspiels. Colovics Antwort, die er beiden im Nachtrag gibt, dekuvriert vor allem das einseitige Denken vieler balkanischer Eliten. Es wird aber auch der schwere Stand des Autors in Serbien deutlich; wie andere Angehörige des Belgrader Kreises muss er sich mit seinen Aussagen und Warnungen wie in einer Wagenburg fühlen: Von allen Seiten umzingelt, muss er sich mit Pfeil und Bogen den zahlenmäßig überlegenen Gegnern widersetzen. Ob seine Wagenburg aber immer noch von so
vielen Nationalisten wie vor dreizehn Jahren - der älteste Essay im Buch wurde im Jahr 2000 veröffentlicht belagert wird, daran hat der Rezensent vor dem Hintergrund der Demokratie und des EU-Kandidatenstatus Serbiens seine Zweifel. Wahrscheinlich gehen den Nationalisten doch langsam die Pfeile aus. Regensburg Benjamin Kürzinger Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus. Hgg. Hans-Joachim Veen / Peter März / Franz-Josef Schlichting. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010 (Eu ropäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 15). 183 S„ ISBN 978-3-412-20597-3, € 19,90 Der vorliegende Sammelband „Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommu nismus“ geht auf ein 2009 in Weimar abgehaltenes internationales Symposium der Stiftung Ettersberg mit dem gleichen Titel zurück. In ihm setzen sich elf Autoren mit der Frage auseinander, was nach dem Ende des Realsozialismus aus den Erwartungen der Beteiligten geworden ist: Es wird nicht mehr gefragt „Was war?“, sondern „Was hat sich entwickelt?“ (8). Der Stiftungsvorsitzende und Mitherausgeber Hans-Joachim Veen begründet in seiner knappen Einführung den gewählten Ansatz: „Schaut man auf die letzten 20 Jahre zurück, ist unübersehbar, dass die Zeitläufe seither von einem raschen Wandel [. ] gekennzeichnet sind, in dem die Analysen von gestern die neue Wirklichkeit oft kaum mehr treffen“ (11). Demgemäß suchten die Forscher auf der gemeinsam mit der Bayerischen Landeszentrale 530 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen fur politische Bildungsarbeit und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen veranstalteten Tagung eine Art Zwischenbilanz des nachkommunistischen Europa zu ziehen. Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. Während der 1. (titellose) Teil die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungslinien untersucht, widmet sich der 2. Teil „Von der Staatswirtschaff zur Marktwirtschaft“ den ökonomischen Gegebenheiten der ehemaligen DDR, Polens, Rumäniens und Ungarns. Die Aufsätze bieten ein aufschlussreiches Panorama des politischen, zivilgesellschaftli chen und ökonomischen Entwicklungsstandes im ehemaligen Ostblock. Deutlich wird dies gleich im ersten Beitrag, in dem Hans-Peter Schwarz einen Gesamtüberblick über die politischen Transformationsprozesse nach 1989 gibt ( 13-30). Er schreibt das Gelingen der sogenannten 3. Demokratisierungswelle der historischen Erfahrung des Westens zu. Um ein potentielles Machtvakuum in Ost- und Ostmitteleuropa zu vermeiden, entschie den sich die westlichen Staaten und multilateralen Institutionen (EU, Nato) bewusst für die Schaffüng von Mechanismen zur Unterstützung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Schwarz macht klar, dass diese erneute „Verwestlichung“ für nicht mehr und nicht weniger als „die Korrektur einer Getrenntenrwicklung“ angesehen wurde (27). Am Beispiel Russlands exemplifiziert er, dass die politische Evolution nicht überall gelungen ist. Als eine Art „halbeuropäisches Land“ (28) trenne sich Russland - nach dem Verlust seines Satellitenbereichs - wieder vom Schicksal Europas. Dieser Einschätzung
schließt sich Gerhard Mangott in seinem Beitrag über Russlands „gesperrten Weg“ an ( 101 -120). Die demokratischen Reformen wurden schon nach wenigen Jahren abgebrochen. 1993 zementierte die neu verabschiedete Verfassung die Einrichtung eines autoritären Machtzentrums. Die Etablierung dieses Machtzentrums veranlasst den Autor, das heutige Russland in direkte Verbindung mit den zaristischen und kommunis tischen Vorgängerregimen zu bringen und es als „Putins autoritären Polizeistaat“ (112) zu bewerten. Dabei folgt der Autor dem Ansatz derjenigen Forscher, die Russlands Entwicklung als abweichend von westlichen Normen betrachten. Auch wenn dieser These im Grundsatz zuzustimmen sein mag, hätte eine kritische Reflexion den Beitrag bereichert. Neben den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen hätte noch ein weiterer Aspekt thematisiert werden können: Ein Kurzüberblick über die Osteuropapolitik Russlands (als dem einzigen Nicht-EU-Staat, der im Sammelband vorkommt) wäre wünschenswert gewesen. Besonders lesenswert macht den Sammelband, dass einige der Aufsätze durch ihre Quellenauswahl (Zeitungen, Meinungsumfragen, öffentliche Debatten) und Herangehens weise den Transformationsprozessen einen persönlichen Charakter verleihen. Krzysztof Ruchniewicz beispielsweise liefert in seinem Beitrag zu Polen sowohl einen anschaulichen Einblick in die wissenschaftliche Forschungsdiskussion als auch in die Selbsteinschätzung der Beteiligten (45-60). Er erhebt keinen Anspruch auf ein „sogenanntes objektives Bild, das wahr und vollständig“ ist und erlaubt sich subjektive Bewertungen, z. B.
über die Jahrestagsdebatten 2009, „als gehe es um einen Live-Bericht über den großen politischen Kampf um die Geschichte“ (47). Ruchniewicz zeichnet das Bild einer sich modernisierenden und polarisierenden Gesellschaft, in der die Trennlinien entlang der Haltung zu Toleranz, Reichtum, den Akten der ehemaligen Staatssicherheit usw. verlaufen. Südost-Forschungen 72 (2013) 531
Geschichte: seit 1990 Mária Schmidts Beschreibung Ungarns (61 -72) ist durchweg düster: kein Elitenwechsel, keine Reprivatisierung, keine moralische Wiedergutmachung, Verflechtung von Staats und Privatinteressen, Korruption, Hoffnungslosigkeit. Wer ist dafür verantwortlich? Zum großen Teil meinungsbildende Intellektuelle, die nicht daran interessiert waren, dass die Systemveränderung zu einer echten Zäsur wurde, so die Autorin (66). Während Ruchniewicz Polen als wichtigen Staat innerhalb der Europäischen Union bezeichnet, der sich von den unvorteilhaften geopolitischen Bedingungen der letzten Jahrhunderte befreit habe, vertritt Schmidt in ihrer Analyse eine andere Ansicht. Anhand des Beispiels des russisch-ukrainischen Gaskonflikts 2008, in dem weder die EU noch Deutschland im Interesse der osteuropäischen Länder auftraten, urteilt die Autorin, dass sich die Region heute zwischen der deutschen und der russischen Interessensphäre befinde. Dieser Einschätzung schließt sie eine politische Botschaft an: „Ungarn und ganz Mittelosteuropa muss erkennen, dass die Region nur auf sich selbst zählen kann“ (71). Auch wenn dies als ein Plädoyer für eine ostmitteleuropäische Zusammenarbeit und gemeinsame Identität daherkommt, wirkt Schmidts Urteil dennoch unreflektiert und wenig nuanciert. So schließt sich ihrer ermutigend klingenden Einschät zung „So groß unsere Probleme auch sind, wir stehen dennoch nicht schlechter da als die als entwickelt geltenden westeuropäischen Länder“ (71) eine abwertende Kritik des Westens an (das Unterrichtswesen liege in Trümmern, das Familienleben
erscheine ausgehöhlt, im Mittelpunkt der Lebensplanung stehe der Wunsch, nicht zu altern usw.). Jan Sokol bietet in seinem Überblick über Tschechien (73-82) „die Sicht eines enga gierten Teilnehmers, der die Entwicklungen mehr miterlebt als beobachtet hat“ (73) und gönnt dem Leser dabei auch eine längere Darstellung der Zwischenkriegszeit. Als größtes Problem im heutigen Tschechien nennt er die Politisierung des Staatsdienstes, wodurch jeder Regierungswechsel immer auch die Beamten der Ministerien beträfe. Sein Urteil (Stand 2009) zum wirtschaftlichen Leben, zum Umweltschutz und zum Lebensstandard fällt dagegen positiv aus. Andrei Marga thematisiert die verspätete Entwicklung Rumäniens (83-100) und sucht nach politischen Alternativen zu „einer Sozialdemokratie, die 2004 oligarchisch wurde, zu einem Liberalismus, der von 2005 bis 2009 nur auf Eigennutz bedacht war, und zum autoritären Populismus“ (89). Marga beschreibt 8 konkrete Herausforderungen, vor denen die rumänische Demokratie stehe. Sie reichen von der klaren Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Interessen bis hin zu einer verbesserten Gesetzgebung. Gerade das Beispiel Rumäniens verdeutlicht die vorteilhafte Position der sogenannten neuen Bundesländer in Deutschland, die Eckhard Jesse beschreibt (31-44). Er schluss folgert in seiner Analyse der Parteien und politischen Kultur in Ostdeutschland, dass die neuen Bundesländer zwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung „überwiegend demokratisch konsolidiert“ seien (42). Dies gelte trotz der geringeren politischen Aktivität und des
„Legitimationsproblems“: die Zustimmungsquote zur „Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben“ (eine nicht unkomplizierte Formulierung, die die Antwort vorher bestimmen mag, so der Autor), liegt im Osten Deutschlands seit 1990 nur bei etwa 40 %. Das Parteiensystem und die Verfassungsinstitutionen wurden von den alten Bundesländern auf die neuen übertragen. Ungeachtet vieler Parallelen zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es, wie Jesse verdeutlicht, auch einige ostdeutsche Spezifika. Besonders bemerkbar sei, 532 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen dass die ostdeutschen Wähler stärker zu Parteien neigen, die Gleichheit in den program matischen Vordergrund rücken. Außerdem hätten es die PDS bzw. Die Linke erfolgreich verstanden, den Ost-West-Konflikt zu kultivieren und so ihre Wählerschaft zu vermehren. Der Beitrag Rüdiger Pohls über die ökonomische Transformation Ostdeutschlands (121-128) leitet den 2.Teil des Sammelbandes ein. Das wohl größte Problem für den Osten liegt laut Pohl - angesichts des negativen demografischen Trends — in der Sicherung des Personalbedarfs. Des Weiteren ruft er die Politiker dazu auf, neu über den ,Aufbau Ost“ nachzudenken und den Blick von Ostdeutschland auf Gesamtdeutschland zu lenken. Dieser Perspektivwechsel sei notwendig, weil sich die Wirtschaft in Ost und West inzwischen im Gleichschritt bewege. Witold Małachowski weist in seinem statistischen Überblick auf Polens wirtschaft lichen Aufstieg hin (129-140). Das Bruttoinlandsprodukt war im Jahr 2008 gegenüber 1989 um 78% gestiegen. Das Bruttosozialprodukt bzw. Bruttonationaleinkommen blieb dennoch niedrig (bei 40 % des Durchschnitts aller EU-Mitglieds- und Kandidatenländer). Die Bilanz von Nutzen und Kosten der Transformation fällt laut Autor eindeutig positiv aus. Einen gründlichen Überblick über Rumäniens ökonomische Transformation bietet Stefan Sorin Mureşan (141-162). Durch eine Gewinn- und Verlustrechnung verdeutlicht er, was in Rumänien seit 1989 bewirkt wurde und wo das Land aktuell steht. Als wichtigste wirtschaftliche Vorgänge hebt er Privatisierung und Reprivatisierung hervor. Er vertritt die These, dass die
Tatsache, dass Rumänien kein klares Wirtschaftsmodell übernommen habe, die soziale Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert habe. László Csaba unterscheidet in seiner Analyse der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklungstrends der letzten 20 Jahre (163-174) zwischen vier Ländergruppen, die aus dem Systemwandel hervorgegangen sind. Ungarns Talfahrt vom Spitzenreiter in der Transformationsphase zu einem der schwächsten Transformationsländer Europas beschreibt er als eine Folge des „verlorenen Jahrzehnts“ (174), das von politischen Fehleinschätzungen eingeleitet wurde. Die Autoren haben insgesamt einen lesenswerten Sammelband vorgelegt, in dem trotz augenfälliger Gemeinsamkeiten bei jedem Land ein eigenes Profil erkennbar wird. Erwar tungsgemäß gibt es häufig Wiederholungen und Überschneidungen, die aber bei so eng verwandten Themen nicht immer zu vermeiden sind. Was fehlt, ist eine gesamtosteuropäi sche Perspektive, die über die Grenzen der einzelnen Beiträge hinausgeht. Dass vier Länder mit jeweils zwei Beiträgen vertreten sind, reduziert die Zahl der Fallbeispiele und trägt zur besseren Übersichtlichkeit bei, hinterlässt jedoch auch den Eindruck der Beliebigkeit bei der Auswahl. Gleichwohl ist der Band eine erhellende und gewinnbringende Lektüre, die zum Weiterdenken anregt. Regensburg Südost-Forschungen 72 (2013) Kadri Kehayova 533
Geschichte: seit 1990 Gendering Post Socialist Transition. Studies of Changing Gender Perspectives. Hgg. Krassimira Daskalova/Caroline Hornstein Tomić/Karl Kaser/Filip Radunović. Münster, Berlin, Wien: LIT Verlag 2012 (ERSTE Foundation Series, 1). 323 S., ISBN 978-364-390-229-0, €34,90 Der von der österreichischen ERSTE Stiftung herausgegebene vorliegende Sammelband widmet sich, wie der Titel ohne Umschweife anzeigt, sozialwissenschaftlichen Genderanalysen in postsozialistischen Gesellschaften und setzt seinen Fokus auf die soziokulturelle Seite der politischen und ökonomischen Systemveränderungen. Im Vorwort der Stiftungs mitarbeiter wird gleichzeitig der offene Charakter des Buches hervorgehoben, das keinen epistemologischen Rahmen setze und auch keine Wissensvorgaben von Seiten der Stiftung zu erfüllen habe. Auf die Frage, warum dieses Thema an dieser Stelle angeschnitten wird, gehen sie zwar nicht ein, verweisen aber auf die Problematik und grenzen sich gegen den hier nur durchscheinenden Vorwurf der epistemologischen Kolonialisierung der postso zialistischen Wissenschaften ab. Dass eine Kritik an der Stiftungspolitik den Hintergrund für dieses Statement darstellen könnte, scheint hingegen nicht auf. Diese wurde nämlich in Bezug auf die im Vorwort erwähnte und mit dem Buchprojekt verknüpfte vorausgegangene Ausstellung „Gender Checks. Femininity and Masculinity in the Art of Eastern Europe“ (November 2009 bis Februar 2010 im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien) von der beteiligten Konzeptkünstlerin und Theoretikerin Marina Gržinić geäußert.1 Sie wies darin
auf die im Ausstellungskonzept präsente episte mologische Verengung auf einen westlichen Blick hin (obwohl die Kuratorin die serbische Kunsthistorikerin Bojana Pejić war), der mit der Förderung von Kunst und Wissenschaften durch Stiftungen wie der ERSTE Foundation vor allem westliche ökonomische Interessen (in diesem Fall eines österreichischen Finanzinvestors) in der Region durchsetze. Einer ihrer Kritikpunkte war das auf EU-Ebene etablierte Genderkonzept, das sich als Teil eines westlichen Kulturparadigmas auch in der Ausstellung widergespiegelt habe. Unter die sen Umständen werde „Gender“ Teil einer „neoliberal govermentality“, das die Tendenz habe Geschlecht als Handlungsparadigma zu entpolitisieren. Indem es, so Gržinić, seine antagonistische Entsprechung in den als nationalistisch und homophob wahrgenommenen Gesellschaften der EU-Grenzregionen finde, kolonialisiere es über eine „genderizadon“ die angrenzenden, in die EU drängenden Gesellschaften. Gender werde in diesem Rahmen zu einem Governance-Konzept, das die Verknüpfung mit politischen Kategorienbildungen verhindere. Die gesellschaftliche Funktion soziologischen Geschlechterwissens steht schließ lich auch im vorliegenden Band zur Verhandlung. Denn es macht sowohl Gesellschaft in Kategorien fassbar und damit Probleme politisch artikulierbar und rational argumentierbar als auch Herrschaftsstrukturen reproduzierbar. Nicht nur erstere, sondern auch Letztere zu fassen, liegt schließlich auch im Interesse feministischer Forschungsansätze. Dass Gender als Untersuchungsparadigma, trotz seiner feministischen Ursprünge,
nicht mehr klar zu verorten ist, zeigt sich nach Ansicht der Rezensentin auch an der fehlenden Begriffsbestimmung durch die Herausgeber dieses Bandes. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage nach den für die Geschlechter unterschiedlichen Folgen, die von der sozialen und ökonomischen Umbruchsituation im Postsozialismus zu verzeichnen seien. Sie unterteilen die Beiträge in drei große Themenblöcke, die sich allerdings nicht im Aufbau des Buches 534 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen spiegeln. Zunächst wird der Verlust und der Gewinn von Freiheit im Kontext von Retraditionalisierung/Repatriarchalisiemng genannt; die Repräsentation von Geschlecht in Politik und Medien, ein klassisches Untersuchungsfeld der Geschlechtergeschichte, wird als zweiter Themenschwerpunkt aufgeführt. Drittens bilden soziale Exklusion und kul turelle Marginalisierung als Folge der Transformationsprozesse einen weiteren wichtigen Analysefokus der Beiträge. Der Beitrag „Gender Relations in Albania (1967-2009)“ (35-63) vom Forscherkollektiv um Fatmira Musaja, Fatmira Rama und Enriketa Pandelejmoni beruft sich auf den Mangel an Geschlechterstudien zu Albanien und rechtfertigt damit ihren Versuch einer umfassenden soziologischen Untersuchung der Geschlechterverhältnisse in Albanien seit 1967. Gerade für die sozialistische Periode wurden erstmals kürzlich erst freigegebene Dokumente aus dem Archiv des Zentralkomitees der Albanischen Arbeiterpartei in die Analyse mit einbezogen. Die hier veröffentlichten Ergebnisse überraschen meist nicht, da sie den Entwicklungen der anderen sozialistischen und postsozialistischen Länder ähneln. Doch gerade da Albanien in gewisser Weise eine Art Black Box in den Gender Studies darstellt, zumal das Land während des Sozialismus weitgehend isoliert war, ist die hier geleistete Benennung der Diskriminierungen verschärfenden Effekte des sozialistischen Systems besonders von Interesse. Auch der bulgarische Beitrag „Gender Identities in Transition: The Role of Popular Cul ture and the Media in Bulgaria after 1989“ von Milena Kirova und Kornelia
Slavova (65-92) gibt die ersten Ergebnisse eines größeren Projekts wider, in dem Stereotypisierun gen und Rollenbilder in den Medien, der Werbung, der Mode, der Literatur und im Film untersucht wurden. Weitere Untersuchungen widmeten sich dem Umgang der Medien mit sexuellen Minderheiten sowie mit der Produktion von Hyper-Männlichkeit in der bulgarischen Pop-Kultur und ihrer Verbindung zwischen Sport und Kriminalität. Kritisch anzumerken ist bei der präsentierten Fülle, dass die theoretischen Ausgangsüberlegungen weitgehend unterbeleuchtet bleiben, was sowohl den Genderbegriff als auch die Wahrneh mung bzw. Theoretisierung sozialer Differenzierung anbelangt. Der Aufsatz „Gender Experience of Homelessness in Croatia“ von Lynette SikićMićanović (95-116) fokussiert mit der Obdachlosigkeit ein konkretes soziales Problem. Die Autorin kritisiert das Schweigen, mit dem in den letzten 20 Jahren das Thema der Obdachlosigkeit sowohl von der Politik als auch von der Soziologie bedacht wurde und dass Frauen zusätzlich aus dem Wahrnehmungsraster helen. In der Analyse der anonymisierten Interviews zeigt sich schließlich die weibliche Gewalterfahrung als zentrales Risiko für Verletzungsoffenheit und Armutsgefährdung von Frauen, die sie in die Abhängigkeit von gewaltförmigen Beziehungen bringe und so schließlich Obdachlosigkeit als einer der letzten Auswege aus Gewalt und Missbrauch für die Frauen werde. Die Autorin stellt abschließend heraus, dass die Gründe für Obdachlosigkeit stets in einem vielschichtigen Mangel an Ressourcen und Kapital zu suchen seien, die im Zusammenspiel mit einer
Entrechtungs erfahrung es dem betroffenen Menschen schwer machten, die Situation aus eigener Kraft zu verändern. Der Staat habe, u. a. aufgrund der Wahrnehmung der Obdachlosigkeit als männliches Problem, kaum Antworten auf die Notlage dieser Frauen zu bieten. Südost-Forschungen 72 (2013) 535
Geschichte: seit 1990 Das ungarische Forscherkollektiv um Judit Acsády geht in seinem Beitrag „(De) Valuing Care. Traditional and Alternative Patterns in the Social Construction of Care in Hungary After the Transition“ (119-149) davon aus, dass anhand der Umstände, unter denen „Care Work“ stattfinde, sowie der sozialen Konstruktion von Fürsorge, auch Aussagen über die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft zu treffen seien. Gerade in der Forschung zur veränderten Geschlechterrolle in den postsozialistischen Gesellschaften, die aufden materiel len Wohlstand und auf individuelle Freiheiten eingeengt werde, fehle allerdings dieser gesell schaftliche Aspekt. Schließlich wirke sich in Ungarn die postsozialistische Simation besonders stark auf die Vergeschlechdichung von „Care Work“ als weiblicher Arbeit aus. Erstaunlicher weise zeigen die Interviews mit Beschäftigten (weiblichen und männlichen) einen wesentlich flexibleren Geschlechterbegriff, als ihn die ungarische Gesellschaft mehrheitlich vertritt. Slavčo Dimitrov und Katerina Kolozova befassen sich in „Sexualities in Transition: Discourses, Power, and Sexual Minorities in Transitional Macedonia“ (151-181) mit der von Diskriminierung bis hin zu Gewalt bestimmten Situation der LGBT-Community in Makedonien. Die schwierige Nationalstaatsbildung stelle die eine, Transition und Kapitalis mus die andere Seite der sozialen Ursachen dafür dar, dass die männliche Identität, die sich ebenfalls durch die ökonomische Krisensituation bedroht sehe, zur Bastion für eine starke nationale Identität geworden sei. Homosexualität sei
unter diesen Umständen, zumal die männliche Homosexualität erst im Jahr 1996 entkriminalisiert wurde, noch immer weit weg von gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Untersuchung selbst widmete sich schließlich den Erfahrungen der LGBT-Community und ihrer Entwicklung einer politischen Identität. Die Autoren stellen schließlich fest, dass die neuen Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher politischer Aktivität, auch eine Ausweitung der homosexuellen Identitäten hin zu LGBTQ einen positiven Effekt auf die Möglichkeiten habe, unterschiedliche politische Strategien anzuwenden und in Makedonien tatsächlich Gehör zu finden. Die Auseinandersetzung mit der im Sozialismus vergessenen feministischen Tradition in Rumänien und ihre Erneuerung unter den Bedingungen der Transition ist das Thema des Forschungsberichtes von Alice Iancu, Oana Bălută, Alina Dragolea und Bogdan Florian „Womens Social Exclusion and Feminisms: Living in Parallel Worlds? The Roma nian Case“ (183-215), der auf den Ergebnissen eines von der ERSTE Stiftung geförderten Projektes aufbaut. Sie beginnen ihren Beitrag mit einer Unterscheidung dreier feministischer Pfade, die während der Transition eingeschlagen wurden: 1. die Wiederentdeckung der ru mänischen feministischen Tradition, 2. den, wie sie es nennen, „contextualizing feminism“, der sich um empirische Forschungen bemühe, und 3. den „room-service“ des EU-Gendermainstreaming, der letztlich an den rumänischen Realitäten vorbeigehe. Auch zur weiteren Argumentation dieser Autorinnen ist anzumerken, dass man die üblichen, meist westlich geprägten Erklärungen für die
postsozialistische Situation nicht einfach zu übernehmen gedenkt. In diesem Sinne ist auch der von ihnen gebrauchte Begriff „Staatsfeminismus“ für die EU-Maßnahmen ein konsequentes Aufbrechen kolonialisierender westlicher Praxis. Marina Blagojević begründet das Forschungsinteresse ihres sehr dichten Beitrags „Single Parents in the Western Balkans: Between Emotions and Market“ (217-247) mit der mangelnden Aufmerksamkeit, sowohl von Forschung als auch von der Politik, die dem Phänomen der Alleinerziehenden in den drei untersuchten Ländern des westlichen Balkans 536 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bislang beschieden war. Festzustellen sei, dass gerade Alleinerziehende (75-80% davon Frauen) besonders von Armut bedroht seien. Hand in Hand gehe dabei die Transformation von Familie mit der gesellschaftlichen Transformation. Widersprüchlichkeiten seien eben falls Teil dieses Prozesses, denn während das Familienleben generell eine Modernisierung durchlaufe, würden die Bedingungen der ökonomischen und politischen Transformation gleichzeitig auch zu einer Retraditionalisierung beitragen. Mangels institutioneller Unter stützung, so schließt die Autorin allerdings, sei nicht die Geschlechterdimension, sondern die der Fürsorge für ihre Kinder, die sowohl alleinerziehenden Vätern als auch Müttern am Herzen liege, das zentrale Problem für die Eltern (246). Der slowakische Beitrag von Zora Bútorová, Jarmila Filadelfiová und Oľga Gyárfašová, „Towards Gender Equality in Slovakia? Women in Civic and Political Life“ (249-281), beschreibt sowohl die Entwicklung des Feminismus als auch die der weiblichen Gleichberechtigung und politischen Partizipation in der Slowakei. Die Transformationszeit stellt sich hier sowohl als Chance für politisches Handeln als auch als Ursache für ihre Be schränkungen dar. Die Autorinnen gehen insbesondere auf das Problem der NGOisierung von Frauenorganisationen ein. Unreflektiert dabei bleibt, dass es sich hierbei nicht nur um ein postsozialistisches Phänomen handelt und auch nicht auf Frauenorganisationen zu beschränken ist. Insbesondere an dieser Stelle hätten die Autorinnen auch über die Erklä rungsmuster der Transitologie hinausgehen
müssen. Aber zu Recht thematisieren sie die Problematik politischer und sozialer Aktivität, die durch EU-Förderungen immer zeitlich und auf etablierte Institutionen begrenzt ist und damit die vielen, durch die Förderung einer vielseitigen zivilgesellschaftlichen Kultur entstandenen Initiativen benachteiligt. Tatiana Zhurzhenko ist mit „Mothering the Nation. Demographie Politics, Gender, and Parenting in Ukraine“ (283-302) die einzige der Beiträgerinnen, die dem politik wissenschaftlichen Feld zuzuordnen ist. Sie geht daher mit ihrer Beschreibung und Kontextualisierung ukrainischer nationalistischer Diskurse, in denen die Frau als Gebärerin eine zentrale Rolle spielt, auch sogleich in medias res. Demographiediskurse werden hier als Staatsdiskurse identifiziert, denn die Fertilität der Frauen sei nicht nur ein Argument der politischen Rechten. Indem das Schicksal des Nationalstaates auf allen politischen Seiten der Familie zugeschrieben wird, werde über den weiblichen Körper symbolisch der „kollektive Körper [der Nation] reproduziert“ (286). In der Ukraine sei gleichzeitig eine widersprüchliche Situation zu finden, die aus der Familie nun ein Klassenproblem werden ließ: arme, kinderreiche Familien seien als Last für den Wohlfahrtsstaat unerwünscht, mit telständische Familien verkörpern und reproduzieren zugleich die gewünschte Norm des „responsible parenting“ (287). Letztlich zeige sich anhand der Familienpolitik vor allem der Unwille der politischen Akteure, für die sozialen Probleme des Staates Verantwortung zu übernehmen — eine Tendenz staatlicher Politik, die sicherlich
in den postsozialistischen Ländern aufgrund des Herunterfahrens sozialistischer Staatlichkeit auf das Nötigste leichter umzusetzen ist, aber auch im westlichen Europa festgestellt werden kann. Das Ziel des Bandes, neue empirische Untersuchung zum Thema in den postsozia listischen Ländern Südost- und Zentraleuropas zusammenzutragen, wird ohne Zweifel mit aktuellen und problemorientierten Themen erfüllt, was sich auch an den zahlreichen Methodenreflexionen zeigt. Zentrales Verdienst des Buches ist es, durchaus dazu beigetraSüdost-Forschungen 72 (2013) 537
Geschichte: seit 1990 gen zu haben, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den einzelnen Ländern die Deutungshoheit über die soziale Realität des Postsozialismus zurückgeholt haben. Gleichzeitig hätte gerade dieses Buch eine Möglichkeit geboten, auch eine Diskussion um europäische sozialwissenschaftliche Diskurse anzuregen. Im wissenschaftlichen Dialog, in dem auch die eigene westliche Position thematisiert wird, hätten sowohl das Paradigma „Gender“ als auch jenes des „Postsozialismus“ mehr reflektiert werden können. Als positiv hervorzuheben ist aus einer feministischen Perspektive, dass durch die Thematisierung von Feminismen und von feministischen Zugängen, wie sie in vielen der Beiträge zu finden ist, eine vollkommene Neutralisierung des Genderbegriffs vermieden wird. Hamburg Brigita Malenica 1 Marina GrŽinić, Analysis of the Exhibition „Gender Check - Femininity and Masculinity in the Art of Eastern Europe“, Museum of Modem Art (MUMOK), Vienna, November 2009/February 2010. 12/2009, unter http://eipcp.net/policies/gtzinic/en/print , 22.1.2013. Anna-Maria Getos, Politische Gewalt auf dem Balkan. Schwerpunkt Terrorismus und Hasskriminalität. Konzepte, Entwicklungen und Analysen. Berlin: Duncker Humblot 2012 (Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und interna tionales Strafrecht. Reihe K: Kriminologische Forschungsberichte, 155). XXII, 330 S., ISBN 978-3-428-13808-1, €35֊ Bei der anzuzeigenden Veröffentlichung handelt es sich um eine disziplinübergreifende Studie, die mit der Methode der „dichten Beschreibung“ (Geertz) auf Fallanalysen
aufbaut. Sie besteht aus 5 Kapiteln sowie einem einleitenden Teil und Anhang nebst Literaturverzeich nis. Die Kapitel heißen: 1) Konzeptuelle Ausgangsüberlegungen; 2) Forschungshypothesen; 3) Forschungsstand; 4) Dichte Beschreibung politischer Gewalt auf dem Balkan; 5) Fazit. Bei den Fallanalysen handelt es sich um aktenkundige Fälle, bei denen das Verfahren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung teils noch im Gange, teils bereits abgeschlossen war. Die Autorin hat mit mehreren Angeklagten bzw. Tätern Interviews durchfuhren können, die die empirische Basis der Studie ausmachen. Aus der einleitenden Übersicht des Forschungsstan des geht hervor, dass die empirische Terrorismusforschung nur ein schmales Segment der sonst überbordenden Publikationen zum Phänomen der Hassgewalt und des Terrorismus bildet. Allerdings hat man den Eindruck, dass die Autorin in immer neuen Anläufen im Wissenschaftsbetrieb dieses wirklich weiten Forschungsfeldes Fuß zu fassen versucht. Es gibt sehr viele interessante Grafiken, Statistiken und Tabellen, deren Relevanz für das The ma man jedoch auch nach mehrmaligem Lesen nicht recht begreift. Für die Rezensentin war der Nexus zwischen der Terrorismusforschung und jener über Hasskriminalität nicht ersichtlich. Zwar treffen die beiden „Hergangsweisen“ in den beschriebenen Fallbeispielen zusammen, aber die Zusammenhänge lassen sich dadurch noch nicht erkennen. Die Relevanz der Ergebnisse des ausufernden Forschungsfeldes für die „Mikroebene“ leuchtet jedenfalls 538 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen nicht auf Anhieb ein. Dass die Autorin ihre Systematik aus dieser Forschung gewonnen hat, erkennt man, aber man wünschte sich eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise, die die methodische Verknüpfung klarer ersichtlich machen würde. Dennoch kann man auf einige Ergebnisse verweisen, die für die Forschung auf dem Gebiet Südosteuropas gewinnbringend sein könnten. Da ist zum Beispiel die Unterschei dung zwischen hasskriminellen und terroristischen Gewalttaten oder die Bedeutung von Vergeltung und Rache bei den Gewaltakten in einer Nachkriegsgesellschaft bzw. die ver ständlich ausgearbeiteten Gründe der Differenz zwischen dem ethnisch-nationalistischen und anderen Typen des Terrorismus (59). Klar wird auch die starke Kontextgebundenheit der Gewalt: es sei die „Besonderheit der Hasskriminalität auf dem Balkan“, dass sie sich aus dem „Gewaltkontext“ ergibt (78). Im Zusammenhang mit diversen statistischen Auswertungen terroristischer Zwischenfälle auf dem Balkan zwischen 1969 und 2005 zieht die Autorin den ֊ für den Leser nachvoll ziehbaren - Schluss, „dass die registrierten Vorfälle in direktem Zusammenhang mit den ethnischen Konflikten im ehemaligen Jugoslawien Zusammenhängen“ (125). Dementsprechend ist auch nachvollziehbar, dass die Autorin bei der Konfliktanalyse eine multidisziplinäre Zugangsweise unterschiedlicher soziologischer Forschungsrichtungen wählt und jene theoretischen Ansätze, die die „Konfliktursachen in der menschlichen Natur zu begründen“ (ebd.) versuchen, zurückweist. Der kriminologische Teil der Studie hat mit der Darlegung und Analyse
aktenkundiger Fälle bzw. dem empirischen Erschließen der Problematik durch Interviews mit den Tätern zu tun. Die meisten dieser Fälle sind in der Wiedergabe so stark anonymisiert, dass NichtKriminologen kaum verstehen können, worum es eigentlich geht und deshalb der Argumen tationslinie nur schwer zu folgen vermögen. Die abgeschlossenen Fälle mit rechtskräftigen Urteilen wurden nicht anonymisiert, so auch der recht bekannte Fall der pogromartigen Ausschreitungen in Kosovo 2004, der eingehend geschildert wird. Es kommen dabei wichtige Einzelheiten zu Tage, die für das Verständnis des Geschehens entscheidend sind. Bei den Ergebnissen der Studie überwiegen Negativbefunde: „Die dichte Beschreibung der terroristischen und hasskriminellen Fälle ergab im Vergleich, dass sich auf der Mikro-Ebene die Gewalt der beiden Kriminalitätsphänomene äußerst unterschiedlich manifestiert“ (287). Hinsichtlich der Opferprofile stellt die Autorin fest, dass bei den Verbrechen „die Viktimisierung“ nicht „wegen irgendeiner individuellen, persönlichen oder spezifischen Cha rakteristik der einzelnen Opfer“ (4) erfolgte, aber wenn es um die Täter geht, räumt sie ein: „Die analysierten terroristischen Täter lassen keinerlei allgemeingültige Rückschlüsse zu, was deren genaues persönliches Profil betrifft“ (287). Weiterhin stellt sie fest: „Was die hasskri minellen Täter betrifft, so sind die Angaben aus den Fallanalysen nicht verallgemeinerbar, so dass die Analyse der Sekundärdaten aufgrund mangelnder diesbezüglicher Angaben keinerlei Aussagen zu den Tätereigenschaffen (Alter, Berufstätigkeit usw.),
kriminogenen Prädispositionen, Motiven oder Täterperspektiven erlaubt“ (288). Zum Schluss wird konzidiert, dass die Erhebung von Daten durch empirische Feldfor schung wegen der schwer zugänglichen Einzelfälle wenig fruchtbar ist bzw. „der empirische Gehalt der aktuellen Terrorismusforschung [.] karg ausfällt“ (300). Südost-Forschungen 72 (2013) 539
Geschichte: seit 1990 Die Lektüre dieser Studie ist recht mühsam, dennoch könnte sie für gezielte Fragen im Bereich der Gewaltforschung auf dem Balkan hilfreich sein. Frankfurt/M. Dunja Melčić Iconic Tums. Nation and Religion in Eastern European Cinema since 1989. Hgg. Li bya Berezhnaya/Christian Schmitt. Leiden, Boston: Brill 2013 (Central and Eastern Europe. Regional Perspectives in Global Context, 3). 256 S., ISBN 978-90-04-25277-6, €101,Das verstärkte Interesse am sogenannten „osteuropäischen“ Film innerhalb der letzten Jahre belegt, dass die komplexen Interdependenzen dieses Mediums mit den regionalen und politischen Bedingtheiten ein bislang noch unzureichend erforschtes Feld darstellen. Gerade hier bedarf es einer Gemeinschaftsarbeit von Filmwissenschaftlern und Historikern, um das Dreiecksverhältnis von Film, Politik und Geschichte freizulegen. Eingebettet in ein dichtes Produktionsnetzwerk, an dem unterschiedliche Akteure und Institutionen Be teiligung finden, nimmt das Medium Film von Anbeginn die Rolle eines Doppelagenten an: Einerseits gilt es als sensibler Seismograph gesellschaftlicher Befindlichkeit, der gerade durch seine politisch verstandene Ästhetik Repräsentationsordnungen spiegeln oder kon terkarieren kann; andererseits erkannte man ihm bereits früh das Machtpotenzial zu, durch zirkulierende (Film-) Bilder auf Prozesse der Identitätsbildung einzuwirken. An eben dieser Schnittstelle setzen auch die beiden Herausgeber Liliya Berezhnaya und Christian Schmitt in dem vorliegenden Sammelband an. Initiiert durch die gleichnamige Konferenz, die 2010 von dem
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster veranstaltet wurde, gehen sie in der Publikation der Frage nach, wie nationale und religiöse Zugehörigkeit im „osteuropäischen“ Kino insbesondere seit dem historischen (wie auch symbolischen) Wendepunkt 1989 verhandelt werden. Vor dem Hintergrund neuer Staatenbildungsprozesse und der ideologischen Ablösung vom Kommunismus liegt der Fokus auf dem beobachteten Anstieg nationalistischer Tendenzen und der verstärkten Instrumentalisierung bzw. dem Bedeutungszuwachs der Religion. Dreh- und Angelpunkt stellen dabei die bereits in den Geschichtswissenschaften eingehend untersuchten Doppel prozesse einer „Sakralisierung der Nation“ sowie einer „Nationalisierung der Religion“ dar, die hier im Spiegel des fiktionalen und dokumentarischen Films beleuchtet werden sollen. Die insgesamt elf Beiträge der Filmwissenschaftler und Historiker verteilen sich auf drei Kapitel. Während es im l.Teil unter „Institutional Powers“ um die strukturalen Ver flechtungen von Orthodoxer Kirche und Staat in Russland geht (mit einer Ausnahme von John-Paul Himkas Untersuchung zum ukrainischen Kino), folgen in den weiteren beiden Kapiteln zu „Sacred and Profane Images“ sowie „Conflict, Trauma, and Memory“ Einblicke in den ungarischen, polnischen, tschechischen und postjugoslawischen Film. Dem Hauptteil vorangestellt ist zuvorderst Hans-Joachim Schlegels ausführlicher Überblick „Religion and Politics in Soviet and Eastern Cinema: A Historical Survey“ (33-63), 540 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen in dem er aus seiner ausgewiesenen Expertise im Gebiet der osteuropäischen Filmwissen schaft schöpft. Anhand des Ausgangsbeispiels von István Szőts Film „Emberek a havason (Men on the Mountain)“ aus dem Jahr 1942, der zugleich von Faschisten als „Kommu nistische Propaganda“ sowie „Religiöse Agitation“ von Seiten der Kommunisten verurteilt wurde, stellt Schlegel schnell die Denkfigur dieser paradoxalen Verflechtung heraus: religiöse Motive wurden von beiden totalitären Regimen als Gefahrenpotenzial betrachtet. Gerade die Rückbesinnung auf die positive Wirkungsmacht der Orthodoxen Kirche unter Stalin dient Schlegel als Ausweis für die struktúráié Nähe zwischen Totalitarismus und orthodoxem Ritualglauben sowie ihrer Ikonographie. Schlegel spannt hier - durchaus im Sinne einer thematischen Einführung — einen großen zeitlichen Bogen von der Avantgardezeit bis hin zum spiritualistischen Film der 1990er Jahre. In einem film- und medienwissenschaftlichen Sinne fruchtbar werden seine Ausführungen insbesondere dann, wenn - wie bei Eisenstein und Vertov geschehen - das religiöse Element einer semiotischen Analyse unterzogen und in eine ästhetische Qualität umgewandelt wird. Ebenso aufschlussreich, wenn auch nur angerissen, ist die Diskussion um jene vielbeschworene transzendentale Spiritualität in den Werken Tarkovsky’s oder des Ungarns BélaTarr. Hier wird deutlich, dass sich die Erfahrung des Religiösen durchaus nicht in der bloßen Evokation religiöser Motive erschöpft, sondern eingeht in die Bildwirkung und -gestaltung. Unter dem 1. Kapitel „Institutional Powers“ wird
Schlegels Vorwegnahme institutioneller Verflechtung schließlich anhand konkreter Fallbeispiele aus der gegenwärtigen Kinopro duktion vertieft. So analysiert unter anderem Natascha Drůbek in ihrem Aufsatz „Russian Film Premiers in 2010/11“ (81-98) anhand zweier konziser Fallstudien die Produktions beziehungen zwischen der russischen Filmindustrie und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Am Beispiel zweier Historienfilme „Pop“ (The Priest) von Vladimir Khotinenko und Nikita Mikhalkovs „Utomlennye solncem“ (Burnt by the Sun) stellt Drůbek sowohl die zeitli che Nähe des Premierendatums mit religiösen Feiertagen als auch die Distributionswege der Filme heraus. Damit gelingt es ihr aufzuzeigen, welchen strukturalen Schritten eine Sakralisierung der nationalen Geschichtsschreibung und -erinnerung in diesem Fall folgt und welche Rolle das Kino im Zuge einer Wiederentdeckung der orthodoxen Identität in Russland spielt. Einen ähnlichen Weg schlägt Liliya Berezhnaya ein, die in „Longing for the Empire: State and Orthodox Church in Russian Religious Films“ (99-120) umgekehrt der Frage nachgeht, inwiefern sich im Genre des Doku-Dramas ein erneuter „imperialer“ und „religiöser“ Turn im russischen Kino auf die historischen und politischen Debatten niederschlägt. Unter dem 2. Kapitel „Sacred and Profane Images“ wird der bisherige Schwerpunkt von Russland verschoben und auf mittel- bzw. südosteuropäische Filmkontexte ausgeweitet. Der Aufsatz von Jan Čulik „The Godless Czechs? Cinema, Religion, and Czech National Identity“ (159-182) beginnt in vielversprechender Abgrenzung zu den
vorangegangenen Texten mit einer Betonung der atheistischen Glaubenshaltung in der tschechischen Be völkerung. Culik verdeutlicht zwar anhand einer reichhaltigen Dichte an filmhistorischem Material die stete kritische Verhandlung religiöser Topoi im tschechischen Film; doch wählt er anstelle einer gezielten Fokussierung einen phänomenologischen Ritt durch die (anti)religiöse, spiritualistische, esoterische und letztlich sogar jüdische Motivgeschichte von den 1950ern bis heute. Die Erwähnung von über 60 Filmtiteln auf knapp 21 Seiten Südost-Forschungen 72 (2013) 541
Geschichte: seit 1990 verunmöglichen letztlich eine differenzierte Erörterung derselben, so dass die Auslassung der strukturalen und ästhetischen Qualität der genannten Filmbeispiele leider zu keinem bleibenden Erkenntniswert fuhrt. Einen erfrischend anderen Ansatz verfolgt Christian Schmitt mit seinem Beitrag „Beyond the Surface, Beneath the Skin“ (183-199), in dem er sich dem ungarischen Experimental-Filmemacher Györgi Pälfi zuwendet. Als Film- und Medienwissenschaftler stellt er zuvorderst die dringlichste und kritischste Frage, vor deren konkreter Beantwor tung sich der Band bislang gescheut hat: „What is a ,religious film'?“ (183). Ausgehend von Paul Schraders Definition des Transzendentalen Stik geht es Schmitt jenseits religiöser Topoi gezielt um die medialen Möglichkeiten des Knos, Immanenz und Transzendenz in Beziehung zu setzen, um das Heilige zu „repräsentieren“. Anhand der beiden Filme Hukkle und Taxidermia untersucht er die transzendentalen Elemente innerhalb einer surrealistischen Ästhetik und stellt die Bedeutsamkeit der Form heraus, mithilfe derer das (Film-) Wunder erst in Erscheinung treten kann. Aus dem letzten Teil des Bandes sei schließlich noch Mirosław Przylipiaks Aufsatz „Memory, National Identity, and the Cross“ (217-236) hervorgehoben, in dem anhand zweier Dokumentarfilme der Regisseurin Ewa Stankiewicz aufschlussreich die gesellschaft liche Spaltung infolge der Verarbeitung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk beschrieben wird, bei der unter anderem der Präsident Lech Kaczyński ums Leben kam. Indem Przylipiak die beiden gegenläufigen Diskurse -
den religiös-nationalen und den antiklerikal säkularen - als kennzeichnend für die gegenwärtige Situation Polens herausstellt, gelingt ihm die Skizzierung einer ambivalenten Gesellschaftsrealität, die mit dieser Problematik auch nicht zwangsläufig eine „osteuropäische“ sein muss. Was die Beiträge dieser Publikation insgesamt auszeichnet, ist, dass sie sich dem kom plexen Thema Nation and Religion in Eastern European Cinema stellen und es in der Tat mit (film)historisch fundiertem Anschauungsmaterial füllen. Die einzig zu bemängelnde Schwachstelle ist nur eben jene Verfehlung des eigentlichen Titels: die Behandlung des sog. Iconic bzw. Pictorial Turn, der von den Herausgebern zwar eingangs erwähnt wird, sich als aufschlussreiche Analysekategorie in den Texten (bis auf Schmitt) jedoch kaum widerspie gelt. Anstelle eines Turns wird vielmehr eine historische Kontinuität der national-religiösen Aushandlungsprozesse im Film nachgezeichnet. Zudem verkennt die Konzentration auf religiöse Motive, Narrative und Topoi die ambivalente Rolle des Bildes selbst - das Icon hat den religiösen Kontext schon längst verlassen und bedient sich standessen seiner Semantik. Diskussionswürdig wären daher auch die Funktionsweisen einer selbstbezüglichen und profanisierten Bildsakralität sowie die Rolle des autonomisierten Icon als Machtdispositiv gewesen, das nicht nur instrumentalisierter Spielball offizieller Geschichtsnarrative ist, sondern als eigenständiger Agent Prozesse beobachten, aufdecken und kommentieren kann. So bleibt denn trotz der Expertise der hier versammelten Mikrostudien leider
der Eindruck zurück, das Medium Film liefere bislang lediglich den Vorwand, um das zu diskutieren, was man unter dem „problembehafteten“ Zusammenhang von Nation und Religion im „Eastern European Cinema“ ohnehin zu finden beabsichtigt hat. München 542 Patricia Vidovič Südost- Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postju goslawischen Raum. Ins Deutsche übertragen von Margit Jugo unter Mitarbeit von Sonja Vogel. Vorwort von Ulf Brunnbauer. Berlin: Verbrecher Verlag 2010. 220 S., ISBN 978-3-940426-25-3, €28,Die kollektive Erinnerung und der Umgang mit der eigenen Nation in den postjugosla wischen Gesellschaften muss de-emotionalisiert werden. Das ist die zentrale Forderung Todor Kuljićs in seiner 2010 verfassten Gesamtschau über die postjugoslawische Erinne rungskultur. Er zeigt darin auf, dass die derzeit stattfindende Nationalisierung der Nachfol gestaaten weder ein notwendiger, noch ein natürlicher Prozess ist und eine Überwindung der gegenseitigen Ressentiments nicht durch gemeinsames Vergessen, sondern nur durch gemeinsames Erinnern geschehen kann. In seinem Buch analysiert und kritisiert der an der philosophischen Fakultät in Belgrad lehrende Soziologe Kuljić die geschichtspolitischen Bestrebungen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens: Angetrieben von verbissen ethnozentristischen Überzeugungen würde in den neu entstandenen Nationalstaaten die Geschichte neu- oder umgeschrieben — häufig ins ge naue Gegenteil. Damit wolle man ein Narrativ der Nationalhegemonie schaffen, aus der sich die Existenzberechtigung der als ethnisch homogen verstandenen Staaten ableiten lässt. Der Verfasser versucht durch eine vergleichende Gegenüberstellung der Nachfolgestaaten sowohl aus der Eigen- als auch aus der „Feindperspektive“, eine einseitige Darstellung zu vermeiden und zugleich seine eigene
nichtnationalistische Haltung zum Thema deutlich zu machen. Kuljićs Text, dem Untertitel nach ein Essay, gliedert sich in drei große Kapitel mit mehreren Unterkapiteln, die zwar inhaltlich Zusammenhängen, sich aber stilistisch stark unterscheiden. Dass die Kapitel außerdem mehr oder weniger unverbunden nebenein anderstehen, macht es dem Leser zunächst schwer, eine klare Argumentationslinie und Zielsetzung der Abhandlung zu erkennen, wie man es von einem Essay erwartet. Das Buch besteht jedoch zu großen Teilen — wie man aus einer editorischen Notiz am Ende erfahren kann — aus älteren Veröffentlichungen, die hier zusammengestellt und ergänzt wurden. Es wäre für den Leser von Vorteil gewesen, entweder die übernommenen Texte auch als solche erkennbar zu machen oder aber den Text straffer und kohärenter zu komponieren und damit die vielen inhaltlichen Wiederholungen zu vermeiden. Bemerkenswerterweise ist das Buch bisher nur in der - äußerst gelungenen - deutschsprachigen Übersetzung erschienen. Nicht nur durch das wohlwollende Vorwort von Ulf Brunnbauer, sondern auch in mehreren inhaltlichen Passagen nimmt das Buch daher Bezug auf den Diskurs der deutschsprachigen Südosteuropaforschung und richtet sich mit Beispielen und Erläute rungen an ein deutschsprachiges Publikum. Widersprüchlich erscheint hier aber, dass in dem etwas eigenwillig geordneten Literaturverzeichnis nur die serbischen Übersetzungen der für die theoretische Verankerung des Textes zentralen Standardwerke von Hobsbawm, Habermas, Kolstø und Nietzsche aufgeführt sind. Beginnend mit einer Einführung in das
Themenfeld der Erinnerungskultur veranschau licht der Verfasser im ersten Kapitel die Konzepte der „kollektiven Erinnerung“ (nach Aleida und Jan Assmann) und der „Erfindung von Traditionen“ (nach Eric Hobsbawm). Diesen zufolge können Feiertage und Erinnerungsorte von der jeweils herrschenden Gruppe willkürlich gewählt werden, um durch sie eine konventionelle Erzählung einer ErinneSüdost-Forschungen 72 (2013) 543
Geschichte: seit 1990 rungsgemeinschaft zu schaffen. Ritualisiertes Gedenken an Feiertagen setze so quasi eine „Stunde Null“ der Geburt einer Nation fest und periodisiere die historischen Ereignisse retrospektiv. Denkmäler dienen in diesem Sinne der Rechtfertigung territorialer Ansprüche einer autochthonen Nation und liefern als scheinbar unverrückbare Kennzeichnungen „Be weise“ eines historisch begründeten Nationsmythos. Hier folgt er im Groben dem Begriff des „lieu de mémoire“ nach Pierre Nora. Diese theoretischen Ausführungen bezieht Kuljić zunächst auch auf die Geschichtsschreibungen und Erinnerungsorte anderer Nationen. Es scheint ihm am Herzen zu liegen, dem Leser ins Gedächtnis zu rufen, dass die vermeintlich „balkan-spezifische Problematik“ gar nicht so spezifisch ist, sondern Geschichtsrevisionismus überall mit der Schaffung von Nationalstaaten einhergeht. Darauffolgend führt er die in der Geschichtsschreibung im postjugoslawischen Raum immer wiederkehrenden Metaphern und „Mythen“ (nach Pål Kolstø) ein, die von allen Seiten zur Herleitung ethnisch homogener Nationalhegemonien aus der Antike oder dem frühen Mittelalter (anschaulich dargestellt am Beispiel Makedoniens) beschworen werden. Besonders ausführlich geht er auf den „Grenzwächtermythos“ ein und zeigt anhand dessen auch auf, welche Auswirkungen die positiven wie negativen Zuschreibungen von außen (v. a. westeuropäischer Mächte) dabei spielten. Bei dieser Aufreihung der jeweiligen Nationalmythen der postjugoslawischen Staaten kommt der Kosovo auffallend zu kurz — wie er auch in anderen Teilen des Buches
zumeist nur in seiner Rolle für den serbischen Nationalismus auftaucht. Im zweiten Kapitel widmet sich der Verfasser der Erinnerung der sozialistischen Zeit nach dem Zerfall Jugoslawiens und macht deutlich, wie nach den entscheidenden historischen „Bruchstellen“ 1945 und 1989 eine extreme Umdeutung der Geschichte unternommen wur de. In diesem Kapitel zeigt er durch die unermüdliche Benennung der historiographischen „Verfasser“ in Gestalt der neuen, nationalistischen Regierungen besonders klar, wie es in so kurzer Zeit zum Wandel von der sozialistisch begründeten antifaschistischen Ideologie zu einem allseits herrschenden Nationalgeist kommen konnte. Anhand der rhetorischen Figur des Antiantifaschismus leitet er her, wie ähnlich — nur zeitversetzt - die Nationalisierungs prozesse in Kroatien und Serbien verliefen. Mit vielen Beispielen macht er das „Handwerk der Geschichtsumschreibung“ anschaulich. So beschreibt er den „Krieg um Straßennamen“: Innerhalb kürzester Zeit wurden Straßen mehrmals neu benannt, sodass in der Bevölkerung häufig zeitgleich mehrere Bezeichnungen für ein- und dieselbe Straße kursieren. So wurden in Serbien die Städte weitestgehend „ent-Tito-isiert“ und für alle Marschall-Tito-Boulevards neue, nichtkommunistische Bezeichnungen gefunden. Denn die Symbolfigur Tito nimmt natürlich eine wichtige Stellung in der Erinnerungskultur der Nachfolgestaaten ein. Dabei unterscheiden sich die Nationalstaaten stark darin, ob sie ihn und seine historische Rolle rückblickend auf- oder abwerten. In Makedonien und Bosnien-Herzegowina wird er als positive Vaterfigur in
die nationalistische Narration eingebettet, was aber nicht bedeutet, dass man sich dort nicht gleichermaßen ideell vom sozialistischen Jugoslawien distanzie ren würde. Im Vergleich zu anderen Gedanken im Buch wirkt es fast unreflektiert, dass Kuljić in diesem Abschnitt wenig Kritisches über das sozialistische Jugoslawien erwähnt. So multiperspektivisch er auch sonst im Buch schreibt, im Tito-Kapitel lässt der kritische Marxist Kuljić seine Sympathie mit dem sozialistischen Jugoslawien klar erkennen, dessen Dämonisierung durch die nationalistischen Regierungen er als vollkommen unberechtigt 544 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen darstellt. Die Bezeichnung Titos als den „geschickten Staatsmann, der Fehler machte“ ist hier nicht ganz glücklich formuliert. Der darauffolgende thematische Aspekt ist aber wieder scharfsinnig analysiert und ausgewogen dargestellt. Die Diskrepanz zwischen der nationalistischen Verteufelung des multiethnischen Jugoslawien durch die politischen Eliten einerseits und der populären jugonostalgischen Erinnerung wird in der Regel als Widerspruch wahrgenommen. Kuljić aber zeigt, dass diese zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, aber doch eng miteinander verflochten sind. Beide Seiten gehen auf ähnliche Weise selektiv mit der Ver gangenheit um, und so können eben auch solche widersprüchlichen Vergangenheitsbilder in einem Gedächtniskollektiv neben- und miteinander existieren. Denn die Vergangenheit wird nicht durch die Ereignisse an sich zur Geschichte einer Nation oder Erinnerungsge meinschaft, sondern erst durch die retrospektive Bedeutungssetzung und Bewertung der Geschehnisse in der Gegenwart. Diese wiederum ist stets (politisch) motiviert von einem angestrebten zukünftigen Gesellschaftszustand. Dass dieses „Ineinanderwirken von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notwendig ist für die Bildung eines historischen Bewusstseins“, ist der Kerngedanke der ersten beiden Kapitel. Dieser ist kein neuer im Diskurs der Geschichtspolititk. In Kombination mit den vielen und ausführlichen Beispielen macht der Autor damit aber seinen eigenen Standpunkt klar, wie „unnatürlich“ die stattfindende Nationalisierung der Geschichtsschreibung im postjugoslawischen Raum
sei. Darin postuliert Kuljić eine nach seinen Vorstellungen sinn volle und zukunftsförderliche Geschichtspolitik im Bezug auf die Verbrechen der Jugosla wienkriege. Er fordert von allen Bürgerkriegsparteien ein Eingeständnis der eigenen Schuld und die Anerkennung der Opfer der anderen. Hier verdichtet er die von ihm schon vorher mehrfach angeführten Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis und dem Opfertopos. Er zieht Parallelen zum 68er Generationenkonflikt in Deutschland, in dem das Schweigen über das Dritte Reich gebrochen wurde. Ähnliche Impulse müssten gegeben werden, um in den exjugoslawischen Ländern einen Perspektivenwechsel in der kollektiven Erinnerung herbeizuführen und sich damit der diktierten Erinnerungspolitik zu widersetzen. Dabei stellt er die Situation Serbiens als besonders problematisch dar: „Es ist nicht zu erwarten, dass es in Serbien in absehbarer Zeit zu einer Konfrontation mit den begangenen Verbrechen kommen wird“, schreibt Kuljić und nimmt insbesondere die Geschichtswissenschaft und die Studenten in die Pflicht, eine solche kritische Erinnerungskultur zur Vergangenheitsbewäldgung anzustoßen. Ein Ansatz, wie solche Anstöße über die Elite hinaus auch andere Teile der Bevölkerung erreichen können, fehlt aber weitestgehend in seinen Überlegungen. Kuljić fordert zwar die Schaffung eines länderübergreifenden „Museums der Schande des ehemaligen Jugoslawien“. Eine solch institutionalisierte Form von Erinnerungskultur ist jedoch stets abhängig von der Politik. Gibt es auch Wege, auf denen die politische Elite zu umschiffen wäre? Die vielen bereits
bestehenden kulturellen Bewegungen lässt der Autor außer Acht. Neben gemischten Kunst- und Musikfestivals hat sich auch (wieder) eine sehr produktive länderübergreifende Spielfilmszene entfaltet, die die vielen parallelen Probleme aller Gesellschaften in den postjugoslawischen Staaten thematisiert und so auch zur Aufar beitung der Vergangenheit beitragen kann. Südost-Forschungen 72 (2013) 545
Geschichte: seit 1990 Das Buch hat verdientermaßen ein breites und positives Medienecho bekommen, was wahrscheinlich auch der Tatsache zu verdanken ist, dass es als Neuerscheinung auf der Leipziger Buchmesse 2011 präsentiert wurde, als das Gastland Serbien im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Kuljić wird der Komplexität des Themas gerecht, indem er die Problematik facettenreich beleuchtet und dabei stets einen angenehm unpolemischen Ton beibehält. Es bleibt zu wünschen, dass Todor Kuljić dieses Buch auch in Serbien veröffentlichen wird, um damit den dortigen geschichtswissenschaftlichen Diskurs weiter richtungsweisend zu bereichern. Regensburg Marlene Week Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989. Hgg. Wolfgang Stephan Kissel / Ulrike Liebert. Münster, Berlin, Wien: LIT Verlag 2010. 245 S„ ISBN 978-3-643-10964-4, €19,90 Erinnerungskulturen, Gedächtnisorte, Erinnerungslandschaften. Der inflationäre Anstieg dieser und anderer Neologismen im Dunstkreis des Phänomens „Erinnern“ zeugt von dessen als immens wahrgenommener Bedeutung für fast alle kultur- und gesellschaftswissenschaft lichen Fächer. Dass die Publikationen zu Erinnerungskulturen nicht nur nicht abebben, sondern sogar politisch unterstützt werden, beweist auch der vorliegende Sammelband. Dieser ging aus einem europäischen Forschungsprojekt hervor und wurde schließlich am EU-geförderten Jean Monnet Centrum für Europastudien der Universität Bremen durch die dort lehrenden Professoren Wolfgang Stephan Kissel und Ulrike Liebert herausgegeben. Der
in der Einleitung (9-29) formulierte Anspruch der Herausgeber, der oft postulierten, aber kaum empirisch belegbaren „europäischen Erinnerungsgemeinschaft“ auf die Schliche zu kommen, ist zweifelsfrei ambitioniert. Die Autoren des Bandes setzen sich kritisch mit der Ausgangsthese auseinander, dass Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit notwendig zur Herausbildung einer kohärenten Identität seien, die wiederum der EU zur vollständigen Legitimierung noch fehle. Indem sich die Autoren unterschiedlicher geo graphischer und wissenschaftlicher Herkunftsgebiete in ihren einzelnen Beiträgen mit der Vielfalt noch virulenter nationaler Narrative beschäftigen, die innerhalb und am Rande der EU existieren, zeigen sie gleich zwei Probleme auf: Zum einen erinnert man sich in verschie denen Kollektiven teilweise unterschiedlich an die gleichen Begebenheiten, was oft parallel zur Ost-West-Trennung verläuft und die Tauglichkeit des Holocaust als gesamteuropäischen Gründungsmythos in Frage stellt. Zum anderen geht fast jede Nation und gesellschaftliche Gruppe unterschiedlich mit schwierigen, konfliktträchtigen oder gegenläufigen Erinne rungen um. Damit wären laut den Herausgebern die Grenzen einer „von oben“ gewollten Homogenisierung der Erinnerungspraxis zum Zwecke der Identitätsstiftung Umrissen. Solch ein Unterfangen würde momentan zu viele, noch zu gegenläufige Erinnerungen einer teleologischen Geschichtsschreibung von der EU als Endziel opfern. Wie zwischen den 546 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen opponierenden Erzählungen dennoch vermittelt werden kann, soll anhand sich seit 1989 vorsichtig entwickelnder transnationaler Dynamiken, die ihre Energie vor allem aus den institutionellen und normativen Grundlagen der EU zogen, aufgezeigt werden. Dieses einleitend zugrunde gelegte Schema schlägt sich auch im Aufbau des Bandes nieder, der in drei Komplexe zu je vier Beiträgen gegliedert ist und so einen interessanten Bogen vorgibt. Beginnend mit den Erinnerungskulturen und -konflikten im „neuen Osten“ der EU, über eine Reflexion des Umgangs mit Vergangenheit im „alten Westen“ mündet dieser schließlich im Aufgreifen der Anfangsthese, nämlich der Bedeutung, die rechtsstaatlichen Institutionen beim Umgang mit Erinnerungskonflikten und somit für eine europäische Identität zukommt. Der 1. Komplex, „Alte und neue Konstellationen im Osten der EU“, soll zeigen, wie durch den Wegfall des jahrzehntelang verordneten Schweigens neue und alte Erinne rungskonflikte aufbrechen und auch die Beziehungen der postsozialistischen Staaten mit ihren (west)europäischen Nachbarn beeinflussen. Diesem Anspruch wird der Aufsatz von Wolfgang Stephan Kissel gerecht (31-46). Der auf Kulturgeschichte Ost- und Ost mitteleuropas spezialisierte Historiker setzt die postsozialistischen Erinnerungskulturen in einen direkten Zusammenhang mit der EU-Erinnerungspolitik und stellt fest, dass es hinsichtlich der Erinnerung nahezu einen „Wettbewerb“ zwischen Holocaust im Westen und Gulag im Osten gibt. Dieser müsse ausbalanciert werden, indem auch im Westen des Stalinismus gedacht und im Osten die
eigene Rolle im 2. Weltkrieg neu bewertet wird. Wie konfliktträchtig diese Neubewertung sein kann, zeigt der polnische Germanist und Philosoph Karol Sauerland in einem sprunghaften, zu viel Vorwissen voraussetzenden Beitrag über die polnische Erinnerungskultur (47-58), in der jüdisches und polnisches Leid gegeneinander ausgespielt wurden. Bereits die russische Politikwissenschaftlerin Michalina Caleva lässt allerdings die angekündigte In-Bezug-Setzung von Ost und West vermissen (59-70). Zwar zeigt sie, wie die Nichtaufarbeitung des stalinistischen Erbes auch im Russland von heute zu immer totalitäreren Machtstrukturen führt. Statt aber die Rückwirkungen auf die russischen Beziehungen zur EU und den eurasischen Nachbarn zu analysieren, stellt sie lieber fest, dass eine Art Entnazifizierungsprogramm hermüsse, das sie auch sofort bereitstellt - und zwar das angeblich alternativlose ihrer eigenen Partei Jabloko. Dass sie zu viele stichpunktartige Aufzählungen benutzt, worunter Ausdruck und auch Interpunktion leiden, trägt nicht zu einem positiven Gesamtbild ihres Artikels bei. Auch Yvonne Pörzgen (71-89) gelingt es zwar, anhand literarischer Werke aus der exjugoslawischen Region verschiedenste, miteinander konkurrierende und dennoch gleichermaßen erfolglose Iden titätskonstruktionen aufzuzeigen, sie versäumt es aber, eine über den behandelten Raum hinausgehende Perspektive zu geben. Der 2. Komplex, „Transnationale Erinnerungsdynamiken in Westeuropa“, schickt sich an zu beweisen, wie die neuen Dynamiken im Osten der EU auch die vermeintlich zur Ruhe gekommenen
Erinnerungskulturen im Westen wieder aufwühlen. Dass Änderungen von Erinnerungspolitiken und somit -kulturen immer auch von Zusammenhängen au ßerhalb der betroffenen Gesellschaft abhängen, zeigt der amerikanische Germanist David Bathrick anhand von Film- und Literaturanalysen (91-104). So dominierte in Deutschland immer entweder nur die Erinnerung an das eigene Leid oder an die eigene Schuld, ein Südost-Forschungen 72 (2013) 547
Geschichte: seit 1990 vereinender Diskurs zwischen beiden schien hingegen nicht möglich ֊ bis zur veränderten Mächte- und Interessenskonstellation im Europa nach 1989. Wie schon in Polen und Deutschland finden sich auch in Frankreich verschiedene Erinnerungen an die eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg, die bis zu ihrer gegenseitigen Anerkennung und Integration ebenso zähe und langwierige Prozesse durchliefen. Helga Bories-Sawala, spezialisiert auf die Sozialgeschichte Frankreichs, zeigt daran auch die immense Bedeutung des zeitlichen Abstandes für die Neubewertung einer schwierigen Erinnerung (105-126). Letztere spielt auch für den Beitrag der niederländischen Menschenrechtsexpertin Anja Mihr über die späte Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien eine Rolle (127-144). Zwar wiederholt sie sich häufig, sie bringt aber auch die wichtige Frage nach dem besseren Umgang mit Vergangenheit ins Spiel — durch tätiges Erinnern oder heilendes Vergessen? In Spanien erwies sich ein erstes Abwarten als richtig. Hier konnten die Wunden der Vergangenheit erst aufgearbeitet werden, als mehr als eine Generation nach Franco das demokratische System konsolidiert hatten und die Grundlagen vorhanden waren, um bei der Aufarbeitung rechtsstaatlich vorzugehen und keine neuen Gewalttaten zu provozieren. Ob Reden besser ist als Schweigen und wie man einen ehrlichen, differenzierten Dialog jenseits von leeren Entschuldigungsfloskeln erreichen kann, fragt der Soziologe Zdzisław Krasnodębski in einer nicht westeuropaspezifischen, sondern theoretisch verfassten Abhandlung (145-159). Obwohl der
versprochene Einfluss des „neuen Ostens“ auf den „alten Westen“ also nur im 1. Kapitel des Komplexes eingelöst wurde, beleuchten die Beiträge immerhin zentrale, wiederkehrende Probleme beim Umgang mit Erinnerungskonflikten. Ob demokratische Institutionen eher Voraussetzung oder Resultat umfassender Vergan genheitsbewältigung sind und wirklich neue Formen der zivilen Versöhnung ermöglichen, soll im 3. Komplex, „Demokratie und Recht als Voraussetzung für Versöhnung“, anhand der transitional justice in Mittelost- und Südosteuropa erörtert werden. Am Beispiel der Öffnung der Stasi-Akten im Übergangsprozess der DDR kommt Walter Süss (161182) zu dem Schluss, dass gerade nach umfassenden Menschenrechtsverletzungen die Benennung von Unrecht unumgänglich sei. Dies sieht er auch durch die beunruhigenden Folgen der Nichtaufarbeitung in Russland belegt, die Galeva bereits anriss. Während die DDR nach Süß’ Auffassung durch die Eingliederung in die bestehende BRD erleichterte Bedingungen vorfand, tun sich andere postsozialistischen Länder laut dem ungarischen Rechtswissenschaftler Gábor Halmai erheblich schwerer (183-200). Er beklagt, dass die rechtliche Aufarbeitung in den Ländern Ostmitteleuropas nur schleppend vorangeht wobei er Mihrs Erkenntnisse aus Spanien umdreht und behauptet, die unvollständige Aufarbeitung der Vergangenheit behindere demokratisch konsolidierte Institutionen. Dass seine Untersuchungsländer dennoch nicht in ein autoritäres System zurückfallen, dafür zeichne die EU verantwortlich. Ungewollt liefert die Politikwissenschaftlerin Ulrike Liebert im abschließenden
Beitrag (227-242) Argumente für diese bei Halmai noch recht dogmatisch anmutende These. Ihrer Meinung nach sind Demokratie und Recht ideale, wenn nicht notwendige Prämissen für die zivile Beilegung von Erinnerungskonflikten. Denn eine Gesellschaft, deren Identität durch demokratische Werte geprägt ist, gehe auch mit Konflikten anders um. Mithilfe rechtsstaatlicher Institutionen, die auf demokratischen Normen beruhen, könnten diese Konflikte so effektiv und zivil beigelegt werden, dass wiederum die Verfahren selbst identitär werden. Dementsprechend sei eine europäische 548 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Identität, die auf politisch-demokratischen Zugehörigkeiten beruht, am besten geeignet, Differenzen integrativ auszusöhnen. Dass das normative, internationale Recht neue For men der Vergangenheitsbewältigung eröffnet, zeigen Charlotte Thingholm und Janna Wolff anhand der völkerrechtlichen Anerkennung von Vergewaltigungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Am Ende des 3. Komplexes bleibt beim Leser der Eindruck, dass eine dezentrale Ge schichtsbearbeitung nach universalen demokratischen Prinzipien die wahre Perspektive der europäischen Erinnerungsgemeinschaft sei. Es handle sich nämlich bei Europa, wie u. a. Krasnodębski vermutet, um keine tatsächlich erfahrene Erlebnis-, sondern um eine Diskursgemeinschaft. Es können und müssen nicht alle dasselbe erlebt haben, und es gibt auch nicht die eine (erst recht nicht deutsche) Blaupause, nach der alle Erinnerungskonflikte abgehandelt werden können. Aber durch das diskursiv weitergegebene Wissen über die Geschichten, Kulturen und Erinnerungskonflikte der anderen sowie über die gemeinsamen, universellen Werte könnten zwischenstaatliche Konflikte von Vornherein entschärft werden. Diese Erkenntnis wird jedoch größtenteils allein aus Einleitung und Schluss ersichtlich, die qualitativ recht unterschiedlichen Kapitel dazwischen sind oft nur Illustrationen der uneinheitlichen Erinnerungslandschaft Europas, die hinter dem Anspruch der Herausgeber Zurückbleiben. So wird zum Beispiel in der Einleitung angedeutet, die einzelnen Autoren würden sich jeweils kritisch auf die von der EU oktroyierte Vergemeinschaftung der Erin
nerungen beziehen. Dies kann man in den meisten Beiträgen aber nur mit gutem Willen und dann höchstens zwischen den Zeilen finden. Auch die versprochene transnationale Komponente muss sich der Leser oft selbst hinzudenken. Der gut angedachte Bogen in der Gliederung spiegelt sich im tatsächlichen Inhalt der Beiträge nur bedingt wider. Die teils zu detailversessenen Beiträge rekurrieren nur begrenzt auf die von den Herausgebern gestellten europäischen Fragen und größeren Zusammenhänge. Liebert malt das Europa der EU in leicht idealisierten Farben und ignoriert dabei leider einige Erkenntnisse ihrer Mitautoren: So bezeichnet sie den Holocaust undifferenziert als „Gründungsmythos“ und übersieht dabei, dass Deutschland nur aus ganz bestimmten Interessenlagen und Macht konstellationen heraus solch eine europäisierte Identität ausgebildet hat, die sie als Vorschlag für alle EU-Nationen einbringt. Man muss ihr aber zugute halten, dass sie in diesem Band die einzige ist, die wirkliche Perspektiven einer EU-Erinnerungsgemeinschaft aufzeigt. Insgesamt handelt es sich also eher um eine Darstellung verschiedener europäischer Erinnerungskulturen, eine Bestandsaufnahme des Status quo in Ost und West, mit vor sichtigen ersten Schritten in Richtung Zukunft im dritten Teil des Buches. Obwohl kein explizites Ziel des Bandes, ist die Behandlung zentraler Aspekte der Erinnerungsforschung durch verschiedene Disziplinen positiv zu erwähnen. Auch die Frage nach Grenzen und Chancen neuartiger, ziviler Formen der Aufarbeitung dank rechtsstaatlicher Verfahren ist m.E. in der bisherigen
Erinnerungsforschung tatsächlich als originell herauszuheben. Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema aus einer wirklich neuen Perspektive fehlen al lerdings der kohärente Europabezug sowie mehr theoretisierende Beiträge im Stil Lieberts und Krasnodębskis. Regensburg Südost-Forschungen 72 (2013) Birte Richardt 549
Geschichte: seit 1990 Demokratie in unsicheren Räumen - demokratische Erwartungen, soziale Realität und Migration in Serbien. Hgg. Dieter Segert / Heinz Fassmann. Wien, Koln, Weimar: Böhlau Verlag2012 (Der Donauraum, 1). 116 S„ ІЗТаЬ., ISBN 978-3-205-79479-0,€9,60 Das von Dieter Segert und Heinz Fassmann herausgegebene 1. Heft des Jahres 2012 von „Der Donauraum“ basiert auf den Ergebnissen des interdisziplinären Forschungspro jektes mit dem Titel „Demokratie in unsicheren sozialen Räumen. Zum Zusammenhang von Migration und Demokratie in Serbien“, das zwischen 2010 und 2012 vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Kooperation mit der an der Universität Wien angesiedelten Forschungsplattform „Wiener Osteuropaforum“ und dem Institut für Sozialwissenschaften Belgrad (Institut Društvenih Nauka) durchgeführt worden war. In diesem Forschungsprojekt sollte das „soziale Umfeld“ (8) der Demokratie in Serbien untersucht werden, wobei der Fokus auf die,„Analyse der Wirkung der sozialen Ergebnisse der Transformation auf die Unterstützung der Demokratie“ (18) im Lande gelegt wurde. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Emigrations- und Remigrationsbewegungen aus bzw. nach Serbien sowie deren Auswirkungen auf die De mokratie und das politische System in den Blick genommen wurden, zumal diese in der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung vielfach vernachlässigt werden. Die ersten Beiträge des Heftes fassen die Einstellungen und Erwartungen der befragten Serben und Serbinnen an die Demokratie in Serbien zusammen, während sich die nach
folgenden Beiträge mit den Auswirkungen von Migration auf die Demokratie auseinan dersetzen. Bevor den Lesern die Ergebnisse des Forschungsprojektes präsentiert werden, ziehen Segert und Fassmann in ihrem einleitenden Kapitel eine Bilanz der sozioökonomischen Entwicklung in Südosteuropa. Hierfür wählen sie die Transformationsprozesse nach 1989/1990 als Referenzpunkt, um einen Vergleich zwischen den Ländern Ost- und Südosteuropas zu ziehen. Dabei konstatieren die Autoren, dass „die schlechte soziale Lage und der fehlende oder zu langsame wirtschaftliche Aufschwung, die hohe Arbeitslosigkeit und die mangelnde Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme“ (13) in der Re gion als Gründe für jene Ambivalenz zu werten seien, die die Einstellung der Menschen gegenüber der Demokratie kennzeichnet. Die Beziehung zwischen sozioökonomischer Situation und Demokratieverständnis ist somit eine wesentliche; wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch auch ein Verweis auf die politischen Ereignisse gewesen, die den (post)jugoslawischen Raum in den 1990er Jahren so folgenreich geprägt haben. In der Tat zeichnen die im Rahmen des Forschungsprojektes durchgefuhrte Meinungsum frage und die Fokusgruppenstudie ein ausgesprochen pessimistisches Bild der Einschätzung und Unterstützung von Demokratie seitens der serbischen Bevölkerung. Zwar mag die negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien, ihren Vertretern und den politischen Institutionen im Lande nur wenige überraschen, die umfangreichen Ergebnisse zeigen dafür umso einprägsamer, wie komplex und
vielschichtig das Verhältnis der Menschen zu Staat und Politik ist. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes und ihre Publikation im vorliegenden Heft stellen somit einen höchst erfreulichen Umstand dar, leisten sie doch einen wesentlichen Beitrag zu den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Transition Serbiens. 550 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen In ihrem Text „Was erwarten die Serben von der Demokratie? Interpretation der Resultate einer empirischen Analyse“ (21-44) fasst Jovanka Matic, die als Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften in Belgrad am Forschungsprojekt beteiligt war, die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung zum „sozialen Umfeld“ von Demokratie zusammen und hält fest, dass die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Umstände, die von den Befragten in Form von Enttäuschung, Unzufriedenheit und Perspektivenlosigkeit artikuliert wurden, „ungünstig für die Verbreitung der universalen Werte demokratischer Ordnungen“ (26) seien. So wären die Erwartungen der Menschen an eine Verbesserung ihrer Lebensbedin gungen, die sie an den Aufbau der Demokratie geknüpft hätten, nicht erfüllt worden (33). Dies habe zu einer tiefgehenden Skepsis gegenüber dem demokratischen Modell und einer geringen Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement gerührt, sodass Matic Serbien eine „tiefe Legitimitätskrise des politischen Systems“ (41) bescheinigt. Die Verantwortung hierfür sieht Matic abschließend bei den Versäumnissen der politischen Elite seit dem Regimewechsel im Jahr 2000 sowie der externen Akteure - ein Aspekt, der zentral für das Verständnis der festgestellten ambivalenten Beziehung der Serben zur Demokratie ist, an dieser Stelle aber nur kurz angerissen und nicht näher beschrieben wird. Eine nähere Kontextualisierung der Untersuchung erfolgt im Beitrag „Öffentliche und veröffentlichte Meinungen zur Demokratie in Serbien - Diskursive Kontinuitäten und Brüche 2000 bis 2010“ (45-64) von
Silvia Nadjivan, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa tätig ist. Darin analysiert Nadjivan den Diskurs zu den politischen und sozialen Transformationsprozessen seit 2000, wobei sie sich auf diverse quantitative und qualitative Untersuchungen stützt, die von verschiedenen Forschern ab 2001 in Serbien durchgeführt worden waren. Nadjivans zentrales Argument ist, dass der Diskurs zur Demokratie in Serbien nach den politischen Umbrüchen des Jahres 2000 normativ aufgeladen war, „so dass nach dem Regimewechsel an die neue Regierung sehr viele und teilweise auch erhöhte Erwartungen gerichtet wurden“ (45). Mit ihrer Darstellung der Entwicklung des Diskurses gelingt es Nadjivan auf fundierte Weise herauszuarbeiten, wie die Erwartungen der Menschen an einen schnellen Wirtschaftsaufschwung, Wohlstand und EU-Integration diskursiv mit der Legitimität der Regierung und der Bewertung von Demokratie verbunden waren, weshalb sich die Nichterfüllung dieser folglich negativ auf die politische Partizipation und Demokratie auswirkten. Zudem zeigt Nadjivan auf, dass das Ausbleiben einer öffentlichen Aufarbeitung des Milošević-Regimes und der kriegerischen Ereignisse der 1990er Jahre durch den Diskurs rund um den wirtschaftlichen Aufschwung verdeckt blieb. Damit stellt sie gleichzeitig eine Erklärung dafür bereit, wie die Vertreter des alten Regimes sich nicht nur ihrer historischen Verantwortung entziehen, sondern auch die allgemeine Unzufriedenheit über die soziale und wirtschaftliche Lage im Lande dazu nutzen konnten, um 2012 wieder an die Macht
zu gelangen. Die nachfolgenden Beiträge widmen sich der zweiten im Forschungsprojekt formulierten Fragestellung nach den Konsequenzen von Migration für die Demokratie in Serbien. Die Grundlage hierfür bildet eine statistische Erhebung der soziodemographischen Merkmale von Remigranten sowie potentiellen Emigranten, die im Beitrag „Migrationserfahrungen und Migrationspotenzial in Serbien - Demografische Strukturen und regionale Differenzie rungen“ (65-81) von Heinz Fassmann anschaulich dargestellt sind. Dabei wird zunächst Südost-Forschungen 72 (2013) 551
Geschichte: seit 1990 der niedrige Anteil serbischer Remigranten deutlich, womit die serbische Migration viel mehr einen „Endgültigkeitscharakter“ (68) besäße. Gemeinsam mit der geringen Anzahl an Auslandsaufenthalten der Remigranten würde dies, so Fassmann, „gegen die häufig propagierte transnationale Mobilität“ (71) sprechen. Die Einbeziehung der Überlegungen und Erwartungen in die Erhebung, die potentielle Emigranten an einen Auslandsaufenthalt formulieren, belegen zudem das hohe Ausmaß an Unzufriedenheit der Menschen mit den sozioökonomischen Gegebenheiten. Trotz der ausgeprägten Bereitschaft zur Abwanderung zeigt der Beitrag jedoch auch bereits mögliche positive Auswirkungen der Migration für Serbien auf. So würde mit einem Auslandsaufenthalt nicht nur finanzielles Kapital, sondern auch eine „moralische, politische und kulturelle Modernisierung“ (79) Serbiens verbunden. Das Potendal von Migration für die Demokratie in Serbien nehmen Katarina Kujačić und Dieter Segert in ihrem Beitrag „Migration als Ressource für Demokratie? - Ergebnisse einer empirischen Analyse und die Präzisierung der Forschungsfrage“ (83-103) näher in den Blick. Die Fokussierung auf die politischen Auswirkungen von Migration verstehen die Autoren dabei als Aufforderung an die politikwissenschaftliche Demokratieforschung, die den Zusammenhängen zwischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozessen bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat (102). Dabei müsse das Verständnis von Demokratie erweitert werden, denn für eine politische Handlungsmacht und eine aktive Gestaltung der Demokratie
wäre laut Segert auch eine soziale Absicherung der Bürger not wendig. So weisen die Ergebnisse der durchgeführten Umfrage und Fokusgruppenstudie darauf hin, dass Remigranten mit ihren Erfahrungen als „Übersetzer zwischen den betref fenden Kulturen“ (101) agieren und als solche „besser in der Lage sind, das Potenzial der sich entwickelnden Demokratie in Serbien zu erkennen“ (91). Auch wenn Nedad Memić, der Chefredakteur des österreichischen „Ethno-Magazins“ (115) „Kosmo“, das „Potenzial der Balkan-Diaspora für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung“ (112) ihrer Herkunftsländer im abschließenden Beitrag „Serbische und exjugoslawische Migran ten in Österreich und ihr politisches Potenzial“ (105-112) wieder relativiert und dieses als „ungenutzt“ (ebd.) und auf die beträchtlichen Geldrückflüsse reduziert beschreibt, stellen die hier formulierten Fragen zum Verhältnis von Demokratie und Migration eine höchst begrüßenswerte Erweiterung der Transformationsforschung dar. Der vorliegende Band liefert damit nicht nur grundlegende Daten zum Verständnis und hinsichtlich der Erwar tungen der Menschen an die Demokratie in Serbien, sondern bietet zugleich Perspektiven für zukünftige Forschungen, die etwa auch andere Formen von Mobilität - so zum Beispiel neue Kommunikationstechnologien oder Besuche von Emigranten in ihren Herkunftslän dern - und deren Auswirkung auf die Demokratie in den Blick nehmen. Wien 552 Sabrina Kopf Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Kunstgeschichte, Volkskunde Eleutherios P. AlexakéS, Εθνογραφικό ημερολόγιο [Ethnographisches Tagebuch]. Bd. 1։ Ηπειρος (1981-1983) [Epirus (1981-1983)], Bd. 2: Ορεινή Στερεά Ελλάδα (1984-1991) [In den Bergen von Kontinentalgriechenland (1984-1991)]. Athen: Dodone 2007,2010. 271 u. 565 S., zahir. Abb. u. Kt., ISBN 978-960-385-472-2 u. 978-960-385-602-3, €21,30 u. 31,95 Eleutherios P. Alexakés, Κέα Κυκλάδων. Εθνογραφγικό ημερολόγιο [Auf der Kykladeninsel Kea. Ethnographisches Tagebuch], Bd. 1 (1986-1988), Bd. 2 (1989-1991). Athen: Dodonę 2011, 2012. 490 u. 443 S., zahir. Abb. u. Kt., ISBN 978-960-385-636-8 u. 978-960-385-637-5, €31,95 u. 25,56 Der Redaktor und ehemalige Direktor des Forschungszentrums für Griechische Volks kunde an der Akademie Athen, nun schon in Ruhestand getreten, ist durch seine zahlrei chen Veröffentlichungen sozialanthropologischer Natur zu Familien- und Clanstrukturen in Mani (1980, 1998), zum Brautkauf (1984), zur Hochzeitsfahne (1990), zu Symbolen, Familienstrukturen und Kommunitäten im Balkanraum (2001, 2006), zu den Arvaniten im Raum Attika (1996),1 zu den Vlachen von Metzitie (2009) usw. auch einem interna tionalen Leserpublikum bekannt geworden.2 Vor etlichen Jahren hat er begonnen, seine Feldforschungsaufzeichnungen in Tagebuchform zu veröffentlichen. Der 1. Band dieser persönlichen Notizen hat ein gewisses begrenztes Echo ausgelöst,3 da diese z.T. trockenen, z. T. reflexiven Notizen zwar einen Usus der internationalen Ethnologie und Sozialanthro pologie darstellen, in der griechischen Volkskunde jedoch eher selten sind. Eine
gewisse Monotonie haftet den akribischen Angaben zur Zeit des Erwachens und Schlafengehens, zu Einkehrmöglichkeiten und Preisverhältnissen beim Übernachten, Verkehrsverbindun gen und Autobusfahrten sicherlich an, auf der anderen Seite lassen die mit Karten und Fotografien versehenen Wanderungen den Leser gleichsam mitgehen. Der 2. Band der Forschungsfahrten ins Bergland von Kontinentalgriechenland ist ganz ähnlich aufgebaut und enthält insgesamt acht solcher dreiwöchigen professionellen Sommerreisen. Wesentlich anders sehen die beiden Bände zur Kykladeninsel Kea bei Attika aus, wo das Ziel der Untersuchung nicht die großräumige und flächendeckende Untersuchung patrilinearer erweiterter Familienformen gewesen ist (neben den Sammelvorgaben für Feldforschungen der Akademie Athen), sondern eine insgesamt sechsjährige fokussierte Feldforschung von insgesamt etwa sechs Monaten Gesamtdauer auf einem beschränkten Raum. Nach Maßgabe der Tatsache, dass die Familienstrukturen auf den Kykladeninseln nur noch Reste einer patrilinearen Erbfolge aufweisen, steht hier im Zentrum des Interesses die parallele geschlechterspezifische Erbfolge von Söhnen und Töchtern, die sich in der Namensgebung nach dem Großvater bzw. der Großmutter äußert, sowie die matrilokalen Ehepraktiken durch die Mitgift der Tochter (Haus bzw. Wohnung als Aussteuer). Vor allem im 2. Band dieser case study dominieren allerdings neben den Heiligenfesten, Schweine schlachtungen, Schulfeiern usw. die politisch-aktuellen Themen wie Wahlkampf, Reden der Abgeordneten, Parteiplakate, Meinungen der Leute,
Kaffeehausdiskussionen, Fanatismen usw. Auch hier ist neben der einfühlenden Beobachtung und den persönlichen Kontakten das Archivstudium der Lokalbehörden ausschlaggebend sowie organisierte Interviews mit Südost-Forschungen 72 (2013) 553
Kunstgeschichte, Volkskunde Fragebögen, autobiographische Erzählungen und Familiengenealogien, Arbeitskalender der Frauen usw. Alexakis vermerkt, dass er diese Feldstudien auf Kea außerhalb seiner Feldforschungs-Verpflichtungen am ehemaligen Volkskunde-Archiv der Akademie Athen und ohne jegliche finanzielle Hilfe durchgeführt habe; sonst wären ihm diese mehrmonati gen Aufenthalte auf der Insel gar nicht möglich gewesen. Wie schon bei den beiden ersten Bänden, umfassen seine Aufzeichnungen auch Persönliches und Familiäres. Wer die Geduld aufgebracht hat, die insgesamt 2 000 Seiten der Tagebuchaufzeichnungen von Anfang bis zum Ende durchzulesen, wird sicherlich die Ausdauer und das Pflichtbe wusstsein ihres Autors bewundern, sich aber auch die Frage stellen, bis zu welchem Grad es sinnvoll ist, die Erlebnisse und Gedanken eines Feldforschers, vor allem wenn sie sich in der bekannten Welt des heutigen politischen Alltags in der Provinz bewegen, in extenso zu veröffentlichen. Führten die ersten beiden Bände noch in eine Welt mit gravierenden Unterschieden, wenn auch hier schon im Umbruch, zum gängigen mediterran-balkanischen Zivilisationsprofil des späten 20. Jh.s, so entbehren die letzten beiden Bände doch auf weitgehenden Strecken eines tiefergehenden Interesses für jeden Insider, der das politische Treiben der letzten Jahrzehnte beobachtet und miterlebt hat. Insofern hätten vielleicht Auszüge aus diesen Tagebüchern genügt, oder es wäre an eine elektronische Form der Veröffentlichung zu denken gewesen. Dies schmälert freilich keineswegs die Signifikanz und Nützlichkeit
solcher Vorformen wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die dann die Ergebnisse in komprimierter Form und unter Abzug des persönlichen Erlebniswertes pu blizieren. Es bleibt in jedem Fall das Verdienst des Autors, für diese Form veröffentlichter Tagebucheintragungen der Feldforschung in Griechenland den Anfang gemacht zu haben. Athen, Wien Walter Puchner 1 Unter dem Titel: Die Kinder des Schweigens. Wien, Köln, Weimar 2008. 2 Vgl. meine Rezensionen in Südost-Forschungen 40 (1981), 526£; 45 (1986), 539-542; 58 (1999), 500-502; 68 (2009), 723-725; Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV/94 (1991), 436-439. 3 Vgl. die Rezension von Thede Kahl, Zeitschriftfür Balkanologie Ab (2009), H. 1, 123-126. Menas Al. Alexiades, Εντυπα μέσα επικοινωνίας και λαϊκός πολιτισμός. Νεωτερικά λαο- γραφικά [Druckmedien der Kommunikation und Volkskultur. Moderne volkskundliche Themen], Athen: A.Kardamitsa Ekdoseis 2011. 246 S., zahir. Abb., ISBN 978-960354-284-1, €21,30 Mit dem Adjektiv „modern“ des Untertitels ist nicht die philosophisch-historische Moder ne zwischen Vormoderne und Postmoderne (ca. 1600-1950) gemeint, die als neuer Begriff für die Neuzeit das wissenschaftlich-rationale Weltbild umfasst, auch nicht der Modernismus der ästhetischen und stilistischen ,,-ismen“ nach 1880 bis zur Zwischenkriegszeit, der in seiner Gegensätzlichkeit die Künste und die Literatur prägt und als klassische Avantgarde das Ausgangsfundament für die mannigfachen Entwicklungen im 20. Jh. bildet, sondern ein 554 Südosr-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen semantisches Spektrum, das die zeitgenössische oder Gegenwartsvolkskunde anpeilt und als Kontrapunkt zur traditionellen Volkskunde aufzufassen ist. Das Buch bildet gewissermaßen eine spezifizierende Fortsetzung des vorausgegangenen Sammelbandes ,,Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία“ von 20061 und ist auf die Druckmedien (Zeitungen, Postkarten, Broschüren) und ihren Gebrauch von Elementen der traditionellen Volkskultur fokussiert. Es handelt sich durchwegs um Studien, die im Zeitraum zwischen 2008 und 2010 entstanden und zum Großteil schon veröffentlicht sind. Der Quellenbereich, in dem sich Alexiadis bewegt, ist vorwiegend die Athener Presse der letzten beiden Jahrzehnte, nur im letzten Kapitel wendet sich der Autor seiner Heimatinsel Karpathos in der Dodekanes zu, der er schon viele Studien, Monographien und Sammelbände gewidmet hat.2 Das 1. Kapitel behandelt Märchen und Aktualität (17-51). Märchensammlungen sind nach wie vor ein Verkaufsschlager - von 1985 bis 2007 sind allein 50 neue Märchensamm lungen im griechischen Buchhandel erschienen. Die Märchenstudien machen einen erklecklichen Teil der volkskundlichen Bibliographie aus, bedienen sich aber auch vieler anderer Methoden, neben regionalgeographischen auch pädagogischer, psychoanalytischer, performativer, typen- und motivanalytischer, narratologischer Methoden (im Zeitraum von 1980 bis 2007 sind selbständige 35 Studienpublikationen vorgenommen worden), Typenkatalogen (von ATU 1 bis 750 ist der griechische Märchenkatalog nun komplett)3 sowie theoretischer Studien und Einführungen.4 Märchen als Thema in Bezug auf
Zeitun gen umfasst nicht nur Reportagen aus der Märchenforschung oder Jubiläen der Brüder Grimm und von H. C. Andersen, sondern auch Märchenstoffe im Kindertheater und im Film, Artikel über professionelle Märchenerzähler, die Anzeige neuer Märchensammlungen sowie Artikel bezüglich der überzeitlichen Funktion solcher Narrative (z. B. die Analyse der Kongressakten „Vom Märchen zu den Comics“). Das Kapitel ist mit zahlreichen Zei tungsausschnitten illustriert. Das 2. Kapitel, „Sprichwörter und Sentenzen griechischen Politiker mit Beispielen aus der Athener Presse“ (53-81), ist den Studien von Wolfgang Mieder zum Sprichwortgebrauch in der Politik nachempfunden5 und quasi eine Fortsetzung seines eigenen Artikels zum Sprich wort in den Zeitungen.6 Das Kapitel beginnt mit Beispielen, wie das Politikerwort selbst zum Sprichwort werden kann. Das ausgewertete Textkonvolut umfasst 129 Zeitungstexte von Politikerreden, in denen Sprichwörter zu paränetischen Zwecken gebraucht wurden, beratende Funktion hatten, Anklagen darstellten, inadäquate Reaktionsweisen anprangerten, ökonomischen Inhalts waren oder pessimistische Prognosen stellten bzw. zur Selbstvertei digung gebraucht wurden. Zu diesem Zweck wurden auch altgriechische Sentenzen und Apophthegmen verwendet, gelehrtsprachige Redewendungen sowie Bibelsprichwörter. Das Kapitel beschließen 5 Beispieltexte, ein Katalog der verwendeten Sprichwörter in al phabetischer Reihenfolge sowie eine Liste der Politiker, die auf den Fundus des stehenden Sprechgutes zurückgegriffen haben. Kapitel 3 ist den Antisprichwörtern in den Athener
Zeitungen gewidmet (83-124). Auch hier standen Wolfgang Mieders bahnbrechende Studien bei der Problemerfassung Pate.7 Aus dem Zeitraum 2005-2010 sind insgesamt 140 anti-proverbs erfasst. Der Hauptteil des Kapitels besteht aus einer Auflistung der einschlägigen Sprichwörter und ihrem unkonventi onellen, abweichenden und „falschen“ Gebrauch, der allerdings die allgemeine Kenntnis der Südost-Forschungen 72 (2013) 555
Kunstgeschichte, Volkskunde Redewendung voraussetzt, um Humor, Wortspiel, Satire und Parodie würdigen zu können. Die Statistik verzeichnet bis zu 21 verschiedene Anwendungen des gleichen Sprichworts aus einem Sample von insgesamt 59 stehenden Redewendungen; ein Appendix bringt Abbildungen der einschlägigen Zeitungsausschnitte. Das 4. Kapitel wendet sich einem anderen Thema und einem anderen Medium zu: Traditionelle Berufe auf alten Postkarten und Fotografien (125-149), ebenfalls ein Zweig der griechischen Volkskunde, der in den letzten Jahren einen gewissen Boom verzeichnen kann; hier bildet der Bildteil die Quintessenz der Studie. Zu sehen sind Schuhputzer, Ma ronibrater, Gemüsehändler, Orangenverkäufer, Flickmacher, Salepi-Verkäufer, Korbmacher, Kräuterweiber, Scheren- und Messerschleifer, Vogelfänger, Limonadeverkäufer, Holzfäller, Stoffhändler, Tanzbärenführer, Melonenverkäufer usw. Das 5. Kapitel ist den Auswanderern der Insel Karpathos und ihrer Selbstdarstellung in Vereinen und Broschüren gewidmet (151-189), vor allem aus dem isolierten Bergdorf Olympos im Norden der Insel, das bis vor Kurzem nur vom Meer her erreichbar war. Das oft seit dem Beginn des 20. Jh.s bestehende bezügliche Vereinswesen ist vor allem in Amerika (New York, Baltimore, Washington D. C., Chicago, Pittsburgh, Florida) nachzuweisen, die einschlägigen Broschüren bringen meist in anekdotischer Form Kapitel der traditionellen Volkskultur, zusammen mit improvisierten gereimten Zweizeilern, für die die DodekanesInsel berühmt ist, und alte Fotografien von Hochzeiten, Kirchweihfesten und dergleichen.
Darüber hinaus gibt es auch wissenschaftliche Bücher von Inselbewohnern über ihre Hei matinsel sowie Studien über die ausgewanderten Karpather in Amerika und Australien.8 Der Studienband endet mit einer Liste der Erstveröffentlichungen (193), den „English summaries“ der Einzelkapitel (195-197), einem bibliographischen Führer (199-214), den ikonographischen Nachweisen (217-219) sowie einem Generalindex (221-238) und einem Curriculum des Verfassers (239-243). Athen, Wien Walter Puchner 1 Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία. Συναγωγή μελετών. Athen 2006; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 798-800. 2 Vgl. meine Anzeigen in Österreichische Zeitschriftfür Volkskunde 89 (1986), 379f; 104 (2001), 384f.; 105 (2002), 481-483; 107 (2004), 285-287. 3 Vgl. Walter Puchner, Der griechische Märchenkatalog von Georgios Megas. Zur Geschichte und Bedeutung eines unvollendeten Projekts, in: ders., Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009, 603-620. 4 Chrisula Hatzitaki-Kapsomenu / Giorgos M. Parasoglu, Το νεοελληνικό λαϊκό παραμύθι. Thessaloniki 2002, und meine Anzeige in Fabula 48 (2007), H. 3-4, 345f. 5 Wolfgang Mieder, The Politics of Proverbs. From Traditional Wisdom to Proverbial Stereotype. Madison/WI 1997; ders., Proverbs are the Best Policy. Folk Wisdom andAmerican Policy. Logan/UT 2005; ders., „Yes We Can“. Barack Obamas Rhetoric. New York u. a. 2009; dazu ergänzend ders., „There Is Always a Better Tomorrow“. Proverbial Rhetoric in Inaugural Addresses by American Presi dents During the Second Half of the Twentieth
Century, Narodna Umjetnosti (2001),H. 1,153-172. 6 Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία, 93-112, hier folgend der umfangreichen Studie von Wolf gang Mieder, A Proverb is Worth a Thousand Words. Folk Wisdom in the Modern Mass Media, Proverbiami2 (2005), 167-233. 556 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 7 Ders., Antisprichwörter. 3 Bde. Wiesbaden 1982-1989; ders., Verdrehte Weisheiten. Anti sprichwörter aus Literatur und Medien. Heidelberg 1998; ders. / AnnaTóthné-Litovkina, Twisted Wisdom. Modern Anti-Proverbs. Berlington/VT 1999. 8 Anna Caraveli, The Symbolic Village. Community Born
in Performance, Journal ofAmerican Folklore 98 (1985), Nr. 389, 259-286; Pavlos Kavouras, Glendi and Xenitia. The Poetics of Exile in Rural Greece (Olymbos, Karpathos). Ann Arbor/MI 1990; Vasiliki Chrysanthopulu, Ο τόπος της πατρίδας στο λόγο και στις εθιμικές τελετουργίες των Καρπαθίων της
Κάμπερρας Αυστραλί ας, in; Minas A. Alexiadis (Hg.), Κάρπαθος και Λαογραφία. Γ ' Διεθνές Συνέδριο Καρπαθιακής Λαογραφίας. Athen 2008, 1027-1074. Πρακτικά Πανελληνίου Συνεδρίου „1909-2009: 100 Χρόνια Ελληνική Λαογραφίας“, Πανεπιστήμιο Αθηνών, 11-13 Μαρτίου 2009 [Akten des panhellenischen Kongresses
„1909-2009: 100 Jahre Griechische Volkskunde“, Universität Athen, 11.-13.3.2009]. Πρακτικά ημερίδας „H έρευνα των λαϊκών διηγήσεων στον ελληνικό και τον διεθνή χώρο“ [Tagungsprotokoll „Die Erforschung der Volkserzählungen im griechischen und inter nationalen Raum“]. Hgg. Menas Al. Alexiadés /
Geörgios Ch.KuzAS. Λαογραφία 42 (2010-2012). Athen; 2013. 1096 S„ zahir. Abb., ISSN 1010-7266 Die Hundertjahrfeier der Griechischen Volkskundlichen Gesellschaft wurde mit einem mehrtägigen Großkongress begangen; dem voluminösen Band des traditionsreichen Periodikums der Gelehrten-Gesellschaft wurde
gleich auch der Aktenband einer Tagung zur Volkserzählforschung einverleibt. Die letzten Bände der Laografía
haben erstaunliches Ausmaß angenommen (Bd. 40, 2004-06, 1161 S.; Bd. 41, 2007-09, 1194 S.), was mit der prekären finanziellen Situation der griechischen Folklore-Society in Zusammenhang steht, die einjährliches Erscheinen nicht mehr erlaubt. Nach dem Kongressprogramm und den GrußWorten setzen die z.T. umfangreichen Referate alphabetisch geordnet ein. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von G. Saunier zur Farbsymbolik in den Volksliedern (33-60) — Farben des Lebens, der Freude und Schönheit: rot, schwarz, weiß, grün; Farben des Todes, des Unglücks und der Häßlichkeit: schwarz, gelb, grün, rot; Farbdynamik, Farbserien als böses Omen, Bedeutungsambiguität der Far ben -, der den übrigen Referaten vorangestellt ist. Es folgt Eleftherios P. Alexakis zu den Beziehungen zwischen Volkskunde und Anthropologie in Griechenland (61-82), Minas А. Alexiadis zu den volkskundlichen Studien in Griechenland in der Phase von 1907 bis 1947 (83-92), V. D. Anagnostopulos zur Umbenennung des Lehrstuhls der Thessalischen Universität von „Volkskunde“ auf „Sozialanthropologie“ (93-112), Manolis G. Varv unis zu den universitären Volkskundearchiven (113-128), St.VATUGiu zu den Beziehungen zwischen Volkskunde und Film (129-144), G. Vozikaš zur Relation zwischen Volkskun de und Literaturroman im Lichte der allgemeinen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Kunst und bürgerlicher Kultur (145-170), M. Vrelli-Zachu zur Lehre der Volkskunde an der Universität Ioannina 1964-2009 (171-192), gefolgt von E. I. Vrynioti zur Volks liedsammlung „Ekloges“ von Nik. Politis (1914), eine Arbeit, die besonderes Interesse
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Kunstgeschichte, Volkskunde beanspruchen darf, als die von Giannis Apostolakis formulierte Kritik an der Sammlung (1929), die durch Jahrzehnte hindurch nachgeschrieben wurde, dass Politis wesentliche Eingriffe durch Versionenkombinationen vorgenommen habe, anhand der Quellen falsi fiziert wird; der Prozentsatz der Eingriffe ist als minimal einzuschätzen, was anhand von Tabellen nachgewiesen wird (193-212). Die Reihe der Referate setzt A.-I. Weel-Badieraki mit einer Übersicht über die Volks kunst-Lehre 1969-2008 (213-216) fort, D. Damianu über die pädagogischen Dimensionen der Volkskunde und ihrer Lehre im Erziehungswesen (217-230), A. N. Dulaveras beschäf tigt sich in einem umfangreichen Artikel mit den Beziehungen zwischen Volkskunde und Literatur und liefert eine ausführliche Übersichtsbibliographie (231-284), Chr. Zeritis referiert über Eingriffe der Volkskunde in die Alltagsaktualität (285-300), M. Zografu beschäftigt sich mit der Tanzvolkskunde (301-314). Mit der Kritik von Apostolakis an der einflussreichen Volksliedsammlung von Politis 1914 setzt sich auch G. LThanopulos auseinander (315-314), während M. Theocharj-Petrulea auf die Volkskultur-Elemente in der nachbyzantinischen Ikonographie im messenischen Mani eingeht (329-372, mit 61 Abb.). Die Völkerpsychologie von W. Wundt in Beziehung zur damaligen Volkskunde interessiert R. Kakampura (373-390), der Folklore-Brauch der heutigen Liebes-Schlösser M. Kaplanoglu (391-406), E. Karamanes berichtet über die Möglichkeiten digitaler Erfassung volkskundlicher Daten (407-422), N. X. Karpuzis referiert über die histo
rischen Methoden der Stadtvolkskunde (423-448), G. K. Katsadoros untersucht die Rezeptionskapazität der Zeitschrift „Laografía“ bezüglich der heutigen Humanwissenschaf ten (449-450). Ein Kapitel aus der Geschichte der griechischen Volkskunde beschäftigt D. Th. Katsaris: die Auseinandersetzung zwischen Konstantinos Kontos und Nikolaos Politis an der Philosophischen Fakultät der Universität Athen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s (459-478). Die im 20. Jh. zunehmende Kongruenz zwischen Stadt und Land nimmt K. D. Kontaxis unter dem Titel „Bürgerliches Dorf und ländliche Stadt“ unter die Lupe (479-494), die griechische Volkskunstforschung des 20. Jh.s stellt K. Korre-Zografu vor (495-504). Mit den fliegenden Märkten der Urbanzentren setzt sich G. Ch. Kuzas in einer umfangreichen und systematischen Studie auseinander (505-558, mehrere Abb.), während P. Kopsida-Vrettu einen diachronischen Überblick über die griechische Gast ronomie seit dem Altertum bietet (559-582). A. Lydaki stellt die qualitativen Methoden volkskundlicher Feldforschung vor (583-606), M. Manikaru geht auf die volkskundlichen Beiträge in den Literaturzeitschriften Rumeliens im Zeitraum 1950-1967 ein (607-630), der Regionalismus in den Gebirgszonen des Epirus beschäftigt K. Margonis (631-638), die Rolle der Ästhetik und die Kontinuität der Volkskunde M. G. Meraklis (639-646), die mangelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gefühlen in der Volkskunde moniert G. V. Michail (647-656); dem Erziehungswesen und den Schulbüchern wendet sich D. Benekos zu (657-672), den Identitätsproblemen der
albanophonen Arvaniten in Griechenland A. Oikonomu (673-693, ausführliche Bibliographie); darauf folgt die Dokumentation der Wahl von Richard Dawkins zum Ehrenmitglied der griechischen Volkskundlichen Gesellschaft 1909 von A. E. Papakyparissis (694-718), während sich Chr. Papakostas der Tanzfolklore zuwendet (719-730); Lehre und Feldforschung in der Volkskunde interessieren A. Papamichail-Kutruba (731-760), Methoden der Erforschung 558 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen der Oralität nimmt sich M. Papachristoforu vor (761-778), die anthropologischen Di mensionen in den Volksglaubensvorstellungen untersucht stichprobenartig N. L. Perpatari (779-788), I. Põlemis das Synaxar des Hl. Thomas (789-792), die „innere Landschaft“ der Bewohner eines epirotischen Bergdorfes P. Patiropulos (793-818). Walter Puchner setzt sich mit dem Begriff der staged authenticity auseinander (819-830), D. E. Raptis mit der Beziehung von Volkskunde und Mythologie (831-852), G. A. Rigatos mit der Volks medizin (853-862); methodische Fragen der Tanzvolkskunde interessieren K. Sachinidis (863-868), die soundscapes von Athen Ende des 19. Jh. im Literaturwerk von Michael Mitsakis M. G. Sergis (869-923), eine überaus interessante und umfangreiche Studie. Den Jubiläumsband beschließen V. Chrysanthopulu mit einer umfangreichen Studie zur Volkskunde der Auswanderung und der Diaspora (925-968) und K. Chrysu-Karatza zur Speise als Kulmrphänomen im hellenophonen Raum (969-999). Manche dieser Studien sind überaus umfangreich und gehaltvoll, andere eher eine Geste der Ehrerbietung für eine der ältesten wissenschaftlichen Gesellschaften in Griechenland. Eine gewisse thematische Strukturierung wäre auch hier von einigem Vorteil gewesen. Das Tagungsprotokoll zur Volkserzählforschung (23.11.2009) umfasst drei Beiträge; G. VbziKAS spricht über das Phänomen der Umsiedlung innerhalb der Stadt und die bezügli chen Erinnerungserzählungen (1001-1046, mit drei Narrativen), R. Kakampura referiert über das autobiographische Erzählen in der internationalen Bibliographie
(1047-1060) und Katsadoros über die begriffliche Dynamik der Narration (1061-1071), ein analytischer Kongressbericht der ISFNR 2009 in Athen. Der Band schließt mit den English summaries (1073-1096). Athen, Wien Walter Puchner Evangelos G. Avdikos, Παιδική ηλικία και διαβατήριες τελετές [Kindesalter und Über gangsriten]. Athen: Pedio 2012. 527 S., einige Abb., ISBN 978-960-546-071-6, €29,90 Ders., Σέσκλο Μαγνησίας. Οικονομικές, κοινωνικές και πολιτισμικές αντιθέσεις και αλλαγές [Das Dorf Sesklo im Bezirk Magnesia, Thessalien. Wirtschaftliche, soziale und kultu relle Gegensätze und Änderungen], Volos: Edition der Gemeinde Aisonia 2010. 352 S., zahlreiche Abb., Statistiken und Tabellen, 1 Karte, ISBN 978-960-99638-0-0, €10,Der Autor dieser beiden Monographien, Professor für Sozialanthropologie und Volks kunde an der Universität Thessalien in Volos, ist dem Leser der SOF kein Unbekannter.1 Neben Dorf- und Stadtmonographien hat er auch Studien zu Erzählformen von Märchen bis hin zu Comics vorgelegt sowie Thematiken einer spezifisch bürgerlichen Volkskun de, wie den Übergang von der traditionellen Heiratsvermittlerin zum Anzeigenbüro für Kontaktsuchende. Einen solchen Übergang versucht der Verfasser auch in seiner ersten Monographie zu dokumentieren, die in etwas anderer Form bereits zuvor erschienen ist.2 Neu sind, außer einigen Zusätzen und Ergänzungen, im Wesentlichen nur die Einleitung Südost-Forschungen 72 (2013) 559
Kunstgeschichte, Volkskunde (13-29) und der Schluss (463-467), wo pointiert auf die heutigen Änderungen hingewie sen wird und die neuere griechische und internationale Bibliographie zur Welt des Kindes besprochen wird (die bibliographischen Abkürzungen sind nicht alle in die Bibliographie am Ende des Bandes eingeflossen). Auch der theoretische und methodische Rahmen erfährt insofern eine gewisse Verschiebung, als nun vor allem die Ubergangsriten der Sozialisierung in den Vordergrund treten, die schon mit der Hochzeit und dem zu erwartenden Kinder segen beginnen, und sich dann über Schwangerschaft, Geburt, Taufe, Kinderspiel bis in das Pubertätsalter hineinziehen. Die Welt des Kindes war nicht immer eine Domäne von Volkskunde, Ethnologie und Kulturanthropologie, doch hat sich auch dies gegen Ende des 20. Jh.s geändert; dennoch fuhren die Tendenzen der Pädagogie und Spielzeugindus trie nicht immer zu einem wirklichen Verständnis der so ganz anderen Welt des Kindes (wobei natürlich die Altersstufen zu unterscheiden sind). Die griechische Volkskunde hat sich eigentlich von Beginn an in nahezu systematischer Weise um den Kosmos des Kindes in der Volkskultur gekümmert, was vielleicht mit einer speziellen Kulturkonstellation des späten 19. Jh. zusammenhängt, in der die Kinderliteratur und die Kinderperiodika einen bedeutenden Platz in der gesamten Kulturaktivität eingenommen haben. Der theoretisch methodologische Rahmen der Arbeit bewegt sich in den Gleisen von van Gennep’s rites de passages und ihrer Anwendung für die griechische Sozialanthropologie durch Th. Paradellis.3 All
dies ist nun im neuen Vorwort zu lesen, auf welches das 1. Kapitel folgt (31-78), in dem das Begriffsinstrumentarium zur Debatte steht, ein kritischer Literaturbericht zum Stand der Kindesforschung in den Kulturwissenschaften gegeben, die spezielle griechische Situation erläutert und eine Trennung nach Altersstufen vorgenommen wird. Das 2. Kapitel wendet sich dann dem eigentlichen Geburtsvorgang zu (79-194), unter dem Aspekt der sozialen Geburt, in die auch das Elternpaar mit einbezogen ist: Kindeserwartung, Kinder losigkeit und Riten ihrer Überwindung (traditionell und modern), Schwangerschaft und biologische Geburt, die Dämonologie des Geburtsvorganges als projizierte Personifikationen von Ängsten und reellen Gefahren des Kindbetts für das Neugeborene und die Mutter, die Hebamme, der Brauch der couvade (Vater im Wochenbett), Formen der symbolischen (Wieder-) Geburt sowie Adoption. Betrifft das 2. Kapitel den Familien- und Verwandtenkreis, so ist das 3. der Mikrosozietät der Dorfgemeinschaft gewidmet, in die das neue Mitglied integriert werden soll (195-296): vom Durchschneiden der Nabelschnur bis zu den ersten Gehversuchen und von der exklusiven Mutter-Kind-Beziehung bis zur ersten Sozialisation in der Schulklasse werden die Übergangs- und Integrationsriten vom 3. über den 40. Tag bis zum ersten Geburtstag, der Taufe und Namensgebung bis zur Kinderhochzeit und der Kinderkultur in der Schule (bzw. Kinderzimmer, Spiele und Spielzeug usw.) untersucht. Ein 4. und letztes Kapitel geht auf die Erwartungshaltungen ein (297-462): Einüben von gender-KoWcn, Riten der Stärkung für
Körper und Geist, Riten der Sozialisierung, das Kind in der Familie, Unterhaltung (Wiegen- und Spiellieder, Rätsel, Gruppenspiele). Auf den kurzen Epilog folgen noch die umfangreiche Bibliographie (469-510) und ein Generalindex (511-527). Ganz anders gestaltet ist die andere Monographie, ein Auftragswerk der untersuchten Gemeinde selbst, was den Vorteil hatte, dass der Autor und seine engagierte, selbst aus Sesklo stammende Assistentin, Stavrula Gaga, Zugriff auf die offiziellen Lokalstatistiken 560 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen und historischen Dokumente aus der Dorfgeschichte hatten, was ihnen allerdings auch ein gewisses Misstrauen der Bewohner eingetragen hat. Sesklo, im Hinterland von Volos und gegenüber dem Peliongebirge gelegen, ist vor allem durch seine prähistorischen Funde bekannt geworden, ansonsten aber eher ein weißer Fleck auf der Karte der in- und aus ländischen Kulturanthropologen, die bereits fast jedes abgelegene Dorf als case study mit einer Monographie belegt haben. In bewährter Methode hat Avdikos auch in diesem Fall alle möglichen Quellenkategorien ausgewertet: neben den behördlichen Kontakten auch intensive Feldstudien und Diskussionen mit den Bewohnern, Erinnerungen, Nachrichten aus der vergangenen Generation, Familienarchive usw. Das Dorf ist insofern interessant, als es früher aus zwei verschiedenen Kommunitäten bestanden hat: einer griechischthessalischen (karagunides) und einer vlachisch-aromunischen; bei letzterer handelt es sich um Arvanitovlachen aus dem albanischen Frashëri, die die fruchtbaren Weiden im Vorland und nördlichen Teil des Pelion-Gebirges als Winterweide benutzten, gegen Ende des 19. Jh.s jedoch hier sesshaft geworden sind. Die erste Hälfte des 20. Jh.s hindurch gab es einen heftigen Antagonismus der beiden Kommunitäten, wobei die transhumanten Vlachen gegenüber den greki den Nachteil hatten, dass Ressourcen und Besitz in deren Hand waren. Die Gegensätze spitzten sich während der deutsch-italienischen Besatzung Griechenlands und im nachfolgenden Bürgerkrieg noch weiter zu, da manche unter den Aromunen der Propaganda der Römischen Liga des
italienischen Faschismus erlegen sind; um der Stigmatisierung zu entgehen, haben sich nach dem Krieg einige Vlachen des Dorfes im Bürgerkrieg auf der kommunistischen Seite engagiert. Dies sind heikle Themen, über die auch heute noch nicht gerne gesprochen wird. Avdikos hatte aber einen Feldforschungs vorteil: selbst Ammune aus Preveza, hatte er besseren Zugang zu den heute vorwiegend vlachischen Informanten. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die greki nach Volos zu übersiedeln, so dass man von einer „Vlachisierung“ der Gemeinde sprechen kann. Doch der strenge Endogamieradius der transhumanten Viehzüchter wurde aufgegeben, und heute dominieren die gemischten Ehen im Dorf. All dies ist in der eher bescheiden aufgemachten Studie zu finden, strukturiert in: eine Einleitung (1-8); einen l.Teil über Raum, Wirtschaft und Gesellschaft (10-139) mit Siedlungsgeschichte, dem Sesshaftwerden der Seminomaden, Herkunft und Umfang der zugewanderten Population, Weiden und Weiderechte, die Kreisstadt Volos und die Ausdiffe renzierung der Berufe; einen 2.Teil über Greki und Vlachen (141-318), mit Hausarchitektur von Ansässigen und Zugereisten, traditionellen Professionen (Viehzüchter, Maultiertreiber, Käseproduktion), Beziehungen zur Stadt (Frauenarbeit, Milchlieferung, usw.); einen 3.Teil über soziales und kulturelles Verhalten (253-283), mit Hochzeit und Familienstruktur (mit anfänglicher Endogamie), Heiligenfesten und Verkleidungen; sowie einen 4. Teil über Stereotypen und Gegensätze (285-318) zwischen den beiden ethnischen Gruppen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Die Gruppen sind
heute in einen eher indifferenten Mischzustand übergegangen, wobei die „greki“ zum Großteil nach Volos abgewandert sind und die Vlachen im Dorf eindeutig die Oberhand gewonnen haben. Auf die Zusammenfassung (319-332) folgt noch eine Liste der Informanten (333-335), die etwas unübersichtliche Bibliographie (336-352) sowie ein kurzer, beigebundener Generalindex (353-360, ohne Seitenzählung). Es handelt sich um eine etwas unübliche Südost-Forschungen 72 (2013) 561
Kunstgeschichte, Volkskunde Dorfmonographie aus der Feder eines erfahrenen Feldforschers, der neben seinen persön lichen Kontakten auch alle greifbaren Quellen der Behörden ausgewertet hat, um diese Dorfgeschichte zu erstellen, die auch Schauplatz eines ethnischen Konflikts mit allen seinen
Stereotypenbildungen und der einschlägigen Rhetorik gewesen ist. Interessant ist weiterhin, dass es sich um eine Auftragsarbeit der Kommunität selbst handelt. Das Buch ist durchweg spannend zu lesen und hat durch den persönlichen Erlebnisstil seines Verfassers einen gewissen Reiz der
Unmittelbarkeit, der sich von den trocken gelehrsamen Monographien der struktural-funktionalen Schule der Sozialanthropologie wohltuend abhebt und deshalb auch durchaus eine etwas sorgfältigere Edition verdient hätte. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. meine Anzeigen in Südost-Forschungen 63/64
(2004/2005), 635-637, und 69/70 (2010/11), 667f., sowie 71 (2012), 651-653; vgl. auch Fabula 36 (1995), 108f. und 37 (1996), 31 lf, weiters auch Zeitschriftfür Volkskunde9\ (1995), 299£, und Österreichische Zeitschriftfiir VolkskundeYXFTil 95 (1992), 565-568, und LIV/103 (2000), 135f. 2 Evangelos G.
Avdikos, Το παιδί στην παραδοσιακή και τη σύγχρονη κοινωνία. Athen 1996; vgl. auch meine Anzeige in Österreichische Zeitschriftfiir Volkskunde LII/101 (1998), 536f. 3 Theodoras P. Paradellis, Από τη Βιολογική στην Κοινωνική Γέννηση. Πολιτισμικές και Τελετουργικές Διαστάσεις της Γέννησης στον
Ελλαδικά Χώρο του 19°” αιώνα. Diss., Athen 1995. Manóles G. BarbunēS, Νεωτερική Ε)ληνική Λαϊκή Θρησκευτικότητα. Συναγωγή μελετών
θρησκευτικής λαογραφίας [Moderne Volksfrömmigkeit in Griechenland. Eine Studien sammlung religiöser Volkskunde], Thessaloniki; Ekdoseis Barbunakis 2014. 790 S., mehrere Abb., ISBN 978-960-267-184-9 Manóles G. Barbunês, Θεμελιώδεις έννοιες και μορφές της ελληνικής θρησκευτικής λαογραφίας [Grundbegriffe und -formen der griechischen religiösen Volkskunde], Athen: Στρατηγικές εκδόσεις 2013. 477 S., 12 Abb., ISBN 978-960-8094-77-2 Von den zahlreichen Veröffentlichungen des Volkskunde-Professors an der Thrakischen Universität in Komotini, Manolis Vammis, ist an dieser Stelle schon manches zur Darstel lung gekommen. Der Werdegang des Forschungsprofils des schriftenreichen Feldforschers, der an der Universität Thrakien mit Hilfe studentischer Diplomarbeiten ein ganzes Hand schriftenarchiv der Volkskunde Nordgriechenlands und des Zentralbalkans aufgebaut hat, war von Anfang an auf die religiöse Volkskunde, vor allem unter dem Aspekt der rezenten Phänomene der Pastoralpraxis konzentriert, wo sich Volkskultur mit ekklesialem Ritus, gelebte Brauchgegenwart mit überzeitlichem Dogma, Profanität mit Volksfrömmigkeit und mit kanonisierten Kultformen der offiziellen orthodoxen Kirche überschneiden. Genau diesen Aspekten sind zwei neuere selbständige Publikationen gewidmet. Bei der Ersten geht es um die Wiederveröffentlichung von 30 Studien, die im Zeitraum von 2006-2013 in verschiedenen Zeitschriften, Festschriftbänden und Kongressakten 562 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen veröffentlicht worden sind (vgl. 753-758), wobei folgende Themen zur Sprache kommen: die rezente Volkskunde von Komotini (23-60), das heutige bürgerliche Ritual um den Tod (Bestattungsfirmen, Todesanzeigen usw., 61-98), Heiligenfeste und Kirchweihen in Pfarrsprengeln von Athen (99-112), Formen rezenter Volksfrömmigkeit in der griechischen Volkskultur (113-138), bürgerliche und städtische Religiosität im Rahmen der Diözesen, am Beispiel der Hl. Anastasia im Athener Vorort Peristeri (139-162), religiöse Volkstradition und europäische Einigung (163-174), volkhafte Haus- und Heimkulte (175-186), besonders interessant: Wallfahrts-Tourismus und griechische Volkskunst (zu organisierten inländischen Pilgerreisen und dem Phänomen des religiösen Kitschs, 187-208),proskynetaria in Athen (zu Wegkreuzen und Mini-Kapellen meist an Unfallstellen 209-218); weiters: kleine Papieriko nen mit Segenswunsch (219-232), der Beitrag von D. S. Lukatos zur griechischen religiösen Volkskunde (233-258) und zum griechischen Heiligenkult (259-272), Wallfahrts-Ausflüge und heilige Reisen (273-304), materielle Indikatoren des traditionellen religiösen Verhaltens (305-322), ekklesiale Taschenkalender und Volksreligiosität (323-346), Spiritualität und Profanisierung in den griechischen Volksbräuchen (347-360), Praktiken städtischer Volks religiosität (alte Kirchen unter den sakralen Neubauten, 361-372), religiöse Periodika (am Beispiel des Mutter-Gottes-Kults auf Naxos, 373-408), Kitsch in der heutigen griechischen religiösen Volkskunst (409-440), der griechische Volksglaube zwischen Ost und
West (441 472), städtische ekklesiale Litanei-Prozessionen (473-492), zum kirchlichen Ausspeise-Wesen in den Städten (493-518), besonders interessant und gut belegt: die Bestattungs-Büros und das heutige Management des Todes- und Begräbnisrituals (519-558) ֊ hier ist die überaus scharfe Grenze zwischen traditionellen Volkspraktiken (Aufbahrung und Ausstellung des Toten, Lamentation, Leiblichkeit, Öffentlichkeit) und bürgerlich-städtischen Organisa tionsformen (Beschränkung auf die Privatsphäre, Vermeidung des Kontakts mit dem Toten, Verschweigen und Umschreiben, Gefasstheit, Professionalisierung des Bestattungswesens) augenfällig. Es folgen noch Studien zum Brauchleben und den volksreligiösen Riten der Armenier von Komotini (559-590), zu Einflüssen der Klosterkultur auf die Pastoralpraxis der Pfarrer (591-620), Kinderkultur und Volksfrömmigkeit (621-636), zu Märchenmotiven in Biographien rezenter Heiliger der orthodoxen Kirche (637-678), zu ethnischen Tradi tionen in den Formen der öffentlichen Rituale in Thrakien (679-696), zum Volkskult des rezenten Heiligen Nikolaos Planas aus Naxos (697-718) und zu Formen der öffentlichen Riten und der Volksfrömmigkeit in Griechenland (719-751). Manche dieser Themenstellungen sind von stupender Originalität und dokumentieren das Talent des Verfassers, die beobachtete Realität in weiterführende Fragestellungen zu „übersetzen“, die ins „weite Land“ ganzheidicher Kulturwissenschaften führen. Die bib liographische Belegung mit griechischer und internationaler Sekundärliteratur ist überaus reichhaltig, aber nicht immer ganz akkurat. Hier
wurde dem Druckfehler-Teufelchen noch großzügiger Spielraum eingeräumt. Wie schon aus den Titeln hervorgeht, kommt es zu mannigfachen thematischen Überschneidungen, ein Phänomen, das auch bei der zitierten Bibliographie beobachtet werden kann. Darüber hinaus aber tangieren einige der Kapitel originelle Themenstellungen, die Kerngebiete der heutigen Volksfrömmigkeit in der Massenkultur der Urbanzentren sowie ihrer sozialpsychologischen Manifestationen und pastoralpraktischen Organisation der Alltagsbewältigung anschneiden. Südost-Forschungen 72 (2013) 563
Kunstgeschichte, Volkskunde Anders strukturiert ist der weitere zu besprechende Band, bei dem es sich um eine Vorar beit für ein Lexikon griechischer Volksreligiosität handelt. Entstanden sind die meisten der etwa 380 Lemmata aus einer in Ausarbeitung befindlichen „Großen Orthodox-Christlichen Enkyklopädie“ (mit zahlreichen Zusätzen und Ergänzungen), in der definitionsmäßig und sachadäquat die volkstümlichen Devotionsformen, Sakralvorstellungen, Superstitionen, Manifestationen der Volksfrömmigkeit und magisch-religiöse Praktiken bedeutenden Raum einnehmen. Auf eine knappe Einleitung (9-23) folgen die bis zu fünf Seiten langen Einzelarti kel in alphabetischer Reihenfolge, die alle durchwegs mit einer Spezialbibliographie versehen sind, die allerdings eine Reihe von bibliographischen Angaben mehrfach wiederholt, da es in der Fachliteratur nicht immer Spezialarbeiten zu separaten Einzelphänomenen gibt. Die Ausgriffe in die internationale Sekundärliteratur sind nicht immer ganz geglückt, und abgesehen von manchen Zufallszitaten ergibt sich auch die Problematik von umfangrei chen und flächendeckenden Monographien ganzheitlicher Darstellungen der Volkskultur, die laufend und in ganz verschiedenen Zusammenhängen zitiert werden müssen, was die Lektüre ermüdend macht. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass eine solche lexikalische Zusammenstellung nicht als einheitliche Lektüre gedacht ist, sondern als Nachschlagewerk von Informationsquellen für spezifische Sachinteressen. Es wäre zu überlegen, ob in einer künftigen vollständigeren enzyklopädischen Darstellung der griechischen
Volksreligiosität, die mutatis mutandis auch für weite Teile anderer orthodoxer Gebiete Südosteuropas einige Gültigkeit besitzt, nicht besser eine einheitliche Gesamtbibliographie mit arithmetischen Abbreviationen zu benutzen ist, die auch wesendich raumsparender ist als die vielfache Repetition ein- und derselben Werke und insofern auch eine wesentliche Ausweitung der bibliographischen Verweise erlaubt. Die gegenwärtige Form der enzyklopädischen Dar stellung der hellenophonen Volksreligiosität verfügt über eine ausführliche Bibliographie am Bandende (445-470), die als Vertiefung und Erweiterung gedacht ist und mit den in den Einzellemmata angegebenen bibliographischen Angaben nicht deckungsgleich ist. Eine einheitliche Referenzbibliographie am Bandende könnte hier eine Straffung und Vereinheitlichung, aber auch eine Spezifizierung und Präzisierung der bibliographischen Angaben bewirken und Platz schaffen für wesentliche Erweiterungen sowohl im Umfang der Einzelbeiträge wie auch für die ergänzende Aufnahme von Sachthemen, die in dieser vorläufigen Ausgaben nicht angeschnitten worden sind. Einige Abbildungen machen die Lektüre des Bandes erfreulicher, den die vergleichende Südosteuropaforschung mit Gewinn benutzen wird. Athen, Wien 564 Walter Puchner Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Crossroads. Greece as an Intercultural Pole of Musical Thought and Creativity. In ternational Musicological Conference, Thessaloniki, June 6-10, 2011. Conference Proceedings. Hgg. Evi Nika-Sampson u. a. Thessaloniki: School of Music Studies, Aristotle University of Thessaloniki 2013. 1223 S., zahir. Abb. und Noten, ISBN 978960-99845-4-9 (eBook) Revisiting the Past, Recasting the Present: The Reception of Greek Antiquity in Music, 19th Century to the Present. Athens, 1-3 July 2011. Conference Proceedings. Hgg. Katerina Levidu/George Vlastos. Athens: Hellenic Music Centre 2013. 324 S., zahir. Musiknoten, ISBN 978-618-80006-1-2 (eBook) Zwei musikwissenschaftliche Kongresse sind anzuzeigen, die unmittelbar die Balkan musik betreffen und beide im Sommer 2011 in Thessaloniki bzw. in Athen stattgefunden haben, deren thematischer Rahmen allerdings unterschiedlich gelagert ist: der eine, ein von der School of Music Studies der Universität Thessaloniki sowie von der Regional Association for the Study of Music of the Balkans der International Musicological Society veranstaltete, war ein Kongress wahrhaft monströsen Ausmaßes, der sich mit Griechenland als Drehscheibe musikalischer Ost- und Westeinflüsse beschäftigte. Der andere war dem Nachleben des griechischen Altertums in der Musik des 19. und 20. Jh. gewidmet, wobei Südosteuropa allerdings keine hervorgehobene Rolle spielt. Beide Kongressaktenbände sind auf Englisch verfasst, der erstere enthält gegen Ende auch 16 griechischsprachige Beiträge. Alle elaborierten Referate sind mit einem Abstract am Anfang, Fuß- oder
Endnoten und einer Bibliographie versehen. Als keynote speaker der Thessaloniki-Konferenz trat der Spezialist für byzantinische Musik, Constantin Floros, mit dem Referat: „The Influence of Byzantine Music on the West“ (1-12) auf, in dem vorwiegend dem Einfluss der parasemantischen Notation nachgegangen wird. Es folgen drei thematische Panels: „Contemporary Ethnomusicological Knowledge in Greece: Young Scholars Reflecting on Experience and Ethnography, the Academy and the Field“, mit drei Referaten: Eleni Kallimopoulou, „Ethnomusicological Student Fieldwork in the City of Thessaloniki: Cultural Difference and Cultural Politics in the Field and the University“ ( 15-22), Haris Sarris, „The,Greek Clarinet1 in Thrace Revisited: A Contemporary Ethnomusicological Perspective“ (23-30), in dem das Verschwinden der gaida zugunsten der Klarinette in der Evros-Region in Thrakien in den 1950er Jahren als überregionaler Urbaneinfluss interpretiert wird, sowie Alexandra Balandina, .A Greek Ethnomusicologist Doing Fieldwork in the Middle East Returns Home: Encounters and Trajectories in Contemporary Greek Academia“ (31 -50) mit Reflexionen über ihren eigenen Forschungsaufenthalt im Iran. Ein 2. Panel beschäftigt sich mit „Music in Greece During the 1940s“ (51-96), was durchweg die Kunstmusik betrifft, und ein 3. mit „Teaching Tonal and Contemporary Composition as an Issue of Internationalization and Modernism in Greek Music: Editing Yannis A. Papaioannous (1910-1989) Educational Corpus“ (97-146). Es folgen free papers in alphabetischer Reihenfolge, von denen einige auch die Südost europa-
Forschung interessieren: Spyridon Antonopoulos, „Manuel Chrysaphes and His Treatise. Reception History, a Work in Progress“ (153-172), dessen Traktat über die Kunst des Psalmodierens in der Palaiologenzeit weite Verbreitung im Balkanraum gefunden hat; mit der Psaltik setzt sich auch Thomas Apostolopoulos auseinander („Production Fields of Sudost-Forschungen 72 (2013) 565
Kunstgeschichte, Volkskunde Theoretical Terminology of the Psal tiki“, 173-180), während andere Studien den Kompara tiveinflüssen auf der Balkanhalbinsel gewidmet sind: Anna Babali, „Musical Interrelations between Serbia and Greece. The Case of the Seven Balkan Dances for the Piano by Marko Tajčević and the Piano Set Greek Dances by Georgios Kasassoglou“ (191-202); Gordana Blagojević, „Byzantine Music as a Driving Force of Music Creativity in Belgrade Today“ (237-244); Irina Chudinova, „Greek Chant in the Russian North“ (251-258); Zamfira Dănilă, „The Publication of Ghelasie the Bessarabians Music - an Invaluable Restitution For Romanian Psaltic Music“ (259-274). Es folgen u. a. Studien zur Instrumentenkunde wie Lampros Efthymiou, „The Lavta: Origins and Evolution. Its Relation to the Old Type of Greek Lute“ (303-316); weiters Oliver Gerlach, „Crossroads of Latin and Greek Christians in Norman Italy. Byzantine Italy and Reciprocal Influences Between Greek and Latin Chant (llth-13th Century)“ (375-402); Kyriakos Kalaitzidis, „Kratemata and Terenüm - .Parallel Lives““ (449-452); Mem Kumbe, „The Historical Development of Byzantine Music in Albania from 1900 until Today“ (473-480); Katerina Levidou, „Re thinking .Greekness“ in Art Music“ (503-514); Nikos Maliaras, „Some Western European Musical Instruments and Their Byzantine Origin“ (533-544, z. B. die Orgel); Gabriel Mandrila, „Saint John of Damascus. The Byzantine Music Notation and the Theology of Holy Icons“ (545-552); Nataša Marjanovič, „Greek Chant in the Liturgical Practice of the Serbian Orthodox Church“ (569-580);
Daphne Mavridou, „Type of Melisma in the Tradition Songs of Central Macedonia, Greece“ (581-598); Vesna Mikić, „Whose Are These Songs? Serbian/exYu and Greek Input in Balkans Popular Music“ (599-606); Mema Papandmkou, „The Santouri in Greece between 1799-1800. Is It an Ottoman or a European Dulcimer?“ (653-666); Roksanda Pejović, „Possible Baroque Influences on the Representations of Musical Instruments in 17th and 18th Century Serbian Art“ (667-680); Anastasia Siopsi, „A Comparative Study of Music Written for Productions of Ancient Greek Drama in Modern Greece and Europe (1900-1970)“ (743-754); Pavlos Tsakalidis, „Three-Chord Modes in Greek Folk Music“ (853-866) usw. Unter den griechischsprachigen Beiträgen finden sich Studien zur byzantinischen Musik, ethnomusikologische Regionalstudien, Beiträge zu Handschriftenfunden, zur Kunst des Psalmodierens, zur altgriechischen Musik, zu Passionstroparien, zum Einfluss der byzanti nischen Musik auf Mikis Theodorakis usw. Der virtuell voluminöse Band mit seinen für die Drucklegung z. T. anspruchsvollen Texten ist elektronisch abzurufen;1 er verfügt über eine enorme thematische Bandbreite, die von Altgriechenland bis in die rezente populäre Bal kanmusik reicht, von der Singtechnik oral tradierter Volkslieder bis zur Zwölftonmusik von Skalkottas und der elektronischen Musik von Xenakis, von Film- und Opernmusik bis zur traditionellen Instrumentenkunde und ethnomusikologischen Case studies im Balkanraum. Strenger strukturiert ist der 2. hier zu besprechende Kongressaktenband, der dem Nach leben der griechischen Antike in den
Kompositionen des 19. und 20. Jh. gewidmet ist. Auch hier betreffen manche Beiträge eine gesamteuropäische Perspektive. Er beginnt mit einer thematischen Einheit, „On Stage and Screen“, in der Beiträge versammelt sind wie der von Anastasia Siopsi, „Ancient Greek Images in Modem Greek Frames. Readings of Antiquity in Music for Productions ofAncient Dramas and Comedies in Twentieth-Century Greece“ (2-15), wo Orientalismus, Byzanz, Balkanismus, Moderne, Volksmusik usw. die 566 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Zwischenstellung Griechenlands zwischen Ost und West belegen, Interpretationen, die sich deutlich von den westeuropäischen Praktiken und Strategien der Intonation der Auffüh rungen altgriechischer Dramatik distanzieren. Manolis Sei ragakis fokussiert in seinem Beitrag auf eine spezielle Vorstellung: „Rebetiko and Aristophanes: The Music Composed by Theofrastos Sakellaridis for The Ecclesiazusae (1904, Nea Skēnē, Athens, Greece)“ (1631), ebenso wie Andriana Soulele, „Writing Music for Ancient Greek Tragedy’s Stagings in France and in Greece in the Twentieth Century. The Use of the Voice in Pierre Boulez’s Orestie (1955) and Jani Christou’s The Persians (1965)“ (32-41) - es handelt sich um die berühmte Vorstellung der „Perser“ von Karolos Koun, die in vielen Tourneen in ganz Europa zu sehen war. Diese thematische Gruppe beschließt Nick Poulakis mit „Spotting Amazons, Scoring Demigods. Television, Music, and Reception of Greek Antiquity“ (4249), wo in Serien wie „Hercules: the Legendary Journeys“ (1995-1999) und „Xena: Warrior Princess“ (1995-2001) traditionelle und rezente Balkanmusik herangezogen wird, um eine „orientalische“ Atmosphäre zu erzeugen.2 Der 2. Themenkomplex, „Choreographing the Past“ (50-68), ist ausschließlich westlicher Musik gewidmet, ebenso wie der 3., „Female Figures in the Opera“ (69-99). Balkanischen Boden betreten wir zumindest teilweise wieder in Abschnitt vier: „Literary Perspectives“. Hier analysiert von Belgrad aus Ana Stefanovič „Berlioz’s Les Troyens·. Nostalgia for the Antique Past“ (100-133), und Christoph Flamm berichtet über den
Gebrauch der anti ken Mythologie im russischen Symbolismus („Masks and Realities: Greek Mythology in Russian Symbolism“, 134-146). Im 5- Abschnitt, „Theory and Philosophy“, analysiert dann Agamemnon Tentes „Archaic Modes1 of Receiving Antiquity by the Great Theārētikon of Music by Chrysanthos from Madytos“ (147-176), verfasst 1812-1816 in Konstantinopel; Ana Petrov aus Belgrad beschäftigt sich mit Max Webers „Musikstudie“ („Dionysian Aspect of Rationalisation in Music. A Trace of Nietzsche in Max Weber’s Musikstudie 177-186). Eine thematische Rückkehr in den Balkanraum bringt der Abschnitt 6: „Echos in Greek Folk Music“, wo sich Maria Hnaraki unter anderem mit der Kabarett-Oper „The Abduction of Europa United“ von Minas Alexiadis (2010) und anderen ähnlichen Werken auseinandersetzt („Zeus Performed, Greek Mytho-Musicologies“, 187-194), während Harikleia Tsokali und Haris Sarris auf die Repetition als Voraussetzung für ekstatische Zustände wie etwa in den anastenaridnestinari eingehen („Cyclicity in Ecstatic Experience: Neo-Platonic Philosophy and Modern Practice“, 195-209). Ein 7. Abschnitt ist mit „Modern Greek Receptions“ (210-264) betitelt und geht auf Opern und Kompositionen griechischer Komponisten mit antiker Thematik im 20. Jh. ein. Abschnitt 8, „Inspiring Eastern Europe“, bringt wieder für die Balkankomparatistik einschlägige Beiträge: Anna Dalos, „Nausicaa, Sappho, and Other Women in Love. Zoltán Kodály’s Reception of Greek Antiquity (1906-1932)“ (265-273); Ákos Windhager, „Pan Goes Marching in Style Hongrois. An Intertextual Analysis of ,The Death of Pan’ by
Edmund Mihalovich“ (274-295) bezüglich der Oper „Pán halála“ 1898 von Ödön Mihalovich (1842-1929); Srdan Atasanovski, „Imagining the Sound of the ,Serbian Sparta“ (296-302), berichtet über den Einfluss montenegrinischer Musik auf die nationalen Kampf-Chorlieder der Serben in der k. u. k. Monarchie; nach Serbien führt auch der Beitrag von Melita Millin, „Approaches to Ancient Greek Mythology in Contemporary Serbian Music: Ideological Südost-Forschungen 72 (2013) 567
Kunstgeschichte, Volkskunde Contexts“ (303-317). Der Band endet mit den Autoren-Biographien (318-324). In der Antiken-Rezeption hat Südosteuropa, mit der plausiblen Ausnahme Griechenlands, keine hervorragende Rolle gespielt; und auch hier überwiegt vor allem das Sprechtheater und die Literatur über Musikkompositionen und Opernwerke. Die beiden Kongressbände dokumentieren jedoch die Vitalität der Balkanmusik ebenso wie die Vitalität der südost europäischen Ethnomusikologie und Musikwissenschaft. Volks- und Kunstmusik zählen bis heute zu den Stärken dieses Kulturraums. Athen, Wien Walter Puchner 1 Unter http://crossroads.mus.auth.gr und http://www.mus.auth.gr , 3.3.2014. 2 Vgl. auch Donna A. Buchanan, Bulgaria’s Magical Mystère Tour: Postmodernism, World Music Marketing, and Political Change in Eastern Europe, Ethnomusicology 41 (1997), H. 1, 131-157. Aristeides N. DuLABERAs/Chrēstos К. Reppas, Ααογραφικά Μουσεία της Μεσσηνίας [Volks kundliche Museen in Messenien, Südpeloponnes]. Thessaloniki: Ekdoseis Ant. Staniulis 2012. 288 S., zahir. Abb., 1 Kt„ ISBN 978-960-0533-13-3 Jeder Griechenlandbesucher hat irgendwann einmal ein volkskundliches Museum besucht; fast jedes Dorf besitzt eines. In Messenien sind es allein 22. Auf Initiative einer Privatperson werden Gegenstände der Vergangenheit, ästhetisch ansprechend oder auch nicht, oft in nur einem einzigen Raum zusammengetragen und ausgestellt, vom Stifter und „Konservator“ meist selbst erklärt, die Auswahl geht auch auf ihn zurück; auf ein Besucherbuch und seine Eintragungen wird großer Wert gelegt, die Lokalpresse findet
lobende Worte für diese Art von aktiver Traditionspflege. Wie Michalis Meraklis in seinem kurzen Vorwort dartut, ist die Abwesenheit des Staates in dieser Art der Dokumen tation der Volkskultur auf Lokalebene, ganz im Gegensatz zu den organisierten Formen der Volkskulturpflege in den ehemaligen sozialistischen Ländern Südosteuropas, nahezu absolut. Ökonomische Präferenzen tun sich mit intellektueller Überheblichkeit zusammen und formen eine Front gegen das angeblich Unbedeutende und Übliche auf lokaler Ebene; nur große Museen haben eine Chance auf staatliche Zuschüsse. In Griechenland waren es zuerst Frauen, die sich der Volkskunst und ihrer Tradierung schon in der Zwischenkriegszeit angenommen haben: Angeliki Hatzimichali, Anna Aposto laki, Melpo Merlier, Eva Sikelianu (Palmer), AthinaTarsuli, Popi Zora, Ioanna Papantoniu u. a. Manche dieser Namen sind auch im Ausland bekannt geworden. Gemeinsamer Nenner: keine dieser Persönlichkeiten war an den Universitäten vertreten. Die Volkskunst- oder Volkskultur-Museen unterstehen dem Kulturministerium und sind dort auch statistisch erfasst, werden aber von Privatpersonen gegründet und auf deren Kosten betrieben. Das Movens der Gründung einer solchen Institution ergibt sich oft aus einem ganz praktischen Dilemma: Was soll man mit den traditionellen Gegenständen (Werkzeuge, Produktions mittel, Objekte der Web-, Strick-, Schnitz- und Töpferkunst usw.) machen? Sie zu erhalten 568 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen versuchen oder dem Altwarenhändler verkaufen? Interessanterweise hat die Anzahl dieser Art von Privatmuseen, die z. T. auch bedeutende pädagogische Aktivitäten (Schulbesuch, Kurse, Videofilme über Produktionsvorgänge usw.) entwickelt haben, seit 1990 zugenom men, und zu dem ästhetischen Aspekt gesellt sich zunehmend auch die Erklärung der Gebrauchsfunktion der Gegenstände und das Totum des Alltagslebens in früheren Zeiten. Zur Diskussion um die Volkskulturmuseen, zu Strategien der Präsentation, Besucher aktivierung, Erlebniskultur, spielerischem Aneignen von Wissen usw. gibt es inzwischen auch in Griechenland eine reichhaltige Bibliographie und eine lebhafte Aktivität, in die vor allem Schulen, pädagogische Institute, Kindergärten usw. involviert sind. Darüber gibt der l.Teil der Einleitung zur griechischen Museologie Auskunft (13-25); der 2.Teil ist dann der allgemeinen Lage der Volkskunde-Museen in Messenien gewidmet (26-33). Es folgt die Dokumentation der 22 Museen des südlichsten politischen Bezirks der Peloponnes, eingeteilt in allgemeine Information (Gründung, Geschichte, Personen, Räumlichkeiten, evtl. Statuten, Exponate, Telefonnummern, Webseiten usw.), gefolgt von Notizen und Informationen in der Lokalpresse und Eintragungen aus dem Besucherbuch. Letzteres ist ein interessantes Kapitel für sich: oft sind die Eintragungen auch von Touristen, die diese Art des Intimkontakts mit der einheimischen Tradition in besonderer Weise zu schätzen wissen, neben den bewegenden Worten inländischer Besucher, die oft mehr lobende Worte für den Wert dieser
Privatinitiative finden als sich mit den Gegenständen selbst zu beschäftigen. In allen Fällen folgt auch eine Auswahl von Fotografien der Räumlich keiten bzw. von Gebäuden und ausgewählten Exponaten. Diese Art der systematischen Bestandsaufnahme einer spezifischen Region erlaubt auch einige generellere Diagnosen: die universelle Anerkennung von Sinn und Zweck solcher Einrichtungen auf privater Ba sis, die die steigenden Besucherzahlen und vor allem die Eintragungen im Besucherbuch dokumentieren; die Sympathien für die Initiative sind weder proportional noch verkehrt proportional zur Reichhaltigkeit der Exponate, ihrer Aufstellung und Erklärung, der Enge der Räumlichkeiten bzw. der Anhäufung der Gegenstände ohne ausreichende thematische Strukturierung usw. zu sehen, sondern im Wesentlichen ziemlich unabhängig von der spe zifischen Organisationsstruktur des Museums; der Erhaltungswille traditioneller Formen der Volkskultur wird an sich estimiert, die kargen Mittel aus der Privatschatulle, die die Eintrittspreise nicht abdecken können, erhöhen den ethischen Anerkennungswert. Damit unterscheiden sich die Volkskundlichen Museen etwa von den Archäologischen wesentlich; die Absenz staatlicher Unterstützung positioniert diese Mini-Museen in einer Art GegenKultur zur offiziellen Kulturvitrine und kann damit apriori mit Sympathiekundgebungen seitens der Besucher rechnen. Den interessanten Band beschließen eine Übersichtskarte (266), die allgemeine und regionsspezifische Bibliographie mit Internetadressen (267-277), ein Generalindex (279286) und ein English summary (287f.).
Athen,Wien Südost-Forschungen 72 (2013) Walter Puchner 569
Kunstgeschichte, Volkskunde Aristeidēs N. Dulaberas, Μελετή ματα για το δη μ,οτικό τραγούδι [Studien zum griechischen Volkslied]. Thessaloniki: EkdoseisAnt. Stamulis2013.221 S., ISBN 97S-960-9533-32-4 Aristeidis Dulaveras von der Peloponnesischen Universität in Kalamata ist vor allem durch seine Sprichwortforschungen in der Nachfolge von Demetrios Lukams bekannt geworden,1 hat sich in den letzten Jahren jedoch mehrfach mit dem griechischen Volkslied beschäftigt.2 Vorliegender Studienband enthält sechs Arbeiten zu verschiedenen Themen der Volksliedforschung. Besonders interessant ist dabei der 1. Beitrag, erschienen zuerst in einem Sammelband in Thessaloniki 2008 zu Leben und Tod als Kulturphänomene, der auf die biophile Ideologie der griechischen Volkslieder in ihrer Absolutheit eingeht - Leben als absoluter Wert, Tod als absoluter Unwert (13-34). In den Lamentationen ist keine Spur von Auferstehungshoffnung, und die Unterwelt, in der die Seelen weilen, ist das absolute Gegenbild der Oberwelt. Dieses faszinierend unchristliche Bild vom Thanatos als absolutem Übel, das neben der Resurrektionsgewissheit der Osterbotschaft - in der Orthodoxie noch stärker herausgestellt als im Westen - unvermittelt weiter besteht, ist oft beschrieben und analysiert worden.3 Auf die Hochzeit als Sequenz von Ritualhandlungen im Volkslied geht die 2. Studie ein (35-80), und zwar speziell auf die Balladenmotive der Hochzeitsvermittlung, die (glücklichen und unglücklichen) Liebschaften, auf Heiraten zwischen andersgläubigen (heterodoxen) und andersstämmigen (heteroethnischen) Partnern.4 Letztlich
ist dies eine Studie zur alterity und ihrer Handhabung im Volkslied.5 Der 3. Beitrag ist dem Fluch in den Volksliedern gewidmet (81-120). Nach Maßgabe des magisch-religiösen Weltbildes, das die traditionellen Volkslieder repräsentieren, ist der fatalen Erfüllung des Fluches nur mit magischen Gegenmitteln zu begegnen, so dass die Fluchformeln einen „Sprechakt“ im Wortsinne darstellen, ein Faktum auf der Sprachebene, dem unausweichlich das reelle Geschehnis folgt. Dulaveras geht hier eher soziologisch vor: Er gliedert das Material in Männerflüche und Frauenflüche (Mutter für Sohn mit illegitimer Beziehung, für auswandernden Sohn, für Sohn aus klefiis [outlaw] usw., für toten Sohn wegen eines Versprechens [balkanweites Lied vom „Toten Bruder“], für den unerwünschten Bräutigam, den Sultan, die Dorfvorsteher, die kalten Monate usw.); bei letzteren noch weiter ausdifferenziert auf verheiratete Frauen (gegen den Vormeister im balkanweit verbreiteten „Lied von der Arta-Brücke“, Fluch auf die Fremde [Saisonarbeit der Männer], der fremd verheirateten Tochter auf ihre Eltern, auf den reichen Mann, den faulen oder betrunkenen, kranken, auf die Schwiegermutter), der sitzengelassenen Unverheirateten, Verfluchung der Unterwelt usw., schließlich Flüche von Tieren und vor allem Vögeln. Es folgt ein Liedmotiv, das nun schon angeklungen ist — das schwierige Verhältnis zwischen Braut und Schwiegermutter in den thessalischen Volksliedern (121-144), dem eine ganze Balladenkategorie angehört. Magischen Denkformeln und Handlungsweisen in Volksliedern auf Karpathos ist der 5. Beitrag gewidmet
(145-168). Der 6. Beitrag hat die Lamentationsversion aus Trapezunt auf den Fall von Konstantinopel zum Gegenstand (169-184). Charakteristisches Merkmal aller Studien ist der reichhaltige Gebrauch von Beispielen aus den Liedtext-Sammlungen, so dass sich die Lektüre zu einem richtigen Lesegenuss 570 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen gestaltet und der Leser sich selbst ein Bild machen kann von den ästhetischen Qualitäten und ideologischen Strategien, die in der gesungenen Oraldichtung zur Anwendung kom men. Den Band beschließen eine Liste der Erstveröffentlichungen, eine Bandbibliographie (185-208), ein Generalindex (209-218) sowie die englischsprachigen Abstracts (219-221). Athen, Wien Walter Puchner 1 Νεοελληνικός Παροιμιακός Λόγος. Athen 2010; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 69/70 (2010/2011), 696£, vgl. auch Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLIVУ 93 (1990), 96f. undXLV/94 (1991), 451-453. 2 Vgl. seine Monographie zu den Schönheitsmetaphern des Frauenlobs im Volkslied Η Ανθρώπινη Ομορφιά στο Δημοτικά Τραγούδι. A'. Γυναικεία Ομορφιά. Athen 2007; eine ähnliche Arbeit zu den männlichen Metaphern ist im Entstehen. 3 Walter Puchner, Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 11-28. 4 Zuerst in der kefalonitischen Zeitschrift Κυμοθόη 20 (2010), 77-99. 5 Vgl. zu der Frage der traditionellen ethnischen Heterostereotypen und Fremdbilder und ihrer teilweisen Transzendierung in den Balladen auch Puchner, Studien zum griechischen Volkslied, 75-77. Tolmiros Skapaneas. Homenaje al Profesor Kostas A. Dimadis/Τολμηρός Σκαπανέας. Αφιέρωμα στον Καθηγητή Κώστα A. Δημώδη. Hgg. Isabela García Gálvez / Olga Oma tos Saenz. Vitora-Gasteiz: Sociedad Hispánica de Estudios Neogriegos 2012. (Estudios Neogriegos. Revista cientifica de la Sociedad Hispanica de Estudios Neogriegos 14 (2011-2012)). 573 S., ISSN 1137-7003, €40,IV Congreso de Neohelenistas de Iberoamérica „Culturas hispánicas y
mundo griego“, Zaragoza 1,2 y 3 de octobre de 2009 / IV Διεθνές Συνέδριο Νεοελληνιστών της Ιβηρικής Χερσονήσου και της Λατινικής Αμερικής „Ο ελληνισμός από την σκοπιά των ισπανικών πολιτισμών“. Hgg. Olga Omatos Sáenz/Idoia Mamolar Sánchez/Javier Alonso Aldama. Vitoria-Gasteiz, Granada: Sociedad Hispánica de Estudios Neogriegos 2012. 771 S„ ISBN 978-84-95905-42-0, € 104,Der umfangreiche Festschriftband für Kostas Dimadis, den Präsidenten der Europäi schen Gesellschaft für Neugriechische Studien und emeritierten Professor am Lehrstuhl für Neogräzistik der Freien Universität Berlin enthält nahezu 30 Studien mit einer breiten Palette von Themen, die z.T. den Interessenhorizont des Gefeierten, also das Prosaschrift tum des 19. und 20. Jh.s, widerspiegeln. Der Band beginnt mit einem Schriftenverzeichnis (11-19) und verschiedenen Grußbotschaften. Den Reigen der Festschriftbeiträge eröffnen Marjoujne C. Janssen und Marc D. Lauxtermänn über das Motiv der Lehrerklage des „Ptochoprodromos“ im byzantinischen Schrifttum (27-43); Günther Steffen Hen rich weist die „Rimada des Mädchens und des Jünglings“ aufgrund der Entzifferung der Kryptosphragiden dem Marinos Falleros zu (45-62); Моѕсноѕ Morfakidis setzt sich mit dem spanischen Handbuch der byzantinischen und neugriechischen Literatur von SalvaSüdost-Forschungen 72 (2013) 571
Kunstgeschichte, Volkskunde dor Costanzo im 19. Jh. auseinander (63-84); Lia Brad Chisacof untersucht Thomas Hopes Roman „Anastasius“ (,Ancient Greece, Byzantium or Ottoman Empire“, 85-112); Tassos A. Kaplanis die positive Haltung von Kazantzakis gegenüber dem monotonischen Schreibsystem des Griechischen (113-127); Charalambos Bambunis analysiert das erste Studentenperiodikum der Universität Athen im 19. Jh. namens „Φοιτητής“ („El periòdico Fitítís. El primer paso periodístico de los estudiantes de la Universidad de Atenas“, 129-138); Miguel Castillo Didier beschäftigt sich mit der orthodoxen Gemeinde von Konstanti nopel (139-149); Philip J. Carabott mit den religiösen Minderheiten in Griechenland nach der Nationswerdung („From Exclusion to Inclusion: The Religious ,Other1 in Greece of the 1820s and 1830s“, 151-165). Bereits ins 20. Jh. fuhrt uns Hagen Fleischer („The Scramble for Culture Supremacy in Greece. Great Power Campaigns on Neutral Grounds, 1936-1940“, 167-180); Nikolaos Kalospyros beschäftigt sich mit Korais („On the Shoul der of Giants. Appraising the Criterion of Divinaţie in the Cases of Adamance Coray and A. E. Housman“, 181-201). Athanasia Glykofrydi-Leontsini widmet ihren Beitrag der neugriechischen Ästhetik (203-223); Cristiano Luciani setzt sich mit dem ersten neugrie chischen Roman, „Leandros“ von Panagiotis Sutsos, auseinander (225-241). Damit ist der Reigen der Beiträge zur neugriechischen Prosaliteratur eröffnet: Es folgen Henri Tonnet zum „Ermilos“ (1817) von Michail Perdikaris (243-260); V. Hatzigeorgiu-Chasioti zum Piratenroman von Stefanos
Xenos zwischen Realität und Fiktion (261-281); Anna Zimbone bringt eine italienische Übersetzung der Novelle „Die Hexen des Mittelalters“ von Emmanuil Roïdis (283-305); die in Neapel verfassten italienischen Gedichte von Georgios Choraras beschäftigen Konstantinos Nikas (307-326); Kazantzakis’ Gedichtübersetzungen von zwei spanischen Dichterinnen Maria Caracausi (327-348); E. Stavropulu analysiert griechische Kriegsromane (349-363); Sonia Ilinskaja-Alexandropulu Gedichte von Giannis Ritsos (365-378); Georgios Papantonakis dessen Kindergedichte (379-404); Eratosthenis G. Kapsomenos das poetische Werk von Kostas Vamalis (405-420); Fremd bilder bei G. P. Pieridis und Stratiš Tsirkas untersucht Luiza Christodulidu (421-432); mitTsirkas beschäftigt sich auch P. G. Konstantopulu (433-442); Georgia Ladogianni mit dem Prosawerk von Nikos Chuliaras (443-456). Drei Beiträge sind den Romanen von Rea Galanaki gewidmet: Fatima Elóeva zu ihrem Orientbild (457-474), Kyriaki Chrysomalli-Henrich zu „Feuer des Judas, Asche des Ödipus“ (475-496), ebenso wie Walter Puchner (497-518). Es folgen noch Studien zum Gedichtwerk von Ilias Kefalas (G. Freris, 519-532) und zur Logik der Faktizität im postmodernen Theater (Giorgos Pefanis, 533-549). Den Band beschließen die Resümees sowie die TabuԽgratuUtoria. Der Geehrte mag sich über dieses schwerwiegende Geschenk wohl freuen. Die hispanophone und baskische Neogräzistik zeichnet sich durch Dynamik und intensive Produktivität aus. Davon legt auch der andere zu besprechende Band Zeugnis ab, der nur in elektronischer Form als CD zirkuliert. Er beginnt
mit Ioannis K. Chasiotis über die Prä senz der Griechen in Spanien (19-38), gefolgt von Javier Alonso Aldama über das Projekt einer Übersetzung des „Digenes Akrites“ ins Spanische (39-50); über M. K. Didier spricht Kostas Asimakopulos (51-54), über Griechen im spanischen Bürgerkrieg Charalambos Babunis (55-66). Es folgen Beiträge zur spanischen Translation von Andreas Karkavitsas (67-76), zur Lorca-Rezeption im griechischen Theater (77-90), zum spanischen Reisebuch 572 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen von Kazantzakis (91-102), zum Vergleich des „Digenes Akrites“ mit dem „Cid“ (103-114), zu den Gedichten von Kostas Uranis in Portugal (115-122), Kazantzakis’ Beschreibung der Hinrichtung Lorcas (123-152), zum Todesmotiv in griechischen und spanischen Volks liedern (153-166), zur Beschreibung der Hinrichtung von Griechen in Kleinasien in den Notizen von Angela Graupera (167-174), zum lexikographischen Projekt eines Wörterbuchs von Literaturtermini in Griechisch, Englisch und Spanisch. Die Themenvielfalt der Bei träge erlaubt nicht einmal die reine Aufzählung. Unter den weiteren Studien, durchweg in Griechisch oder Spanisch verfasst, erheischen besondere Aufmerksamkeit: K. Georgiadi zur Rezeption spanischer Dramatiker im griechischen Theater, Henrichs Zuschreibung des „Tzamplakos“ zu Pikatoros (Kryptosphragide), der Vergleich von Ritsos mit Pablo Neruda, zum Spanien-Bild von Kostas Uranis, die Rezeption von Lope de Vegas „Fuentovejuna“ in Griechenland, die Einflüsse von Lorca auf die Dichtung Gatsos’, Nikos Kazantzakis über Südamerika, der griechische Bürgerkrieg in den Augen der Franco-Diktatur usw. Wohl kaum ein anderes europäisches Land kann im Augenblick einen Neogräzistik-Kongress mit derart breiten und unterschiedlichen Themenstellungen organisieren. Die beiden umfangreichen Bände stellen, zusammen mit ihrer internationalen Beteili gung, einen überaus positiven Leistungsausweis der spanischen (und südamerikanischen) Neogräzistik in ihrer internationalen Vernetzung dar. Athen, Wien Walter Puchner The Gypsy „Menace“. Populism and the New Anti-Gypsy
Politics. Hg. Michael Stewart. London: Hurst Company 2012. 382 S., ISBN 978-1-84904-220-8, £ 14,99 Dass sich brave Bürger von „Zigeunern“ bedroht fühlen, zieht sich wie ein roter Faden durch die neuere europäische Geschichte, und dass Politiker gerne mit diesem Bedrohungs gefühl spielen, wenn sie in der Wählergunst punkten müssen, haben nicht zuletzt Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy auf eindringliche Weise unter Beweis gestellt. Diesem Phänomen wollte sich eine Konferenz stellen, die im September 2009 am University Col lege London vom Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR/ ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) durchgeführt worden ist. Hat sie aber nicht. Die Tagungsbeiträge liegen nun trotzdem in diesem Band vor. Dabei geht es aber weder um eine historische Herleitung dieses Bedrohungsgefühls noch um eine sozialwissenschaftliche Analyse dieses Phänomens. Faktisch handelt es sich noch nicht einmal um einen Beitrag zum Verständnis dieses in der Tat wesentlichen und noch unge klärten Komplexes. Vielmehr ist der Untertitel ernst gemeint. Der Herausgeber Michael Stewart geht nämlich davon aus, dass die angerissenen Ereignisse als eine neue Form des Antiziganismus („anti-gypsyism“) - ein Neologimus mit zweifelhaftem Erklärungswert, der als Analogon zu Antisemitismus erschaffen worden ist —, als ein Charakteristikum Südost-Forschungen 72 (2013) 573
Kunstgeschichte, Volkskunde rechtspopulistischer Parteien und somit angeblich als ein gänzlich neues und zudem euro paweites Phänomen dargestellt werden können. Dies leitet er auf annähernd 50 Seiten (XIII-XXXVIII, 3-23) mühsam her. Die Beitragenden erweisen ihm jedoch nicht die Gunst, dies auch zu untermauern, sondern schreiben in den 14 Beiträgen - manchmal näher am Thema, mitunter aber auch ziemlich weit daran vorbei -, die zum überwiegenden Teil sozial engagierte Reportagen und nur in Einzelfällen auch ansatzweise wissenschaftliche Analysen darstellen, das, was sich Antiziganismusforscher nennende Publizisten halt veröffentlichen. Im wahrsten (und gar nicht mal negativen) Sinne des Wortes einseitige Beschreibungen, die - von einer noch hervorzuhebenden Ausnahme abgesehen — allein die Perspektive der Nichtzigeuner wiedergeben, als wäre die Darstellung der Roma und anderer Zigeunergruppen als ewige Opfer eine hinreichende Beschreibung ihrer soziokulturellen Situation. Dass auch Roma durchaus in der Lage sind, ihr Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten, blitzt nur gelegentlich einmal auf. Die Beiträge, die ausnahmslos viel zu lang geraten sind (als hätte es diesbezüglich eine verbindliche Vorgabe gegeben) und jeweils mit der Hälfte an Text ausgekommen wären, ohne inhaltliche Abstriche vornehmen zu müssen, leiden fast ausnahmslos an einem Makel, der so typisch ist für Texte dieses Genres: Die Autoren sind engagiert, bemüht ֊ und ahnungslos. Zwar versichert der Herausgeber: „The contributors to this volume, who all have years of experience working with Romany
populations in different parts of Europe, provide evidence for these claims [.]“ (XIV). Diese Behauptung wirkt jedoch frech, zweifach frech, da einerseits die Beweise für Stewarts Behauptung nicht geliefert werden (können) und andererseits annähernd alle Autoren eine derart große Distanz zu den „gypsies“ (keiner der Autoren ist in der Lage, zwischen Roma und den vielen anderen angesprochenen Zigeunergruppen zu unterscheiden) an den Tag legen, die nicht gerade von einer Kenntnis der betroffenen Menschen zeugt. Roma und andere Zigeuner scheinen ihnen vielmehr gleichermaßen fremd zu sein wie (dem Normalbürger) die Heisenbergsche Unschärferelation oder die 3. Binomische Formel. Allein weil sich die Mehrheit der Autoren nur oberflächlich und erst seit Kurzem, seit Antiziganismusforschung zur Mode avanciert ist, mit der Thematik beschäftigt, erscheinen ihnen die hinter diesem Begriff verborgenen Phänomene als etwas Neues. Doch bei näherer Betrachtung ist (fast) alles altbekannt. Neben einem Aufsatz von Britta Schellenberg („Strategies for Combating Right-Wing Populism and Racism: Steps Towards a Pluralist and Humane Europe“, 265-279), der ganz allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Parteien gibt und im Kontext dieses Buches eigentlich unpassend erscheint, enthält das Buch 13 Länderstudien aus dem Bereich der Europäischen Union, die räumlich allerdings recht unterschiedlich verteilt sind. Dass allein Ungarn fünf Mal vertreten ist und mit der Tschechischen Republik (zwei Beiträge), Rumänien und Bulgarien das Schwergewicht auf den neuen
Mitgliedsstaaten liegt, verdeutlicht, dass die Beweisführung so nicht gelingen kann. Die vier Beispiele aus alten EU-Mitgliedsstaaten (Italien, Österreich, Großbritannien und Frankreich) sind für die Stützung von Stewarts These, bei dem angesprochenen ,An- 574 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen dziganismus“ handele es sich um ein Phänomen, das in Ost wie West dieselben Ursachen und die gleichen Ausprägungen habe, zudem völlig ungeeignet. Dabei ragt zunächst der Beitrag von Ilsen About („Underclass Gypsies: An Historical Approach on Categorisation and Exclusion in France in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, 95-114) hervor (allerdings nicht gerade in positiver Weise), da er sich als einziger nicht mit südosteuropäischen Roma beschäftigt: Aufhänger ist zwar Sarkozys Ausweisungspolitik gegenüber rumänischen und bulgarischen Roma-Migranten, es folgt aber im Hauptteil eine artige Nacherzählung der aus vielerlei Publikationen hinlänglich bekannten französischen Politik gegen Fahrende zwischen 1895 und 1930. Doch zu welchem Zweck? Zum Vergleich? Fragestellung und mögliche Schlussfolgerungen bleiben unklar, die völlige Unkenntnis der verschiedenen in Frankreich lebenden Zigeunergruppen verhindert Erkenntnisse über diese wie auch über die Einstellungen und die Politik gegenüber diesen. Die anderen drei westeuropäischen Aufsätze beschäftigen sich wenigstens proforma mit Roma-Migranten, auch wenn sie nur bedingt zur Beantwortung der vom Herausgeber vorgelegten Fragestellung beitragen. Stefan Benedik, Wolfgang Goderle und Barba ra Tiefenbacher („Cucumbers Fighting Migrations: The Contribution of NGOs to the Perception ofTemporary Romany Migrations from Medovce-Metete/Slovakia“, 217-239) beschreiben recht anschaulich die Reaktionen 1.) der Medien, 2.) der Kommune und 3.) von zwei ausgewählten Nichtregierungsorganisationen auf Bettler in Graz. Auch die
Analyse der Tätigkeiten der beiden NRO ist gar nicht schlecht, doch da die Autoren nicht wissen, über wen sie schreiben, bleibt der Beitrag weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Sobald im 3.Teil über die Aktivitäten der NRO gesprochen wird, geht es nur noch um ungarisch sprachige Zigeuner in und aus der Slowakei, obwohl die (mutmaßlichen) bosnischen Horahané (von den Autoren nicht als solche erkannt) einen wesentlichen Teil in der Beschreibung der Medienberichterstattung gespielt haben. Diese fallen nun aber kommentarlos aus der Betrachtung heraus. Die fachliche Inkompetenz wird dabei besonders daran deutlich, dass die Autoren ֊ als wäre es der politischen Korrektheit nicht schon genug - die „ethnische Bezeichnung“ gendern (wie dies auf Neudeutsch gerne genannt wird) und penetrant von „Roma / Romnija“ sprechen. Dabei wird das Nomen „Roma“ als die Pluralbildung von rom (m. sg. = Mann, Ehemann, Zigeuner) missinterpretiert, obwohl es sich um ein generisches Maskulinum und somit ein Ethnonym als Selbstbezeichnung (Endonym) handelt und die Autoren daher — für Roma völlig unverständlich — laufend von „Zigeunern und Ehefrauen“ faseln und dies, obwohl es sich um „Hungarian speaking Romany men“ (231) handelt, die höchstwahrscheinlich gar nicht die Eigenbezeichnung „Roma“ führen (und daher sicherlich auch nicht die weibliche Form romnija kennen). Im Gegensatz zu den anderen westeuropäischen Beispielen ist der Beitrag von Giovanni Picker über Italien („Left-Wing Progress? Neo-Nationalism and the Case of Romany Mi grants in Italy“, 81-94) recht nah am Thema, da wenigstens die
Einstellung von Politikern gegenüber „Roma“, die in den sogenannten „campi nomadi“, meist illegalen Wohnwagenund Barackensiedlungen auf kommunalem Grund oder Industriebrachen, leben, berührt wird. Zur Stützung der These des Herausgebers taugt dieses Beispiel aber auch nicht, da die Kommunalpolitik in der Region Toskana und hauptsächlich der Stadt Florenz beschrieben wird, die seit 1970 von Linksparteien regiert werden. Da der Autor aber nicht zwischen Sücii Kst-Forsch un gen 72 (2013) 575
Kunstgeschichte, Volkskunde italienischen Sinti und/oder Roma und aus Jugoslawien stammenden Roma (und somit Ausländern!) zu unterscheiden vermag, was für die Beurteilung der „Zigeunerpolitik“ (oder handelt es sich doch „nur“ um Ausländerpolitik?) aber von ganz entscheidender Bedeutung wäre, bleibt der Beitrag alles in allem belanglos. Schwer verdaulich ist auch der Bericht von Colin Clark und Gareth Rice („Spaces of Hate, Places of Hope: The Romanian Roma in Belfast“, 167-190) über etwa 20 rumänische Roma-Familien in Belfast, die von protestantischen Jugendlichen angegriffen wurden und daraufhin Nordirland (teilweise allerdings nur zeitweilig) verlassen haben. Die Autoren stützen sich auf die Medienberichterstattung und haben keine eigene empirische Erhebung durchgeftihrt. Daher werden auch weder die Sichtweise der Roma noch diejenige der Jugend lichen wiedergegeben. Als Beispiel für Antiziganismus ist der Vorfall auch nicht tauglich, da es sich bei der beschriebenen Gruppe um die ersten Roma-Migranten in Belfast gehandelt hat und es daher weder vorangegangene Ereignisse noch Vergleichsmöglichkeiten gibt. Die Beispiele aus den ehemaligen Ostblockstaaten sind dann schon prägnanter, wobei aber der mit Abstand beste Beitrag eigentlich gar nichts mit dem Thema zu tun hat. Bei dieser hervorhebenswerten und wohltuenden Ausnahme, dem Aufsatz von Kata Horváth („Silencing and Naming the Difference“, 117-135) über ethnische Grenzziehungen in einem ungarischen Dorf und den Aufbau exklusiver und stabiler sozialer Kategorien, handelt es sich um die Ergebnisse einer Feldforschung. Die
Freude über diesen kleinen Lichtblick wird aber durch die üblichen Mängel wieder etwas getrübt. Es wird nicht deutlich gemacht, um welche Menschen es sich bei den als „gypsies“ bezeichneten Personen handelt (Roma? Angehörige der Unterschicht? Fremdsprachige Minderheit?) und aus welchen Gründen sie ausgegrenzt werden. Hinzu kommen die üblichen Redundanzen. Imtierenderweise wird dasselbe Thema in einem weiteren Beitrag noch einmal aufge griffen: Cecília Kovai („Hidden Potentials in .Naming the Gypsy“: The Transformation of the Gypsy-Hungarian Distinction“, 281-294), die offensichtlich gemeinsam mit Kata Horváth eine Feldforschung in demselben Ort durchgeführt hat, betrachtet dasselbe Thema auf einer allgemeineren Ebene, aber weit weniger souverän und mit erheblichen Verständ nisproblemen bei der Durchdringung der Materie. Einen Erkenntnisgewinn liefert diese Aufwärmung des bereits Gesagten ohnehin nicht und trägt nur dazu bei, dass Ungarn bei den Länderbeispielen überrepräsentiert ist. Eine empirische Basis hat auch das rumänische Beispiel von Stefánia Toma („Segregation and Ethnie Conflicts in Romania: Getting Beyond the Model of,The Last Drop““, 191-213) geliefert, aber merkwürdigerweise keine empirischen Befunde. Der Beitrag ist theorielastig und bietet keine Erklärung für „Zigeuner-feindliche“ Strömungen in Rumänien. Immer hin - der Leser wird mit der Zeit notgedrungen bescheiden - berührt der Artikel aber das vom Herausgeber vorgegebene Thema. Mehrere Beitragende haben sich diesbezüglich mehr Mühe gegeben: Georgia Efremova („Integrálist Narratives and Redemptive Anti-
Gypsy Politics in Bulgaria“, 43-66) leistet mit ihrer anschaulichen Darstellung der „National Guard“ in Bulgarien und deren Hetze gegen Roma zweifelsohne denjenigen Beitrag, der den Vorgaben des Herausgebers am nächsten kommt. Leider werden aber die gesellschaftlichen Wirkungen nicht berücksichtigt. Auch Gwendolyn Albert („Anti-Gypsyism and the Extreme-Right in the Czech Republic 576 Südost-Forschungen 11 (2013)
Rezensionen 2008-2011“, 137-165) bemüht sich, etwas zum Thema beizutragen und berichtet über die Propaganda der Neonazis und gewalttätige Übergriffe gegen Roma in der Tschechischen Republik. Wiederum recht interessant und aufschlussreich ist János Zolnays („Abusive Language and Discriminatory Measures in Hungarian Local Policy“, 25-41) Beschreibung über die Segregation der Roma mit Hilfe des ungarischen Schulsystems. Karel Cada („So cial Exclusion of the Roma and Czech Society“, 67-79) referiert über die weitverbreitete Ablehnung von Roma in der tschechischen Gesellschaft und die diesbezüglichen Aktivitäten einer nicht besonders erfolgreichen rechtsradikalen Partei, versteht es allerdings nicht, beide Erzählstränge zueinander in Beziehung zu setzen. Schließlich sind die beiden zusätzlichen Beiträge über Ungarn wenig erhellend. Lídia Balogh („Possible Responses to the Sweep of Right-Wing Forces and Anti-Gypsyism in Hungary“, 241-263) und András L. Pap („Dogmatism, Hypocrisy and the Inadequacy of Legal and Social Responses Combating Hate Crimes and Extremism: The CEE Experience“, 295-311) bemühen sich zwar redlich zum Thema beizutragen, lassen den Leser aber etwas ratlos zurück. Werden Vorzüge und Nachteile dieses Sammelbandes gegeneinander aufgewogen, so fallen trotz einiger recht interessanter und guter Beiträge die negativen Seiten doch unangenehm deutlich auf. Dass die These des Autors nicht bestätigt wird, ist dabei letztlich einerlei. Sie hätte nur nicht so vollmundig angekündigt werden sollen. Auch hätte vor dem Hintergrund der Qualität vieler Beiträge ein
wissenschaftlicher Anspruch nicht erhoben werden sollen. Ärgerlich ist jedoch die Überlänge des Buches (mit Anmerkungen 390 Seiten Text!) und jedes seiner Einzelbeiträge, die durchweg durch ständige Wiederholungen und nichtssa gende Plaudereien aufgebläht werden und die Lektüre dadurch sehr mühsam (und bei den weniger interessanten Reportagen auch unerfreulich) machen. Zwar soll dem Herausgeber nicht unterstellt werden, das Buch sei mit Absicht in dieser Weise konzipiert worden, um die Geldgeber davon abzuschrecken, es zu lesen. Die Publikation dürfte den geringsten Teil der Gesamtkosten der Tagung ausgemacht haben. Aber - und das ist der wesentliche Punkt - es muss die Frage erlaubt sein, ob die Mittel für die Tagung und die Publikation des Tagungsbandes - immerhin hat es sich um öffentliche Mittel und letztendlich Steuergelder gehandelt (wenn auch im Vergleich zum Gesamtetat des ODIHR in äußerst bescheide ner Höhe) - nicht sinnvoller hätten eingesetzt werden können, in eine gehaltvolle und problemorientierte Forschung zur Frage, warum Roma (und vergleichbare Minderheiten) ausgegrenzt werden - beispielsweise. Da das Büro für demokratische Institutionen und Men schenrechte nicht gerade zu den üblichen Institutionen der Wissenschaffsförderung zählt, hätte andererseits - eine vor dem Hintergrund der derzeitigen NGO-Struktur illusionäre, fast revolutionäre Forderung - das Geld auch den Betroffenen respektive einem kleinen Teil derselben zugute kommen können, z. B. den Angehörigen der Opfer „antiziganistischer“, in jedem Fall aber rassistischer Gewalt in Ungarn. Denn dieses
Buch erreicht sicherlich keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Diese wäre aber nötig, um die angesprochenen Probleme zu lösen und auf eine Gleichstellung und Gleichberechtigung der Roma und aller anderen Zigeuner genannten Minderheiten hinzuwirken. Bonn Südost-Forschungen 72 (2013) Marco Heinz 577
Kunstgeschichte, Volkskunde Farkas-Zoltán Hajdú, Tiir nach Osten. München: IKGS Verlag 2008.146 S., zahir. Anm., ISBN 978-3-9811694-1-6, € 14,50 Ziel des Buches von Farkas-Zoltán Hajdú ist, den Leser in die Welt eines Teils von Siebenbürgen zu führen. Die versammelten Texte verbinden einen lebhaften Wechsel der Erzählstandpunkte, eine genaue historische Beschreibung, ironische Mitteilungen, ethnogra fische Erläuterungen und philosophische Beobachtungen. Die Zielsetzung von Farkas-Zoltán Hajdú ist komplex: die Lebensweise der Szekler aus dem südöstlichen Siebenbürgen und den Ostkarpaten soll erfasst werden, indem der Autor ein zusammenfassendes Bild sowie eigene Betrachtungen und Meinungen über einen Teil der madjarischen Volksgruppe präsentiert. Die Denkweise, der Inhalt und die Mitteilungen des Autors basieren hauptsächlich darauf, dass er selbst zu der besagten Volksgruppe gehört und ein ausgewiesener Kenner seiner Herkunftslandschaft ist. Das Buch von Farkas-Zoltán Hajdú ist belehrend und unterhaltsam zugleich; der Autor erfasst die in sich geschlossene und traditionelle Denkweise der Szekler, und ergänzt seine Überlegungen zuweilen mithilfe mancher humorvollen Erzählung. Farkas-Zoltán Hajdú verteilt seine Geschichten auf fünf Kapitel, und jedes Kapitel be schäftigt sich mit einem Aspekt seiner Erinnerungen. Das Buch wird von einem Vorwort von Hans Bergei eingeleitet. Darin findet man eine kurze Darstellung des Autors und des Buches sowie dessen Entstehungsgeschichte. Hans Bergei, 1968 aus Rumänien in die Bun desrepublik emigriert, kennt sowohl die Geschichte des
europäischen als auch das Gefühl der Trennung von den eigenen Wurzeln, von Herkunft und Dasein in einer neuen, fremden Welt. So versteht er Motivation und Facetten des Schreibens von Farkas-Zoltán Hajdú sehr gut. Das 1. Kapitel des Buches trägt den Titel „Menaság“ (der Name eines Dorfes in der Region) und beschäftigt sich mit der verschwindenden Bauernwelt Siebenbürgens. Der Autor beweist seine essayistische Begabung, wenn er die Landschaft beschreibt und Bilder aus seinem eigenen Leben entwirft. Die Geschlossenheit und Selbstsicherheit dieser Welt erscheint in einem knappen Satz: „Ich verbrachte die ersten zwanzig Jahre meines Lebens dennoch in dieser warmen, Sicherheit verbreitenden, aber beschränkten Welt“(ll). Der Autor wird immer zwischen zwei Aspekten des Daseins hin- und hergerissen: zwischen dem sicheren, bekannten, gewöhnlichen Leben und der Beschränktheit und manchmal belastenden Strenge der Existenz. Farkas-Zoltán Hajdú sucht den Standort des Szeklertums im kulturellen Universum der Ungarn, analysiert die problematischen Aspekte von Sitten und Gebräuchen, beschreibt das Pendeln vom Dorf in die Stadt („Im Bus hatte auch das Sitzen eine eigene Hierarchie“, 27). Geschäfte, Freundschaften und Liebesbeziehungen treten vor uns hin (obwohl der Autor auf S. 74 prägnant zusammenfasst, dass „ein großer Teil der jungen Leute nicht aus Liebe heiratete“). Die Geschichte Menaságs spielt eine wichtige Rolle für die Darstellung. Die qualvollen Wochentage werden zusammen mit glücklichen Feiertagen veranschaulicht, und am Ende des Kapitels formuliert der Autor eine Art
Zusammenfassung und Mahnung: „Wenn wir aufeinander Acht geben, können wir einander finden“ (86). Im 2. Kapitel mit dem Titel „Exodus?“ findet der Leser ein narratives Mischgenre: Erin nerungen wechseln sich ab mit der Schilderung des Lebens von außerhalb, einer Welt der Kindheit und Jugend. Diese Welt verlor der Autor, und widmet sich ihr gerade deswegen 578 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen sehr eingehend. In diesem Teil von Europa lebt man mit dem Gefühl, „am falschen Ort zur Welt gekommen“ (92) zu sein, aber „schweren Herzens trennt man sich von bekannten, eingeübten, eingefahrenen Leiden“ (104). Das „Nirgendwohingehören“ lastet schwer auf Farkas-Zoltán Hajdú, und schließlich bedeutet Exodus doch keine Freiheit. Das 3. Kapitel trägt den Titel „Kretisches Tagebuch“. Die Erzählung über den Ausflug des Autors mit einem Freund ist in helleren Farben gemalt; trotzdem fehlt bei der Landschafts beschreibung die Ironie keineswegs. Die scharfe Beobachtungsgabe von Hajdú lässt keine Einzelheiten außer Acht, schildert die innersten Erlebnisse und liest sich folgendermaßen: Die Kreter seien im Übrigen ebenfalls die größten Künstler darin, rein geschäftliche Inte ressen in „aufrichtige Gefühle“ zu verpacken (119). Das 4. Kapitel mit dem Titel „Zeitige Abreise“ stützt sich zum Großteil aufdie Erzählung eines Freundes. Der Freund mit dem Namen Ovidiu D. versucht in einer Kleinstadt am Neckar mit seiner Frau Wurzeln zu schlagen, zugleich aber möchte er seine Doktorarbeit in Klausenburg abschließen. Verzweiflung, Bestrebungen und Arbeitsbemühungen des Freundes, ebenso die rumänische Bürokratie mit ihren Fußangeln, werden von Farkas-Zoltán Hajdú mit bittersüßem Humor geschildert, und über das Ergebnis der Doktorstudien er fahren wir: „Mein lebenspraktischer Freund Ovidiu schmückt seine Visitenkarte mit einem elegant designten Dr. phil., und über Heimweh klagt er seither auch nicht mehr“ (133). Das letzte Kapitel ist der Tochter gewidmet und schildert ein
„Begräbnis in Hermann stadt“. Der Leser kehrt damit nach Siebenbürgen zurück, zu einem seltsamen moslemischen Begräbnis in Hermannstadt und zum katholischen Leichenschmaus des Stiefschwiegervaters von Farkas-Zoltán Hajdú. Das Buch soll den Lesern als Wegweiser zur Literatur über Siebenbürgen dienen. Die Popularität einer deutschen Literatur außerhalb Deutschlands ist nicht gering, trotzdem ist es nötig, den Inhalt, die Ausdrucksweise, die Symbolik und vielleicht einige Aspekte der Sprache dieses Werks dem Leser zu erschließen. Die philosophischen, kulturellen und religiösen Ideen, die im Buch von Farkas-Zoltán Hajdú auftauchen, bereichern die Welt anschauung des Lesers. Der Autor von „Tür nach Osten“ wird hoffentlich nicht nur von Germanisten wahrgenommen werden, auch das breite Publikum braucht die Möglichkeit, alle Aspekte mit den Augen eines Wissenschaftlers, eines Kenners der Region zu betrachten und einige persönliche Überlegungen des Autors kennenzulernen. In der ungarischen Literatur über Siebenbürgen genießt Farkas-Zoltán Hajdú eine wohlverdiente Popularität, aber im Rahmen der deutschen Literatur ist er wenig bekannt, obwohl der gebürtige Siebenbürger seit 1987 in Heidelberg lebt. Neben einer erfolgreichen akademischen Laufbahn (1998 Promotion zum Dr. phil. an der Babeş-Bolyai-Universitât Klausenburg, Herausgabe einer deutschsprachigen Anthologie mit dem Titel „Siebenbür gen - Magie einer Kulturlandschaft“ 1999,1 Übersetzung des Romans „Der geköpfte Hahn“ von Eginald Schlattner ins Ungarische 20062) kann Farkas-Zoltán Hajdú auch Erfolge im Film aufweisen: 2005
hat er bei der Ungarischen Filmwoche in Budapest den Preis für den besten Dokumentarfilm mit seinem Werk „Az árulás“ (Der Verrat) erhalten. „Tür nach Osten“ von Farkas-Zoltán Hajdú ist 2008 München im IKGS Verlag er schienen. Das Buch präsentiert aus interessanten Gesichtspunkten heraus das Leben in einem abgegrenzten Teil Siebenbürgens, seine Sprache ist ein Ergebnis anspruchsvoller Südost-Forschungen 72 (2013) 579
Kunstgeschichte, Volkskunde wissenschaftlicher Forschung und essayistischer Darbietung. Die gesammelten Texte des Erzählbandes bieten dem Leser eine ethnographisch fundierte Erläuterung einer sich im Umbruch befindenden Region. Cluj-Napoca Anita-Andrea Széli 1 Farkas-Zoltán Hajdú/Lajos Kántor/ Gyöngy Kovács Kiss/Sabine Spors (Hgg.), Siebenbür gen — Magie einer Kulturlandschaft. Sandhausen 1999. 2 Eginald Schlattner, Fejvesztett kakas. Kolozsvár 2006. Rea Kakampura, Αφηγήσεις ζωής. Η βιογραφική προσέγγιση στη σύγχρονηΤαογραφική έρευνα [Lebenserzählungen. Biographische Zugänge zur rezenten volkskundlichen Forschung], Athen: Atrāpos 2008. 503 S., zahir. Tab., ISBN 978-960-459-045-2, €27,50 Der von Michalis G. Meraklis eingeleitete Dokumentationsband zum Archiv oraler Lebenserzählungen in der pädagogischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Athen stellt gleichzeitig eine leicht fassliche methodische Einführung in die orale Autobiographik dar, die in konzentrischen Schritten vom Allgemeinen zum Speziellen überleitet. Wie Meraklis im Vorwort hervorhebt (13-27), ist dies die 2. Monographie der Verfasserin, die sich rezenten Phänomenen der Volkskultur widmet. Die 1. Monographie handelte von Lokalvereinigungen der Bewohner des epirotischen Kreises Konitsa (nahe der albanischen Grenze) in der griechischen Hauptstadt Athen.1 Die Autobiographie-Forschung und die mündlichen Lebensschilderungen zählen auch in Griechenland und Zypern nach wie vor zu den beliebtesten Zweigen der rezenten Feldforschung, und diesbezüglich sind in den letzten Jahren umfangreiche Archive
entstanden. Der 1. Teil der Monographie geht auf die biographische Forschung in den Sozialwissenschaften ein (31-105), zuerst im internati onalen Bereich: die Autobiographie als Literaturgattung; die ersten biographischen Zugänge in der Sozialanthropologie schon im 19. Jh.; soziologische Zugänge (Schule von Chicago); historische Zugänge zu den mündlichen Lebenserzählungen; der Verständniswandel im Jahrzehnt nach 1990, der das erzählende Subjekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt; psychoanalytische Zugänge; kulturwissenschaftliche Ansätze; therapeutische Anwendungen der Methode in der Gerontologie; und schließlich Autobiographik als Sozialpolitik. Es folgen ein Kapitel, das die bisherigen Forschungen zur oralen Autobiographik in Griechenland vorstellt,2 sowie ein Kapitel zu den Lebenserzählungen in der Volkskunde. Dieser eher theoretisch-historische Abschnitt ist ausgezeichnet dokumentiert und mit umfassenden bibliographischen Verweisen versehen. Der 2.Teil (109-205) berichtet über die Entstehung des Archivs der Lebenserzählungen in der Pädagogischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Athen und bietet ausführliche statistische Auswertungen des gesammelten Materials. Das 1. diesbezügliche Kapitel enthält systematische Angaben über Zielsetzung, Methodik, Interviewtechniken, Vorbereitung, Ort und Zeit der Befragungen, die Haltung der Interviewer und die Tran580 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen skription der Aufnahmen. Das 2., weit ausführlichere Kapitel enthält die statistische Aus wertung nach folgenden Kriterien: soziales Umfeld (Alter, Religionszugehörigkeit, Anzahl der Geschwister, Bildungsstand, eigener Beruf sowie derjenige von Eltern und Kindern), Geschlecht, Befragungstechnik (freies Interview, Interview mit Fokussierung auf den Beruf, verschiedene Formen des Fragebogeninterviews bzw. des Informationsgesprächs, Interview mit Konzentrierung auf Kindheitserinnerungen), nach Maßgabe des Geburtsortes und des derzeitigen Wohnsitzes (Ruralraum, rural-bürgerliches Milieu, provinzbürgerliches Milieu, Umsiedlung in die Hauptstadt, urbanes Milieu, Emigration ins Ausland) sowie nach geographischem Herkunftsraum (Peloponnes, Festgriechenland, Athen, Thessalien, Epirus, Kreta, Zypern). Ein abschließendes Kapitel geht auf die interdisziplinären Zugänge zu diesem Erzählmaterial ein. Der 3. und umfangreichste Teil ist dem Anhang Vorbehalten (209-471): Hier werden zuerst die Formblätter und Anleitungen für die Interviews (die von Studierenden vorge nommen worden sind) vorgestellt und anschließend eine große Auswahl der Texte selbst. Diese Texte sind z.T. eine spannende Lektüre, manchmal sind sie auch im Ortsdialekt gehalten (in diesem Fall wurden sie mit einem Glossar versehen). Die freien Erzählungen sind manchmal von überraschender Poesie und erstaunlicher Formulierungsgabe; andere Interviews sind dialogartig gehalten. In jedem Fall gewinnt der Leser den Eindruck, dass es sich lohnt, solche Texte zu sammeln und zu veröffentlichen, als subjektive Weltbilder
und Geschichtserlebnis, als Dokumente gesammelter Lebenserfahrung und -Weisheit oder auch als Protokolle eines Leidensweges, voller implizierter Werthaltungen, Lebensanleitungen und Ratschläge, meist mit nostalgischen Erinnerungsbildern aus der Kinderzeit, nicht zuletzt auch als volkskundliche Quellen für eine heute bereits inexistente Welt gemein schaftlichen (Über-)Lebens in einer lebensfeindlichen Realität. Dies alles wird gefiltert durch den zeitlichen Abstand einer fast epischen Distanz und gleichzeitig dramatisiert durch die persönliche Involviertheit der Protagonisten. Die fast literarischen Manipulationen der narrativen Strategien der Selbstinszenierung bzw. des Verzichts auf eine solche sind nicht zu übersehen. Den umfangreichen Band beschließt eine ausführliche Bibliographie (471-503). Was bleibt, ist die Lust auf mehr. Im internationalen Vergleich haben sich diese Lebenserzählungen ja bereits als gut verkäufliche Verlagspublikationen erwiesen, da der Leser meist an diesen subjektiven Vorstellungswelten der anderen und an den kollektiven Mentalitäten breiterer Gesellschaftsschichten emotional partizipiert und sich z. T. mit ih nen identifiziert. Die Autobiographien der Anderen betreffen den Leser in der einen oder anderen Form somit auch selbst. Athen, Wien Walter Puchner 1 Rea Kakampura-Tili, Ανάμεσα στοματικό κέντρο και τις τοπικές κοινωνίες. Οι σύλλογοι της επαρχίας Κόνιτσας στην Αθήνα. Konitsa 1999; vgl. meine Besprechung in Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LVI/103 (2000), H. 4, 567-569. 2 Vgl. im Deutschen auch Michails G. Meraklis, Orale
Biographien von Dorfbewohnern, in: Walter Puchner (Hg.), Studien zum griechischen Märchen. Wien 1996, 209-216; und ders., Lebenserzählungen von messenischen Bäuerinnen, in: Puchner (Hg.), Studien zum griechischen Märchen, 217-222. Südost-Forschungen 72 (2013) 581
Kunstgeschichte, Volkskunde Λαϊκός πολιτισμός και έντεχνος λόγος (ποίηση - πεζογραφία - θέατρο). Bd. Ι-ΙΙ: Πρακτικά διεθνούς επιστημονικού συνεδρίου (Αθήνα, 8-12 Δεκεμβρίου 2010) [Volkskultur und Wortkunst (Dichtung - Prosa — Theater). Akten des internationalen Kongresses Athen 8.-12. Dezember
2010)]. Bd.3: Πρακτικά συμποσίου Ζαχαρίας Παπαντώνιου (Αθήνα, 12 Δεκεμβρίου 2010) [Akten des Symposiums zu Zacharias Papantoniu (Athen, 12. Dezember 2010)]. Hg. Giorgios Bozikas. Athen: Akademie Athen 2013 (Δημοσιεύματα του Κέντρου Ερεύνης της Ελληνικής Λαογραφίας, 30). 801, 722, 135 S., zahir.
Abb., ISBN 978-960-404-260-9 Im Gegensatz zu den zweibändigen Kongressakten der Tagung aus dem Jahre 2003 über den Gründer der neugriechischen Volkskunde „Nikolaos Politis und das Forschungszentrum für griechische Laographie“,1 die erst nach einem satten Jahrzehnt 2012 erschienen sind,2 ist dieser
dreifache, noch weit umfangreichere Kongressaktenband dank der Bemühungen des Herausgebers, der als vielversprechender Nachwuchswissenschaftler auf diesen Seiten schon vorgestellt werden konnte,3 dreimal so schnell publiziert worden. Die Themenstellung ist dem Bereich der „angewandten“ Volkskunde
entnommen,4 speziell der literarischen Ver wertung volkskultureller Fakten und Gegebenheiten in der neugriechischen Literatur seit 1880, dem Zeitpunkt wo die realistische Provinzliteratur den Themenbereich Volkskultur entdeckt und als stilistisches und thematisches Potential bis in die unmittelbare
Gegenwart in allen literarischen Sparten eine mehr oder minder bedeutende Rolle spielt, zwar nicht mehr als
versöhnliches und nostalgisch gefärbtes Landidyll im Stil der Provinznovelle und des Heimatromans, sondern auch naturalistisch-krass oder im Sinne der poetischen Ästhetik des Volksliedes bzw. des blanken Realismus oder grotesken Surrealismus des Schwanks. Die zahlreichen Beiträge sind alphabetisch nach Autorennamen geordnet, so dass spezifische Themenkreise von vornherein schwer auszumachen sind. Überdies gehen viele Beiträge auf ganz spezifische Literaturwerke ein, die außerhalb des hellenophonen Sprachbereichs wohl kaum bekannt sein dürften. In diesem Sinne seien hier nur thematische Fragestellungen angeführt, die ein weiteres Interesse beanspruchen dürfen. So etwa ist im 1. Band von Anti-Sprichwörtern in Athener Zeitungen die Rede (51-75), von der Pflanzenwelt in ekklesialen Texten (87-93), Angaben zur Volkskultur in den Dramenwerken des Kretischen Theaters im 16. und 17. Jh. (129142), von volkhafter Oralität im griechischen Nachkriegsfilm (143-157), von Wallfahrten und Pilgerreisen in literarischen Narrativen (159-183), von Literatureinflüssen auf erzählte Märchen (229-240), von Parolen im Fußbailstadion als originelle anonyme orale Kreationen (297-314). Weiters gibt es Beiträge zum Vampir-Motiv in der neugriechischen Literatur (413-423), zum Sprichwortgebrauch in der Hochliteratur (531-546), zur Dialektverwen dung (581-591), zum Surrealismus des Volkswortes (763-778) und vieles mehr. Der 2. Band bringt Beiträge zur Volkskultur in Vorstellungen des Kindertheaters (7183), zur metaphorischen Qualität der Volksliteratur (139-146), zur Materialkultur in der Literatur
(233-241), zu volkskulturellen Elementen bei den heutigen Theaterkostümen (243-254), zum Märchendrama im aktuellen neugriechischen Theater (291-305), der Bezie hung des Menschen zur Natur in der Literatur (503-519), Beiisar auf dem Schattentheater (585-608) usw. Die Reichweite der besprochenen Literaturwerke reicht vom Altertum 582 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bis zur Gegenwart und dokumentiert die diachronische Osmose zwischen Oralität und Literarizität. Die Beiträge, mit Fußnoten oder Endnoten und Bibliographie, sind nicht nur von der Thematik her so unterschiedlich, dass sie pauschal kaum beschrieben werden können, sondern auch von der Methode her und der Qualität: von impressionistischen Notizen bis zu ausgefeilten Kleinstudien ist hier alles zu finden, und es stellt sich freilich die Frage nach dem Sinn und Nutzen solcher Monster-Kongresse mit über 100 Referaten und ohne innere Binnenstrukturierung. Den Eindruck des unstrukturierten Zuviel kann auch die nur teilweise dokumentierte Round-table-Diskussion einiger Dichterpersönlichkeiten nicht auffangen (681-687). Unter diesen Vorzeichen kommt dem 3. Band, wesentlich schmaler und konzentriert auf die Literatenpersönlichkeit von Zacharias Papantoniu (1877-1940) und den literarischen „Gebrauch“ der Volkskultur in seinen Werken (Dichtung, Prosa, Drama), der Wert eines Gegenbeispiels zu. Besonders bekannt ist seine Dramatisierung des Lenorenmotivs im „Schwur des Verstorbenen“ (1929 in Athen aufgefuhrt, 1932 veröffentlicht), einer der vielen Dramatisierungen des Volksliedes vom „Toten Bruder“ auf der gesamten Balkanhalbinsel.5 Die beschränkte Anzahl der Referate bezieht sich auf die Satire in seinem Literaturwerk (41-47), auf die Rolle der Landschaft (49-61), seine politische Ideologie (63-70), seine Sozialphilosophie (71-90) usw. Es geht jedoch mehr um eine hommage als um einen literamrwissenschaftlichen Kongress. Abweichend von den Gesetzen der Kompensation ist das
Weniger nicht immer ein Mehr, umgekehrt das Zuviel nicht immer eine Steigerung von Viel (nach dem altgr. Sprichwort ούκ έν τώ πολλώ τό εύ). Doch dafür ist der gewissenhafte Redaktor dieser wahrhaft monströsen Bände nicht verantwortlich zu machen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Es handelt sich dabei um das ehemalige Griechische Volkskundearchiv, das Politis 1918 gegründet hat und das nach seinem Tod der Akademie Athen unterstellt wurde. 2 Ο Νικόλαος Πολίτης και το Κέντρον Ερεύνης της Ελληνικής Λαογραφίας. Athen 2012. 3 Vgl. Südost-Fonchungen 68 (2009), 733-735. 4 Zu diesem Begriff Walter Puchner, Εφαρμοσμένη λαογραφία. Ο λαϊκός πολιτισμός σε επιστήμες καί τέχνες. Athen 2013 (Λαογραφία, 10). 5 Vgl. ders., „Exkurs 1: Die Ballade vom toten Bruder“. Die Folklore Südosteuropas. Eine kom parative Übersicht. Wien, Köln, Weimar 2015. Nikos Maliaras, Βυζαντινά Μουσικά Οργανα [Byzantinische Musikinstrumente]. Athen: panas music 2007. 623 S., 207 teils farb. Abb. auf Tafeln, ISBN 978-960-7554-44-4, €45,Es handelt sich um eine vorbildlich minutiöse Quellenstudie des bekannten Musikwis senschaftlers der Universität Athen, der zuerst mit einer Dissertation zur byzantinischen Orgel hervorgetreten ist,1 sodann mit einer Monographie zu Volksliedmelodien bei Manolis Südost-Forschungen 72 (2013) 583
Kunstgeschichte, Volkskunde Kalomoiris2 und neuerdings mit einer Studiensammlung zur griechischen Musik und ihren Beziehungen zur europäischen.3 Das zu besprechende opus magnum ist jedoch von besonderer Relevanz für die Balkan-Musik und Instrumentenkunde sowie die Südosteuropa-Studien allgemeiner. Die Arbeit wertet sowohl byzantinische und arabische Schriftquellen aus sowie die Bildquellen der ekklesialen Ikonographie und der Handschriftenilluminationen. Dies wird im 1. Kapitel abgehandelt (33-63) — die Schriften des anonymen Alchemisten aus dem 11. Jh.,4 die arabischen Quellen5 sowie die Miniaturen in einer Auswahl von byzantinischen Codices: hier sind Flötenformen abgebildet (Querflöte, Doppelflöte usw.), Blasinstrumente in Klarinettenform, Dudelsack, Trompetenformen, Hörner, verschiedene Trommelformen, Klappern, Lauten und andere Zupfinstrumente. Kapitel 2 geht den Saiteninstrumenten nach (64-154): zuerst bei den Schriftquellen (Psalterien, Lexika), zur Problematik der Terminologie, geordnet nach Einzelinstrumenten; dann bei den ikonographischen Quellen (säkulare Abb., Buchmalerei, Pyxidenmalerei, Miniaturen, Bibelilluminationen aus mittel- und spätbyzantinischer Zeit), geordnet nach Einzelinstrumenten, die Situationen des Instrumenteneinsatzes; in einer Zusammenfassung die Identifizierung der Einzelinstrumente durch Schrift- und Bildquellen sowie der typolo gische Vergleich mit westeuropäischen und arabischen Musikinstrumenten. Kapitel 3 ist der byzantinischen Militärmusik gewidmet (155-266) : zuerst die Textevidenz in frühbyzantinischer Zeit (Blasinstrumente und
Schlagzeug, Stellung der Musiker in der Hierarchie, Terminologie usw.), dasselbe dann in den historischen Quellen der mittel- und spätbyzantinischen Zeit (auch auf den Flottenschiflfen, die Rolle der Musik bei Militärpara den und anderen Zeremonien, neue Instrumente im 13. und 14. Jh.); dann die Bildquellen, geordnet in chronologischer Reihenfolge (Bibelillustrationen, David-Darstellungen). Bei den Militärinstrumenten dominieren die Posaunenformen, Hörner und Trommelformen. Auch hier geht ein Anhang den bilateralen Einflüssen zu Westeuropa und dem arabischen Raum nach. Kapitel 4 fasst den Forschungsstand zur schon in hellenistischer Zeit nachgewiesenen vielpfeifigen Orgel zusammen (267-514).6 Dieser Abschnitt geht im Wesentlichen auf die Dissertation des Verfassers zurück und verfolgt die Rolle dieses Instruments im byzantini schen Hofzeremoniell und bei den Wagenrennen im Hippodrom bis ins Detail. Aufgrund von Zeremonienbüchern, Gesandtschaftsberichten und ähnlichem Schrifttum ist das Quellenmaterial besonders reichhaltig. Auch Musikautomaten werden hier beschrieben sowie Einzelzeremonien mit intensivem Musikeinsatz (vgl. die Liste der Orgelverwendung bei den Zeremonien im Jahreslauf und bei speziellen Gelegenheiten, 360-365), endlich auch der Rückgang des Orgelgebrauchs in der palaiologischen Zeit. Ebenfalls wird auch ein Vergleich mit dem Orgeleinsatz im Westen vorgenommen (376-382) sowie eine mu siktechnische Analyse des Funktionierens und der Spielweise des vielpfeifigen Instruments (mit oder ohne Gesang) sowie Informationen über die Bauweise dieser Orgelform
gegeben. Es handelt sich um eine materialreiche, vorbildlich belegte Arbeit zu einem methodisch heiklen Thema, das umfassende Quellenkennmis voraussetzt und eine kritische Kombi nationsgabe bei der Synthese von Schrift- und Bildquellen, die vielfach mit Vorsicht zu benutzen sind, verlangt; die manchmal inkonsistente und irreführende Terminologie und eine gelegentlich unklare Beschreibung wie Abbildung erschweren vielfach die Identifikation 584 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen und Typologisierung der Instrumentenart. Doch ist es dem Verfasser gelungen, einen her vorragend belegten Überblick über die byzantinische Instrumentenkunde in ihrer Zwischen stellung zwischen dem arabischen Raum und Westeuropa zu geben, obwohl die Narration der Darstellung innerhalb der Kapitel an manchen Stellen etwas mäanderförmig verläuft. Die schier überwältigende Nachweislast dokumentiert vor allem der umfassende Apparat im 4. Kapitel der Arbeit, der den Quellen und der Bibliographie sowie den Abbildungen gewidmet ist (445-576). Texteditionen (Lexika, strategische Schriften, Chronographien, Zeremonienbücher, Hochdichtung und demotische Poesie, theologische Schriften, mu siktheoretische Abhandlungen, Verschiedenes) werden umfassend aufgeführt; die Bib liographie ist sehr nützlich unterteilt in Sekundärliteratur zur byzantinischen Musik und Instrumentenkunde, zur altgriechischen und römischen Musik und Instrumentenkunde, zur mittelalterlichen, sodann zur byzantinischen Geschichte, Philologie und Literatur, zur Kunstgeschichte des ausgehenden Altertums und der byzantinischen Periode. Es folgt dann ein Index der Quellen, Autoren und Termini, ein Katalog und Index der ikonographischen Abbildungen, eine chronologische Auflistung der Codices und Handschriften, ein Index der Wandmalereien, gefolgt vom z.T. farbigen Abbildungsteil mit 207 Abbildungen, und am Ende eine Auflistung von 338 Textstellen im Originalgriechisch der Zeit aus den ver schiedenen byzantinischen Quellen. Diese rigorose Offenlegung der Nachweislast in Bild und Wort verleiht der Untersuchung
einen eigenen Reiz, denn der Leser sieht sich in die Lage versetzt, jeden einzelnen Überlegungsschritt der analytischen Ausführungen selbst anhand der Belege überprüfen zu können. Athen, Wien Walter Puchner 1 Die Orgel im byzantinischen Hoížeremoniell des 9. und des 10. Jahrhunderts. Eine Quellen untersuchung. München 1991 (Miscellanea Byzantina Monacensia, 33). 2 Το Δημοτικό Τραγούδι στη Μουσική του Μανώλη Καλομοίρη. Μια ιστορική και αναλυτική προσέγγιση. Athen 2001. 3 Ελληνική μουσική και Ευρώπη. Athen 2012. 4 Ε Sherwood Taylor, A Survey of Greek Alchemy, Journal ofHelbnic Studies 50 (1930), 109139, bes. 122; Text in Marcellin Berthelot/Charles-Émile Ruelle (Hgg.), Collection des anciens alchemistes grecs, 3 Bde. Paris 1888, Bd. 2, 433-441. 5 Henry George Farmer, Two Eastern Organs. London 1928; ders., Studies in Oriental Music, Bd.2: Instruments and Military Music. Neudruck Frankfurt/M. 1997. 6 Vgl. Michael Markovits, Die Orgel im Altertum. Leiden, Boston 2003. Südost-Forschungen 72 (2013) 585
Kunstgeschichte, Volkskunde Norbert Mappes-Niedjek, Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. Berlin: Ch. Links Verlag 2012. 208 S., ISBN 978-3-86153684-0, €26,90 Neben vielen anderen Facetten, die seit der Mitte des 19. Jh.s Mittel- und Westeuropäer an Südosteuropa interessiert, wenn nicht fasziniert haben, muss besonders die kulturelle und sprachliche Vielfalt hervorgehoben werden, die auch heute noch so manchem Zeitge nossen recht exotisch erscheinen mag. Einen Teil dieser kulturellen Melange bilden auch die Roma, deren Hauptwohngebiet - manche sind geneigt zu sagen: Heimat - Südosteuropa darstellt. Und jeder Reisende, der die Region besucht, wird ihrer sofort gewahr, handelt es sich doch ֊ anders als in Mittel- oder Westeuropa - um Minderheiten, die mit bis zu fünf oder gar mehr Prozent an den Gesamtbevölkerungen der Staaten in diesem Raum einen unübersehbaren und ständig präsenten Bevölkerungsanteil stellen. Und da die Staaten Südosteuropas Mitgliedsstaaten der EU geworden sind oder dies zumindest anstreben, werden sie bald auch eine mit wohlwollend geschätzten 12 Mio. Mitgliedern nennenswerte Minderheit innerhalb der Europäischen Union ausmachen, die numerisch die Bevölkerung so manchen Mitgliedsstaates der EU in den Schatten stellt (selbst wenn die Anzahl nicht ganz so hoch angesetzt wird). Damit sie aber ihren Minderheitenstatus dort genießen können, wo sie gerade leben (oder besser: in Armut darben), hat die EU allerlei Programme aufgelegt. Eine Abwande rung der Roma in Richtung Westen soll dadurch verhindert oder zumindest doch
begrenzt werden. Aus diesem Grund hat sie auch den jetzigen Beitrittskandidaten - wie seinerzeit Rumänien und Bulgarien und zuvor bereits Ungarn und der Slowakei - Auflagen bezüglich der Integration der Roma gemacht, deren Einhaltung unabdingbare Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist (und die - nebenbei bemerkt—für diejenigen Staaten, die bereits Mitglied der EU sind, nicht gelten). Ein Südosteuropa-Korrespondent kommt daher gar nicht umhin, sich mit Roma zu beschäftigen, sei es nun aus folkloristischem Interesse, aufgrund sozialen Engagements oder einfach der Tatsache, dass der europäische Einigungsprozess auf der Agenda der Berichter stattung steht. Norbert Mappes-Niediek, der seit über 20 Jahren als freier SüdosteuropaKorrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen schreibt, hat sich dabei als einer der bestinformierten Kenner der Region profiliert. Auch mehrere Buchpublikationen zeugen von des Autors intimer Kenntnis und Vertrautheit mit Südosteuropa, seinen Be wohnern und den aktuellen politischen Verhältnissen. Ein Journalist mit dem Erfahrungsschatz eines Norbert Mappes-Niediek hat zudem während seiner langen Schaffenszeit die vielfältigsten Informationen über Roma angehäuft und wiederholt Reportagen über die Situation der Roma in einem bestimmten Land oder Ort geschrieben. Somit kann Mappes-Niediek aus einem reichen Fundus an Erfahrungen schöpfen, die durch Recherchen und Interviews ergänzt wurden, die zur Realisierung dieses Buches durchgeführt worden sind. Aber: Schon wieder ein Buch über Roma? Ist das denn wirklich nötig
in einer Zeit, in der allwöchentlich ein Buch über Roma oder zumindest doch über Antiziganismus erscheint und die Berichte von Nichtregierungsorganisationen über die Situation der Roma in diesem 586 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen oder jenem Land Bücherregalmeterware darstellen? Denn seit Europarat, EU-Administration und Weltbank sowie all diejenigen NRO meist nordamerikanischer Provenienz, die die Menschen Südosteuropas zu aufrechten Demokraten erziehen wollen, die gesellschaftliche Teilhabe der Roma auf ihre Fahnen geschrieben haben, hat das Thema Hochkonjunktur und bietet zahllose Arbeitsplätze für assimilierte oder selbsternannte Roma, sowie all diejenigen, die seit jeher an der internationalen Entwicklungszusammenarbeit kräftig mitverdienen. Immer, wenn ein Thema derart boomt, bleiben Gehalt, Tiefgang und Sorgfalt auf der Strecke; Schwätzer, die alle derzeit virulenten Modebegriffe genauso gut kennen wie die Formalia der Berichterstattung internationaler Geberorganisationen, beherrschen den Markt. Tiefschürfende Analysen und Hintergrundinformationen sind hingegen Mangelware und zudem völlig untauglich für all diejenigen im Arbeitsbereich der internationalen Ent wicklungszusammenarbeit zur Verbesserung der Situation der Roma Tätigen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bevorzugen, um den Markt am Leben zu erhalten, der bei einer faktischen Verbesserung der Lebensumstände der Roma keine Existenzberechtigung mehr hätte. Bei dieser Art einer oberflächlichen Betrachtung wird aber zu den altherge brachten und so gerne tradierten Vorurteilen eine Vielzahl erstere trefflich ergänzende neue Stereotype hinzugefügt. Jedem, der sich nur ein wenig mit südosteuropäischen Roma be schäftigt hat, muss aufgrund dieser ständigen Verzerrungen, Verdrehungen, Vertuschungen und Verleumdungen
einmal der Kragen platzen. Norbert Mappes-Niediek ist genau dies nun widerfahren, und diesem Umstand verdanken wir ein wichtiges und lesenswertes Buch, das gerade zur richtigen Zeit erschienen ist, um der derzeitigen Flut von Halb- bis Unwahrheiten Einhalt zu gebieten. Mappes-Niediek räumt nun gründlich mit vielen der sich derzeit in Umlauf befindlichen Vorurteile und Zerrbilder auf, wenngleich auch dieses Buch einige Mängel aufweist und der Untertitel zudem in die Irre führt. Denn von wenigen Exkursen abgesehen, sind diejenigen Roma Thema der einzelnen Reportagen, die eben nicht migrieren, sondern vielmehr in den Elendsvierteln der Dörfer und Städte Südosteuropas verharren (müssen). Die einzelnen Berichte sind thematisch geordnet (wie Armut, Migration oder Kriminali tät), ein roter Faden ist jedoch nur ansatzweise auszumachen. Die wichtigsten Feststellungen werden bereits auf den ersten Seiten getroffen, Schlussfolgerungen fehlen daher. Demge genüber werden im Vorwort („Was läuft falsch?“, 7-10) und im 1. Kapitel („Die Ökonomie der Armut“, 11-43) Fragen aufgeworfen, die letztendlich nicht beantwortet werden. Die zu Beginn als zentral erscheinende These verläuft vielmehr rasch im Sande: Eingangs ֊ der Buchtitel selbst deutet (trotz aller Mehrdeutigkeiten des Begriffs „arm“) auch daraufhin ֊ wendet sich Norbert Mappes-Niediek gegen die in Südosteuropa weitverbreitete Ansicht, die Armut der Roma sei in ihrer Kultur begründet, wenn nicht sogar ein wesentlicher Bestandteil ebendieser Kultur. Der Leser könnte daher erwarten, hierbei handelte es sich um die Leitfrage, die im
Schlusswort hinreichend beantwortet wird. Stattdessen geht der Autor nicht über das im Vorwort Gesagte hinaus: „Arm sind die Roma in Wirklichkeit aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit. Die Beschäftigungsrate ist überall in der Region in den letzten zwanzig Jahren bis auf etwa die Hälfte zurückgegangen. Am stärksten war der Schwund bei den minderqualifizierten, den typischen Roma-Jobs. Nicht Ausgrenzung Südost-Fotschungen 72 (2013) 587
Kunstgeschichte, Volkskunde wie im Westen war in Osteuropa historisch das Problem der Roma, sondern ihre niedrige soziale Stellung. [.] Statt die Armut zu bekämpfen, betreiben die EU und die europäischen Staaten für die Roma Minderheitenpolitik. Natürlich sind die Roma auch,anders“, verfugen über eine besondere Kultur, pflegen bestimmte Werte und Bräuche. Aber ,anders“, anders als die Mehrheit der Franzosen, Briten oder Deutschen, sind auch die Nordafrikaner in der Banlieu von Paris, die Pakistanis in London und die Türken in Berlin, ohne dass die kulturelle Differenz eine besondere Minderheitenpolitik nötig machen würde. Alle sollen unabhängig von ihrer Herkunft in gleichem Maße an allem teilhaben können, das ist das neue Prinzip. Was uns Roma-typisch vorkommt, ist in Wirklichkeit oft einfach Balkan typisch. Die Armut der Roma jedenfalls lässt sich mit ihrer Kultur nicht erklären“ (8f). Dies untermauert er mit hochinteressanten Reportagen und bedenkenswerten Einzelbe legen, nicht jedoch mit einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Beweisführung, auch wenn er die Ursachen zu identifizieren glaubt: „Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder unterfinanziertes Gesundheitswesen“ (10). Oder: „Der Zugang zu ärztlicher Behandlung ist nicht per se ein Roma-Problem. Die Mangelwirtschaft und die Korruption im Gesundheitswesen treffen nur die am härtesten, die kein Geld haben“ (197). Das ist selbstverständlich richtig. Norbert Mappes-Niediek begründet diese
Aussagen jedoch nicht, und kann es letztendlich auch nicht, weil sie zugleich richtig und auch falsch sind. Zwar versucht er, Kultur als intervenierende Variable gänzlich auszuschließen und hat mit seinem Hauptargument, Armut und nicht die kulturellen Überlieferungen seien verantwortlich für die derzeitige Situation durchaus ein wichtiges Argument auf seiner Seite. Dies erklärt jedoch nicht, wie die Roma in ihre derzeitige Armutssituation am Rande der südosteuropäischen Gesellschaften gelangt sind. Es belegt allein, dass die politisch Verant wortlichen in diesen Ländern, mit dem Rekurs auf rassische oder ethnische Unterschiede, die tatsächlichen Zusammenhänge verschleiern wollen. Dass die Roma besonders in der Transformationsphase nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verarmt sind, nachdem sie als Erste entlassen wurden, ist ebenfalls völlig richtig, wie auch der Hinweis, dass dies in der schlechten Ausbildung begründet sei. Aber warum sind die Roma denn so schlecht ausgebildet und warum sind ausgerechnet Roma als Erste entlassen worden? Nicht allein die offenkundige gesellschaftliche Diskriminierung, die auch erst einmal begründet werden will (!), sondern durchaus auch gruppeninterne Mechanismen sind aber dafür verantwortlich zu machen, dass die Roma am Bildungssystem ihrer Heimat länder nur marginal partizipieren können. Denn allen Roma ֊ und nicht nur den sich besonders gegen ihre soziale Umwelt abgrenzenden, stammesgebundenen (ehemaligen) „Wanderzigeunern“ wie Lovara, Cergarija oder Kalderaša - ist der verwandtschaftliche Zusammenhalt wichtiger als die Außenbeziehungen
zur umgebenden Gesamtgesellschaft, was eben weitreichende Auswirkungen auf den Schulbesuch der Kinder, aber auch auf die Kontinuität der Anwesenheit am Arbeitsplatz hat. Diesen Umstand könnte man nun damit schönreden, die Roma seien als sozial und wirtschaftlich marginalisierte Gemeinschaften zum auch physischen Überleben zu dieser besonders engen Kohäsion gezwungen (was durchaus richtig ist). Diesen Umstand - wie auch die allgegenwärtige Diskriminierung ֊ 588 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen kann man jedoch nicht einfach ignorieren. Es handelt sich bei der sozialen Distanzierung (welche die Diskriminierung dann so einfach macht!) zudem um eine kulturelle Tradition im eigentlichen Sinne. Auch diese Tatsache ist nicht zu leugnen. So schießt Norbert Mappes-Niediek nicht nur bei seiner zentralen These, sondern auch im Folgenden das ein oder andere Mal über das Ziel hinaus. Diese Mängel in seiner Dar stellung sind darauf zurückzuführen, dass er Unvergleichbares vergleicht: Zum einen vermischt (und verwechselt) er Vorurteile, die in Mitteleuropa vorherrschen, mit solchen, die allein in Südosteuropa virulent sind. Beide Gruppen von Vorurteilen sind geeignet, Roma dauerhaft zu stigmatisieren und zu diskriminieren, stellen aber kein geschlossenes System dar, sondern entstammen verschiedenen Diskursräumen und Vor stellungswelten. Sie beeinflussen sich daher auch nicht gegenseitig und sind größtenteils auch nicht aufeinander bezogen. Zum anderen ist die Position der Roma — und dessen ist sich Norbert Mappes-Niediek eigentlich auch bewusst (und spricht es wiederholt an) - in beiden europäischen Regionen eine völlig andere: hier Außenseiter, dort unterste Unterschicht. Eine Gleichsetzung beider Minderheitensituationen ist nicht möglich. Zwar ist die Situation vieler nach Westeuropa migrierter Roma durch deren Lebenslage in Südosteuropa erklärbar. Doch gilt dies längst nicht für alle Roma-Gruppen, und selbst dort, wo kausale Zusammenhänge bestehen, kommen weitere Faktoren hinzu, die zur Ausprägung dieser Situation beitragen. Generell häufen sich
Fehleinschätzungen immer dann, wenn Norbert Mappes-Niediek sich geographisch zu weit von Südosteuropa entfernt. Seine wenigen Exkurse in mitteleu ropäische Themenfelder hätte er besser unterlassen und sich auf die Region beschränkt, aus der er Erfahrungen aus erster Hand besitzt. Darüber hinaus bleibt Norbert Mappes-Niediek meist auf einer oberflächlichen Ebene. Seine Analysen gehen selten in die Tiefe. Dass er mit seiner Einschätzung dennoch fast immer richtig liegt, ist in seinem journalistischen Talent begründet, weniger aber in seiner methodischen Vorgehensweise. Doch bei nur sehr oberflächlicher Kenntnis der Kultur und Geschichte der Roma sind Fehlinterpretationen nicht zu vermeiden. All diese Mängel und Einschränkungen ändern jedoch nichts an der (bereits hervorgeho benen) Bedeutung seines Buches und dem Gehalt seiner Erkenntnisse. Seine allgemeinen Aussagen verdienen daher Beachtung, da sie, anders als es der interessierte Leser aus dem Großteil der bisherigen Literatur gewohnt ist, ein realistisches Bild der Roma zeichnen (so lange sich diese Aussagen - wie gesagt - auf Südosteuropa beziehen): „Es gibt viele familiäre und örtliche Gemeinschaften und auch ein vages Gemeinschaftsgefühl von Roma über die Grenzen hinweg, aber es gibt keine organisierte Roma-Gesellschaft und auch keinen Grund, eine solche zu entwickeln. Trotzdem wird - teils bewusst, teils unbewusst — fleißig daran gearbeitet - mit dem Versuch, eine ,Roma-Elite“ zu schaffen, und mit unzähligen Projekten, die von Stiftungen und internationalen Organisationen gefördert werden. Hervorgebracht haben sie
eine ,Gypsy-industry“ aus Nichtregierungsorganisationen, die oft nur aus ihrem Vorsitzenden und dessen Bankkonto bestehen und deren Know-how sich im Schreiben von Projektanträgen erschöpft. Den Roma in ihren Slums nützt das Treiben höchstens einmal punktuell; ihre soziale Lage hat sich seit dem Aufblühen der Projektkultur um die Jahrtausendwende eher noch verschlechtert. Wenn Fonds mehr oder weniger ausdrücklich Südost-Forschungen 72 (2013) 589
Kunstgeschichte, Volkskunde nur för Roma bereitgestellt werden, schafft das in den verelendeten Regionen des Balkan überdies noch Neid und böses Blut“ (9f.). Das Fazit ist daher eindeutig: Brillant sind ֊ trotz der ihnen notwendigerweise inne wohnenden journalistischen Untiefe — seine Beschreibungen und Analysen der „gyspy industry“ sowie die Beantwortung der Frage, warum es keine Roma-Nationalbewegung und erst recht kein geeintes „Volk“ der Roma geben kann. Auch wenn er dabei längst nicht alle Faktoren berücksichtigt, wiegen diese beiden, den Hauptteil des Buches ausmachenden Kapitel (135-190) alle Unzulänglichkeiten mehr als auf und erheben ֊ trotz der geäußerten Kritik - diese Schrift zu einer Pflichtlektüre für alle, die sich für Roma interessieren und besonders jene, die so gerne über Roma reden und schreiben. Nicht empfehlenswert ist das Buch jedoch för Antiziganismusforscher, da es geeignet ist, liebgewonnene Vorurteile erfolgreich zu bekämpfen und festgefügte Ansichten nachhaltig zu beschädigen. Bonn Marco Heinz Christian Marchetti, Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde. Eine historisch-ethnographische Erkundung. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2013. 456 S., ISBN 978-3-932512-73-5, €29,Die „Kunsthistorisch-Archäologisch-Ethnographisch-Linguistische Balkanexpedition“ erforschte im Sommer 1916 im Auftrag österreichisch-ungarischer Wissenschaftsinstitu tionen und Behörden und mit Unterstützung des Militärs die besetzten Gebiete in Serbien, Montenegro und Nordalbanien. Der bereiste Raum lag in einem für die Doppelmonarchie
historisch bedeutsamen Grenzgebiet. Die wissenschaftliche Raumaneignung stand dabei in enger Verbindung mit der militärischen Eroberung desselben Gebietes. Dass der österreichi sche Volkskundler Arthur Haberlandt eine Kompetenz zur „Abgrenzung der Volkskultur“ als wissenschaftlichen Kriegsbeitrag für sich beanspruchen konnte, verweist auf einen wichtigen Schnittpunkt zwischen der Entwicklung dieser sich gerade erst etablierenden Disziplin, der Kriegssituation und einem bestimmten Forschungsfeld. Dem Kulturwissenschaftler Christian Marchetti gelingt es, die Bedeutung dieser Balkan expedition für die Entwicklung der Österreichischen Volkskunde vom Ersten Weltkrieg bis in die musealen Sedimente der Gegenwart herauszuarbeiten. Sie ist für ihn der Handlungszu sammenhang, in dem sich die verschiedenen Dimensionen seiner Untersuchung verknüpfen. Die Vorgeschichte und das Zustandekommen, die Durchführung und die Nachwirkungen der Expedition sowie die daran beteiligten Institutionen und Akteure und deren Praktiken und Diskurse werden einer historisch-ethnographischen Betrachtung unterzogen, um die enge Verbindung von österreichischer Volkskunde, dem Ersten Weltkrieg und dem Balkanraum aufzuzeigen. Dabei wird versucht, den komplexen Zusammenhang zwischen Wissenschaft als sozialer und kultureller Praxis, Krieg als spezifischem Handlungs- und 590 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Erfahrungsraum und einem geographisch und historisch als Grenzraum wahrgenommenen Forschungsfeld auszuloten. Das umfangreiche Werk Marchettis behandelt vielfältige Themen wie den k. u. k. Kolo nialismus in Bosnien und Herzegowina und Nordalbanien, die Rolle der wissenschaftlichen Institutionen (z. B. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften oder des Balkaninstituts in Sarajewo), die Verflechtung von Militär und Wissenschaft (am Beispiel der Orientabtei lung des k. u. k. Kriegsministeriums und soldatischer Volkskundler), das komplexe Wech selspiel von Besatzungspolitik und Wissenserwerb (Schulpolitik, Literarische Kommission, erste albanische Volkszählung u. a.), die Verwandlungskünste der Forscher im Dienste der Wissenschaft (Maskerade, Kleiderwechsel usw.), das Verhältnis der Forscher zu ihren ein heimischen Informanten (vom Helfer und Bewacher bis zum Partner und Kollegen), die Kulturtechniken der Volkskunde (Fragebogen, Fotografie, Kartographie usw.), die Grenz ziehungen zur Ordnung der Balkankultur und die musealen Sedimente der disziplinären Kriegserfahrung (Museen in Tirana, Wien und Kittsee). Das 1. Kapitel, „Balkanexpedition im Ersten Weltkrieg“, gibt eine Einführung über den Zusammenhang zwischen dem 1. Weltkrieg und der Entstehung der anthropologischen Wissenschaften. Im 2. Kapitel, „Volkskunde im Vielvölkerstaat“, wird die spezielle Position der österreichischen Volkskunde in der multiethnischen Doppelmonarchie im Unterschied zu Nationalstaaten oder Imperialmächten mit Uberseekolonien geschildert, wobei die Annexion Bosnien-Herzegowinas als
spezifische Form eines „Kolonialismus der Nähe“ unter dem Zeichen eines „Grenzorientalismus“ dargestellt wird. Das 3. Kapitel, „Gren zanthropologie“, widmet sich der wissenschaftlichen Praxis des Reisens mit besonderem Blick auf die mentale Geographie der österreichischen „Frontiervolkskunde“ zur Be- und Durchgrenzung des südosteuropäischen Raums und dessen Erschließung als Forschungs feld. Im 4. Kapitel, „Reiseagenturen: Soziale Brennpunkte der Wissenschaft“, geht es um die institutioneile Absicherung und die institutionalisierende Wirkung der Reisen sowie um die als wichtige Knotenpunkte im wissenschaftlichen Netzwerk fungierenden sozialen Institutionen wie Akademien, Vereine und Gesellschaften, in denen sich die österreichi schen anthropologischen Wissenschaften bildeten. Es wird aufgezeigt, wie sich die Akteure im wissenschaftlichen Feld über Reisetätigkeiten die verschiedenen Forschungsräume und Kompetenzen aneigneten und in wissenschaftliches Kapital ummünzten. Das 5. Kapitel, „Die Kunsthistorisch-Archäologisch-Ethnographisch-Linguistische Balkanexpedition“, be schreibt am Beispiel der genau rekonstruierten Forschungsreise die Reisepraxis während des Ersten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht dabei die Relation der Volkskunde zu den anderen an der Erforschung des Balkanraums beteiligten Disziplinen. Im 6. Kapitel, „Besatzung und Wissen“, wird die Frage nach einem wissenschaftlichen Kriegsbeitrag der historisch ethnographischen Wissenschaften beantwortet, indem verdeutlicht wird, inwieweit bei der Bereisung des Raumes entstandene wissenschaftliche Wissensbestände für
die Besatzung der Gebiete genutzt wurden, wie Wissenschaftler durch die Kollaboration mit dem Besatzungs regime profitierten und auf welche Weise Wissenschaft und Besatzung zur wechselseitigen Ressource wurden. Das 7. Kapitel, „Reisekleider: Zur Trachtenkunde der Ethnographie“, stellt die Relevanz der Kleiderfrage für die reisende Balkanerforschung und die Rolle der vestimären Diskurse für die Erschließung der Kriegserfahrung ins Zentrum der Betrachtung. Südost-Forschungen 72 (2013) 591
Kunstgeschichte, Volkskunde Im 8. Kapitel, „Begegnungen und Gegenüber“, werden die personelle Infrastruktur und die interpersonellen Aspekte der Forschung thematisiert, was insofern von Bedeutung ist, als diese Themen bisher von der Forschung meist vernachlässigt worden sind. Das 9. Kapitel, „Kulturtechniken der Volkskunde“, präsentiert die Medien der Wissensgenerierung, die disziplinären Praktiken und die materielle Kultur von wissenschaftlichen Expeditionen sowie die volkskundlichen Sammel- und Ausstellungstätigkeiten in Kriegszeiten. Im 10. Ka pitel, „Grenzziehungen“, erfahren wir etwas über die Dingpraxis der Volkskunde und die semiophorischen Bearbeitungen zur Ziehung und Verschiebung temporaler und kultureller Grenzlinien anhand der materiellen Kultur und Folklore der beforschten Gebiete. Das abschließende 11. Kapitel, „Disziplinäre Kriegserfahrung und museale Sedimente“, fasst die in den vorherigen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse zusammen und gewährt einen Einblick in museale Sedimente der Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Zu den wichtigsten Erkenntnissen von Marchettis Untersuchung zählt die führende Rolle der sich im Zuge des Krieges transformierenden österreichischen Volkskunde in der Erforschung Südosteuropas. Der damals jüngsten wissenschaftlichen Disziplin gelang es, durch selbstbewusstes Auftreten und Betonung der politischen und wirtschaftlichen Instrumentalität der eigenen Forschung für die Beherrschung der eroberten Gebiete - z. B. mittels Programmen zur Formung der untersuchten Kultur — eine Förderung durch die staatlichen Behörden zu erwirken. Sie
beanspruchte für sich die Funktion einer Art Schnittstelle zwi schen der Vorgefundenen Kultur der besetzten Gebiete und ihrer „kulturellen Durchdrin gung“, wobei Musealisierung als Motor der Modernisierung und Inkorporierung in den Innenraum der Doppelmonarchie aufgefasst und eine kulturräumliche Umorientierung der Wiener Volkskunde weg von den „ost-westlichen Wechselbeziehungen“ hin zu einem germanozentrischen „Nordstandpunkt“ vollzogen wurde (368). Das Selbstverständnis der sich während des Ersten Weltkriegs zwischen verschiedenen Nachbardisziplinen positio nierenden und innerhalb der anthropologischen Wissenschaften abgrenzenden Volkskunde war das einer „frontier ethnology“, die nicht nur neue Territorien und Bevölkerungen in die Habsburger Monarchie integrieren, sondern auch einen kulturellen Ausgleich innerhalb des Vielvölkerstaates herstellen sollte (4l4f.). Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung ist, dass der Krieg nicht nur neue Forschungs räume, sondern auch neue und intensivierte Begegnungen und Verbindungen zwischen militärischen, politisch-administrativen und wissenschaftlichen Akteuren und Institutionen bot. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass eine Instrumentalisierung der Wissenschaft durch das Besatzungsregime nicht auf dem Weg einer Einvernahme der Wissenschaftler durch das Militär erfolgte. Standessen erwarb sich das Militär mit der Etablierung der Orientabteilung und der dort rekrutierten wissenschaftlichen Expertise in programmati scher Hinsicht eigene Handlungsfähigkeit in Richtung Südosteuropa. Es waren gebildete Diplomaten wie August Kral,
die durch Kulturprojekte wie der Literarischen Kommission in Shkodra (212-215) oder der ersten albanischen Volkszählung (215-218) einzelnen Wissenschaftlern Handlungsräume boten, die den erhofften Kriegsbeitrag, die ersehnte Frontfreistellung oder die Akkumulation wissenschaftlichen Kapitals in Form von ver öffentlichungswürdigen Forschungsresultaten ermöglichten. Dabei wurde der Typus des abenteuerlichen Einzelgängers, dessen Know-how anfangs noch genutzt wurde, von dem 592 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Typus des akademisch etablierten Wissenschaftlers abgelöst, was der Verschiebung vom vorkrieglichen Entdeckungsdiskurs zum im Krieg entstandenen Entwicklungsdiskurs im Sinne einer kulturellen Erschließung des Landes und einer normalisierenden Ordnung der Grenzkultur entsprach (412 f.). Abgesehen von anderen grundsätzlichen Erkenntnissen erfährt man interessante Details über unterschiedliche Ereignisse, Vorfälle und Persönlichkeiten wie die sogenannte,Affaire Lurja“ um den damals jungen Albanologen Maximilian Lambertz (208-211) oder das viel versprechende, jedoch durch den Kriegsausgang verunmöglichte Projekt der Einrichtung eines „Albanischen Nationalmuseums“ (225f.)· Wie überhaupt dieses Werk eine wahre Fundgrube für eine erste Rekonstruktion der damaligen wissenschaftlichen Netzwerke ist - sei es das Balkaninstitut in Sarajewo (132-136) oder die Balkankommission der Aka demie der Wissenschaften in Wien (96-103) —, auf deren Basis weiterführende, vertiefende Arbeiten, z. B. über die Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Militär am Beispiel der Balkanologie, getätigt werden können. Mögliche Fragestellungen solcher Forschungsprojekte wären: Sind österreichisch-ungarische Forscher von Akteuren oder Institutionen der habs burgischen Balkanpolitik ausgenutzt worden oder haben sie sich instrumentalisieren lassen? Kann die österreichisch-ungarische Balkanologie als eines der Instrumente eines etwaigen Kulturimperialismus betrachtet werden? Oder war es auch umgekehrt: ein wechselseitiger Einfluss und pragmatische Beziehungen zwischen dem akademischen,
politischen und militärischen Feld mit einer Vielzahl an Akteuren und einem offenen Resultat? Daneben wären einige Detailfragen zu beantworten, wie etwa die Entstehung und Entwicklung des Feldes der österreichisch-ungarischen Balkanologie, ihr Verhältnis zum Feld der Macht (im Bourdieuschen Sinne), die Problematik der Zugehörigkeit einiger namhafter Balkanologen zu mehreren Feldern, die Rolle des sogenannten „Brückenkopfes“ zwischen ÖsterreichUngarn und den besetzten Gebieten, sowie einiges mehr. Graz Kurt Gostentschnigg Vesna Marjanovič, Maske, maskiranje і rituali u Srbiji [Masken, Maskierung und Rituale in Serbien]. Beograd: Cigoja štampa 2008. 343 S., zahir, teils farbige Abb., 7 Verbreitungskt., ISBN 978-86-7558-557-2 Maskenbücher sind in Südosteuropa eher eine Seltenheit geworden. In ihrer Miteinbe ziehung des rezenten Standes von Maskenspiel und Verkleidungsformen nichtritueller und terminunabhängiger Art ist diese flächendeckende Monographie zu Maske, Maskierung und Ritualen bei den Serben am ehesten mit den Büchern von Ivan Lozica für Kroatien1 und Georg Kraev für Bulgarien2 zu vergleichen. Die gut belegte Untersuchung, die bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, ist maskentheoretisch und theaterwissenschaftlich gut fundiert, bilden Maskierungen und Verkleidungsformen doch die Hauptingredienzien für die Konstituierung einer szenischen Wirklichkeit. Hier kann die Verfasserin im EinSüdost-Forschimgen 72 (2013) 393
Kunstgeschichte, Volkskunde leitungskapitel und einem Schlusskapitel zur semiotischen Analyse auf eine ganze Reihe südslawischer Studien zurückgreifen.3 Die Verfasserin hat am Volkskundemuseum der Vojvodina in Novi Sad bereits eine ganze Reihe von Feldforschungsergebnissen zur Mas kenforschung vorlegen können.4 Das Einleitungskapitel über Maske, Maskierung und Ritual (11-22) geht auf den theore tischen Rahmen der Maskenforschung ein, ein weiteres auf die Quellen der serbischen bzw. südslawischen Maskenforschung (23-32). Es folgt eine Kurzdiskussion methodologischer Fragen (33-36), wobei auf die Kontinuí täts- und Dyskontinuitätsfragen seit den frühesten Zeugnissen in den prähistorischen Höhlenmalereien näher eingegangen wird (37-49); einen wichtigen Quellensektor bilden die behördlichen und aufklärerischen Maskenverbote seit dem 18. Jh. (50-61). Sodann wendet sich das Buch dem Hauptteil zu, der Phänomenologie serbischer Maskenformen von den traditionellen Formen bis zu den rezenten Innovationen. Methodisch wird dabei zwischen Planung, Ausführung der Maskierung und abfragbarer Reminiszenz in der Erinnerung der Maskenträger unterschieden. Begonnen wird mit den traditionellen Formen, und zwar den Jahreslaufbräuchen mit sakraler Umzugsstruktur: die koledari praktisch überall, der Barbara-Umzug (4.12.) nur im Donauraum gegen Kroatien und Ungarn zu, ebenso die Sv. Lucije (12.12.), die Krippenspieler (vertep), das Adam- und Evaspiel und der Nikolaus-Umzug, das Sternsingen eher im Nordosten; im Gegensatz dazu sind die sirovari im Südosten gegen Bulgarien und Makedonien zu
angesiedelt, die Wolfsverkleidung (vučari) im Berggebiet westlich von Kragujevac gegen Westbosnien zu. Es lässt sich aus der Verbreitungskarte (72) deutlich eine Art Kulturgrenze zwischen Nordwesten (Donauraum) und Südosten (Zentralbalkan) ausmachen. Die mittwinterli chen koleda-Sänger (71-84), die manchmal auch das Weihbrot des koledarski kolač mit sich führen, sind von dem gleichen martialischen paramilitärischen Charakter mit phallischem Glockenbehang, Tiermasken, Equidenverkleidung, dem Altenpaar majka und dada, ¡tasca und starac, dedica und deda, dem Brautpaar usw. wie in den zentralbalkanischen Regionen und in Siebenbürgen.5 Die reichhaltige Bebilderung des Lesetextes mit seinen Fußnoten verweisen stützt sich auf ältere, aber auch rezente Fotografien, die bereits eine etwas freiere Handhabung der Verkleidungsformen dokumentieren. Der Faschingsumzug der Maskenträger ist praktisch überall nachzuweisen, im Gegensatz zu den Frauenversammlungen, die sich auf die Vojvodina beschränken (110-115). Auch hier dominiert die Scheinhochzeit mit dem Brautpaar, Beistand und Priester, Schwiegerleuten, Tierverkleidungen, den üblichen Obszönitäten usw. Auch hier ist die Einführung neuer Verkleidungstypen und Kostümierungsformen (z. B. industriell hergestellte oder handver fertigte Gesichtsmasken) zu beobachten; die Dokumentierung des falange (Fasching, statt poklade) umfasst auch magyarische und rumänische Minderheiten. Ein bedeutender Teil des Fotomaterials geht auf rezente Feldforschung zurück und gibt ein Bild der Entwicklung der Verkleidungsästhetik bis hin zur Nachahmung der
Figuren aus der bekannten Femsehserie „Dynasty“ („Der Denver-Clan“) in den 1980er Jahren oder dem pajac (Paliazzo), der bereits dem städtischen Karneval angehört (150-159). Im Urbanbereich umfasst die Untersuchung nun auch Maskenbälle, Kinderkarneval und alle möglichen Formen nichtritualisierter Verkleidungsformen. Ein eigener Abschnitt ist den festlichen Frauenversammlungen der todorice in der Batschka und im Banat gewidmet (159-163, „Weiberfasnacht“). 594 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Darauf folgen die Mädchenumzüge des Frühlingsabschnittes: die Behandlung der prak tisch überall in Serbien verbreiteten Lazarusumzüge der liedsingenden Mädchengruppen6, deren Lieder mit dem religiösen Anlass des Palmsamstags oft nur mehr wenig zu tun haben, die Jeremias-Umzüge (1./14.5., 174f.), sodann die bekannte Pfingstköniginnen-Prozessionen der kraljice oder rusalija (176-180),7 ebenfalls ohne zonenspezifische Präferenz, und endlich der Regenbittgang der grün verkleideten dodola (184-186), ebenfalls gesamtbalkanisch im Bereich der Orthodoxie verbreitet, wo immer Feldwirtschaft und Ackerbau anzutreffen ist, aber auch paparuga bei den rumanophonen Minderheiten im Banat,8 Von besonderem Interesse ist das Kapitel über die Verkleidungsformen bei den Hoch zeitsbräuchen (195-198): dies beginnt mit der Braut(ver)kleidung selbst {mlada, nevesta) durch die gesamtkörperlichen Verschleierungsformen, setzt sich im panserbisch verbreiteten Hochzeits-Unterhalter fort {àaul, der ehem, osman. Leibgardist, hat hier mehrere Bedeu tungen: Possenreißer und Hanswurst, aber auch Ausrufer oder Anführer des Hochzeitszu ges, ähnlich vojvoda), dem Spiel um die falsche Braut und anderen Unterhaltungsspielen während der Hochzeitsfeierlichkeiten usw. In einem 2. Hauptabschnitt werden dann die neuen Formen der Maskierung bei profanen Anlässen im Jahreslauf vorgestellt (213-232): Privatunterhaltungen, der moderne städti sche Karneval mit Umzug und Nummernstruktur, freie fantastische Verkleidungsformen, Kinder- und Erwachsenen-Maskeraden, Maskenbälle usw. Es gehört zu den Verdiensten
dieses Bandes, solche gegenwärtigen Strategien der intendierten Identitätsveränderung durch Kleidungsänderung, Eingriffe in Physiognomie, Habituswandel usw. in die Mas kenforschung mit einbezogen zu haben. Das gilt vor allem auch für Maskierungsweisen bei Protestaktionen, Studentendemonstrationen, Krankenhausvorstellungen, aber auch Fußballveranstaltungen, Fan-Club-Versammlungen, der Maskenverwendung bei den Reklame-Kampagnen usw. Ein abschließender Abschnitt beschäftigt sich mit einer Typologisierung von Masken, Maskierung und Larvenverwendung (247-297) zwischen Ritualkontext und freier Unter haltung. Bei den traditionellen zoomorphen Maskentypen herrschen der Widder {ovan/ herbes, rum.) vor, die Ziege {konja), der Vogel {klocalicd), der Storch {roda), der Wolf {vuk), das kleine bosnische Rind {busa), der Bär {medved) usw., viele davon mehr oder weniger theriomorph mit Gesichtsbemalung oder Fellmaske, umgedrehtem Fellkostüm, glockenbehangen und mit Requisiten wie Lärminstrumenten, Axt, dicken Stöcken usw. versehen. Bei den anthropomorphen Verkleidungen dominieren Braut und Bräutigam {mUda i mladoženja), die alte baba oder der alte deda, die falsche Braut {lažna րոևձօ), wo z.T. auch Gesichtsmasken oder Gesichtsbemalungen zur Anwendung kommen können, manchmal von erstaunlicher Ausdruckskraft. Brautkleidung tragen auch die kraljice, doch der heutigen Kostümierungsfreiheit sind keine Grenzen gesetzt (vgl. die Fantasie-Braut (277) bei einer Maskerade in Novi Sad 2007). Zu den Requisiten der Verkleideten zählen neben den genannten Primitivinstrumenten auch die Harmonika bei
Krippendarstellungen, beim Hochzeitszug auch Trommel und Fahne. Die rezenten Maskeraden können auch zu frei improvisierten Aktionen und Miniszenen übergehen. In diesem Abschnitt bilden die zahlreichen rezenten Fotografien bereits einen bedeutenden Anteil der Argumentationsfüh rung. Ein abschließendes theoretisches Kapitel geht auf die Funktionen und die Semiotik Südost-Forschungen 72 (2013) 593
Kunstgeschichte, Volkskunde der serbischen Maskenformen ein (301-307). Es folgen noch ein Schlusswort, ein English summary, die Bibliographie und ein Generalindex. Ohne Zweifel gehört diese Arbeit zu den bedeutenden Publikationen der südosteu ropäischen Maskenforschung im neuen Jahrhundert, aus der Feldforschung erarbeitet, bibliographisch ausgezeichnet dokumentiert, mit Bildmaterial ausreichend versehen, so dass allein schon das Durchblättern eine Augenweide ist. Zudem ist die Arbeit theoretisch fundiert und in weitere Problemstellungen integriert, ebenso beleuchtet sie Phänomenbe reiche, die oft in Maskenbüchern nicht zu finden sind, wenn es darum geht, den rezenten Stand des nichtrituellen Maskengebrauchs zu dokumentieren. Die Übersichtskarten geben zu jeder Zeit ausreichend Auskunft über die Verbreitung einer Maskenform, historische Dokumente, Gemälde, alte Fotografien und rezente Aufnahmen belegen die Entwicklung der Masken- und Verkleidungsformen. In einer umfangreichen Zusammenfassung wird die Maskenverwendung in einer typologischen Zusammenschau kategorisiert nach Gesichtsmas ken, Körpermasken, Maskierungsweisen, Verkleidungstypen und Requisitengebrauch bzw. Musikinstrumenten. Aus einer rein theaterwissenschaftlichen Sichtweise wären vielleicht die Ansätze zu Aktions- und Interaktionsformen etwas stärker zu berücksichtigen gewesen, doch ist die Selektion der methodischen Vorgangsweisen das Recht jedes Autors. Hier stand eben die Maske als solche, als Gegenstand und Prozess der intendierten Identitätsänderung im Vordergrund, und nicht als Vorstufe und Technik
einer „Entwicklung“ zur szenischen Darstellung. Der Dokumentationsbereich beschränkt sich auf die heutigen Grenzen Ser biens, liefert allerdings in seiner Einbeziehung von Minderheiten aus den Nachbarländern Vergleichsmaterial zu einer umfassenderen Sichtweise. Athen, Wien Walter Puchner 1 Ivan Lozica, Izvan teatra. Zagreb 1990; ders., Hrvatski karnevali. Zagreb 1997; ders., Poganska baština. Zagreb 2002. 2 Georg Kræv, Bălgarski maskaradni igri. Sofija 1996; ders., Maska i bulo. Sofija 2003; ders., Obredno i dramatično dejstvo, in: ders. / Irena Bokova (Hgg.), Maska і ritual. Sborník statü. Sofija 1999, 101-113. 3 Ivan Kovačevič, Semiologija rituala. Beograd 1985; ders., Semiologija mita i rituala, Bd. 1-3. Beograd 2001; Radoslav Domé, Znak і simbol. Beograd 2003; Mirjana Prosić, Teorijsko-hipotetički okvir, za proučavanje pokłada kao obreda prelaza, Etnološke sveske 1 (1978), H. 1, 33-49; Dušan Rnjak, Antički teatar na du Jugoslavije. Novi Sad 1979; Anastassia Saminova-Semova, Maskata v čoveškata civilizacija i v teatára. Sofija 2000. 4 Vesna Marjanovič, Maske u tradicionalnoj kulturi Vojvodine. Novi Sad 1992; dies., Maske i rituali u Srbiji, Beograd 2005; dies., Pokladni običaji u Banatu i istočnoj Srbiji, Etno-kulturološki zbornik 1 (1996), H 1, 95-101; dies., Pokladne maske i povorke, Glasnik etnografkog muzeja 67-68 (2004), 155-176; dies., Pokladni ritual u Sremu na trimeru sela. Golubinci i Novi Slankamen, Rad vojvođanskih muzeja 30 (1987), 173-181. 5 Vgl. Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009,
107-150. 6 Vgl. ders., Studien zum Kulturkontext der liturgischen Szene. Lazarus und Judas als religiöse Volksfiguren in Bild und Brauch, Lied und Legende Südosteuropas, 2 Bde. Wien 1991, Bd. 1,48-54, und Bd. 2, 194-209. 596 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 7 Vgl. zur Geschichte und Morphologie der Rusalien in Südosteuropa: ders., Studien zur Volks kunde Südosteuropas, 47-106. 8 Vgl. ders., Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 89-124. Minority Rights in Central and Eastern Europe. Hg. Bernd Rechel. London, New York: Routledge 2009 (BASEES-Routledge Series on Russian and East European Studies, 54). 242 S„ ISBN 978-0-415-45185-7, US-$ 42,55 Minderheitenfragen spielten in der sozialwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahr zehnte eine eher marginale Rolle - wie eben die Minderheiten im wahren Leben selbst. Erst im Rahmen der Auflösung der Sowjetunion, des Auseinanderfalls Jugoslawiens und der darauffolgenden Kriege und Konflikte der 1990er Jahre gerieten Minderheiten wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit und mit der üblichen Verzögerung auch in den Blickwinkel der Wissenschaft. Entgegen der Sichtweise vergangener Jahrzehnte, in denen Minderheiten als entweder lobens- oder aber beklagenswerte kulturelle Relikte der Vormoderne einer eher folkloristischen Betrachtungsweise unterworfen waren, gelten sie nun als Problem - als Problem für die Einheit und Überlebensfáhigkeit des Nationalstaates, als Problem für den europäischen Vereinigungsprozess, als Problem für den Weltfrieden und nicht zuletzt aber auch als Problem für sich selbst. Die Betrachtungsweise wird dabei stets auf zwei Bereiche verengt: Da ist einmal das alt bekannte Problem, dass jeder neu entstandene Nationalstaat stets aufs Neue Minderheiten produziert, die wiederum im Prozess ihrer eigenen Nationswerdung weitere Minderheiten entstehen
lassen. Ein bis dato nicht enden wollender, gesetzmäßig ablaufender Vorgang, der als vorläufig letzten Höhepunkt in Europa die serbische Minderheit im Kosovo hervor gebracht hat. Im Rahmen des EU-Vereinigungsprozesses betraf und betrifft dies besonders die Russen als Minderheiten in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, die nun Mitgliedstaaten der EU geworden sind oder dies noch werden könnten. Es betrifft aber da Staatsgrenzen selten auch Sprachgrenzen sind — beispielsweise auch Polen im Baltikum oder in der Tschechischen Republik, Slowaken in Ungarn oder Ungarn in Rumänien und so weiter und so fort. Jenseits jeder staatlichen Grenze, die in Europa gezogen worden ist, finden sich auch Sprecher der Staatssprache, die auf der hiesigen Seite gesprochen wird, ein Problem, das seit 1918 („Selbstbestimmungsrecht der Völker“) weltweite Beachtung, aber noch längst keine Lösung gefunden hat. Dennoch muss jeder neu entstandene Staat legale Regelungen entwickeln, wie - unter den meist kritischen Augen des „Mutterlandes“, das sich gerne als Schutzmacht aufspielt - mit den Sprechern der Sprache des Nachbarlan des umgegangen werden soll (ein Problem, das für bereits existierende Staaten allerdings auch besteht). Allen (nicht nur in diesem Band behandelten) Staaten, die durch Sezession entstanden sind, ergaben und ergeben sich zudem Schwierigkeiten bei der Definition der Staatsbürgerschaft, ein Problem, das für viele ehemalige Staatsbürger der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien beispielsweise bis heute nicht geklärt ist. Südost-Forschungen 72 (2013) 597
Kunstgeschichte, Volkskunde Und daneben haben wir in Europa (und nicht nur hier) ein Konglomerat von ehedem Zigeuner und heute immer häufiger (und fälschlicherweise) Roma genannten Minderhei ten, die so gar nicht zur Nationenbildung neigen, vor allem da sie sprachlich und kulturell so verschieden und auch verschiedenen Ursprungs sind, so dass ein Zusammenfinden allein aus sprachlichen Gründen nicht möglich ist. Auch diese stellen einige der letzten Beitrittsländer und damit nun die EU in ihrer Gesamtheit vor Probleme, deren Lösung noch lange Zeit ausstehen wird. Und da sich die Existenz von Minderheiten in neu entstandenen Staaten in den letzten zwanzig Jahren (erneut) als recht konfliktreich erwiesen hat, haben sich das Europäische Parlament und die EU-Verwaltung dieser Thematik angenommen und sowohl die Veran kerung von Minderheitenrechten in der Gesetzgebung als auch die aktive Partizipation und Förderung der Minderheiten auf ihre Fahnen geschrieben. Alle Beitrittskandidaten nach 1995 sind darauf verpflichtet worden, den Minderheitenschutz gesetzlich zu verankern. Davon handelt dieses Buch: „For those countries hoping to join the European Union (EU), minority protection has become a key criterion in the accession process. But how has this political criterion been translated into practice? [.] While there is little doubt that the EU had in many cases a far-reaching impact on domestic policies and politics in acces sion countries, the initial enthusiasm is gradually giving way to a more sober reflection on where and when the EU really mattered [.]. This is also the
case in the area of minority protection, a policy area that has been largely ignored in the literature on EU accession. [.] By providing a comprehensive assessment of minority rights in Central and Eastern Europe, [.] this book aims to start filling these research gaps“ (3). Die überbordende Fragestellung lautet dabei, welchen Einfluss die EU auf die Gesetzge bung zum Schutz ethnischer Minderheiten im Laufe des Beitrittsprozesses hatte und inwie weit deren Vorgaben umgesetzt worden sind bzw. welche Initiativen von den betreffenden Staaten selbst ausgegangen sind. Das Buch beleuchtet daher den Prozess in allen Ländern, die 2004 und 2007 Mitglied der EU geworden sind: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn. Derzeitige Beitrittskandidaten fanden keine Berücksichtigung. Das Buch ist ֊ zumindest der Konzeption nach — in drei Teile gegliedert, wobei der letzte jedoch nur aus kurzen Schlussbemerkungen und -folgerungen des Herausgebers Bernd Rechel besteht (227-232). Der 1., einleitende und allgemeine Teil beginnt mit der (eben falls von Bernd Rechel verfassten) Einführung in die Thematik (3-16), in der einerseits die Grundlagen behandelt werden wie beispielsweise die Kopenhagener Kriterien, die im Juni 1993 vom Europäischen Rat beschlossen worden sind, um vor der Osterweiterung die Be dingungen festzulegen, die Beitrittskandidaten vor Verleihung der Vollmitgliedschaft erfüllen müssen. Andererseits werden hier bereits die wesentlichen Feststellungen vorweggenommen. Dieser Teil enthält vier weitere
Beiträge, die den darzustellenden Prozess unter allgemei nen, länderübergreifenden Aspekten beleuchten: Gwendolyn Sasse („Tracing the const ruction and effects of EU conditionality“, 17-31) untersucht den Monitoring-Prozess, mit dessen Hilfe die Fortschritte bei der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien in Bezug auf Minderheitenfragen gemessen werden sollten, Guido Schwellnus („Anti-discrimination legislation“, 32-45) die Umsetzung der Richtlinien zur Verhinderung von rassischer und 598 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen ethnischer Diskriminierung und Rainer Hoffmann („The Framework Convention for the Protection of National Minorities“, 46-60) diejenige des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (FCNM). Peter Vermeersch und Melanie Ram („The Roma“, 61-73) beschreiben dann die besondere Situation der Roma, die eben auch ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich der Europäische Rat und die Europäische Kommis sion genötigt sahen, im Verlauf des Beitrittsprozesses der zehn Kandidatenländer auf die Einführung geeigneter gesetzlicher Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten zu beharren. Die besondere Hervorhebung der Roma ist in ihrer marginalisierten Situation begründet, aber auch in den Tatsachen, dass sie als Minderheiten in allen behandelten Ländern vertreten sind und verschiedene EU-Institutionen ein vitales Interesse an der Gleichstellung der Roma angemeldet haben. Leider ist dieser Beitrag aber nicht von Fachleuten verfasst worden, so dass unklar bleibt, wer überhaupt mit „Roma“ gemeint ist. Es drängt sich der Verdacht auf, als seien nicht nur die eigentlichen Roma angesprochen ֊ also diejenigen Minderheiten, die sich selbst als Roma bezeichnen und Romanes als Muttersprache sprechen -, sondern all diejenigen Gruppen, die üblicherweise als Zigeuner bezeichnet werden, also Minderheiten, die in einer vergleichsweise marginalen Position leben und ähnliche Beschäftigungsfelder abdecken, aber eine andere Muttersprache (hauptsächlich Rumänisch, Ungarisch oder Türkisch) sprechen. Dadurch, dass die Autoren nicht so recht wussten, über wen sie sch reiben, haben sich
auch allerhand lästige Unsicherheiten und ärgerliche Fehlinformationen in ihren Beitrag eingeschlichen. Glücklicherweise - könnte man sagen - handelt es sich um ein vergleichsweise kurzes Kapitel in einem ansonsten grundsolide recherchierten und verfassten Buch. Der 2. und Hauptteil des Bandes besteht aus den Fallstudien der zehn Länder, die 2004 und 2007 Mitglied der Europäischen Union geworden sind. Obwohl alle behandelten Staa ten den Transformationsprozess vom kommunistischen Staatswesen zur westlich geprägten Demokratie durchlaufen haben und auch räumlich nahe beieinanderliegen und teilweise gemeinsame Grenzen haben, sind die Unterschiede in den jeweiligen ethnischen und sprachlichen Zusammensetzungen und den entsprechenden Minderheitensituationen doch recht groß. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Reaktionen der Gesetzgeber, auf die (teilweise neu entstandenen) Minderheitenproblematiken wie auch auf die Bedingtheiten des EU-Beitrittsprozesses. Alle Autoren sind dennoch einer gemeinsamen Vorgehensweise verpflichtet, die sich in einer weitgehend gleichen Gliederung der einzelnen Länderdar stellungen niederschlägt: „All of the country case studies cover the major developments since 1989, highlight the salient issues in minority rights politics, try to decipher the role domestic and international factors have played in shaping minority rights, discuss whether there have been any major changes once EU accession was secured, and examine the actual implementation of relevant policies and legislation“ (13). Thema des Buches sind Minderheitenrechte und allein diese
rechtlichen Aspekte werden auch behandelt. Alle Beiträge sind genau auf die Fragestellung und die Vorgaben des He rausgebers fokussiert und halten sich mit selten erlebter und in dieser Beziehung wirklich vorbildlicher Disziplin genau daran. Dabei sind bis auf den kurzen Beitrag über Roma, der von profunder Unkenntnis zeugt, alle Beiträge sehr informativ und geben den aktuellen Stand der Dinge wieder. Südost-Forschungen 72 (2013) 599
Kunstgeschichte, Volkskunde Allerdings handelt es sich um eine (typisch) politikwissenschaftliche Arbeit, rein deskrip tiv, ohne jeglichen theoretischen Überbau oder Versuch, die beschriebenen Phänomene zu erklären. So liegt nun zwar eine umfassende Dokumentation und solide Bestandsaufnahme der Gesetze zum Schutz von Minderheiten und dem Verbot der ethnischen und rassischen Diskriminierung in den Beitrittsländern der Jahre 2004 und 2007 vor, allerdings auch nicht mehr. Es wird nicht thematisiert, welche Auswirkungen die Gesetzgebung auf die jeweiligen Staaten zeigt oder welche Bedeutung die beschriebenen legislativen Vorgänge auf den europäischen Vereinigungsprozess haben. Es wird auch nicht nach den Ursachen gefragt, die hinter den Vorgaben der EU, aber auch den Eigeninteressen der betroffenen Staaten liegen. Auch die historische Entwicklung der Minderheitenpolitiken der einzelnen Staaten wird nicht hergeleitet. Die Minderheiten selbst treten allein als gesetzgeberisches Problem auf. Ihre Reaktionen auf und mögliche Auswirkungen durch diese Gesetzgebung sind daher auch nicht Thema des Buches. Bonn Marco Heinz Angelike Panopulu, Συντεχνίες και θρησκευτικές αδελφότητες στη βενετοκρατούρενη Κρήτη [Korporationen und Bruderschaften auf Kreta während der Venezianerherrschaft]. Athen, Venezia: Istituto di Studi Bizantini e Postbizantini di Venezia 2012 (Thomas Phlanginēs, 7). 551 S„ Abb., Tab., ISBN 978-960-7743-61-9 Das venezianische Kreta (1211-1669) gehört ohne Zweifel zu den am besten erforsch ten Regionalzonen Gesamteuropas in der Frühen Neuzeit aufgrund der großen Anzahl
erhaltener Notariatsakten, die in den weiten Sälen der Staatlichen Archive von Venedig gehortet sind und noch auf mehrere Forschergenerationen warten, die auch die letzten Facetten des Alltagslebens einer faszinierenden Gesellschaft zwischen Ost und West an der Südperipherie des Alten Kontinents in der Renaissance- und Barockzeit ans Licht bringen. Diese Quellenpräferenz bezüglich der Notariatsakten hat sich erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, nachdem seit dem Ende des 18. Jh.s vor allem die offiziellen Akten der Administration der Serenissima durchforstet wurden und fast ausschließlich im Vordergrund gestanden haben. Doch die Geschichte „von unten“, die auch Mentalitäten, Alltagspraktiken, individuelle Handlungsmotivationen, Gesellschaftsleben, ethische Normen und Formen der Interaktion in einer Art historischer Kulturanthropologie umfassen, lässt sich mit solchen offiziösen Quellen nicht schreiben. Vereins- und Zunftwesen spielen in jedem Fall eine entscheidende Rolle für das Gesell schaftsleben; im „institutionsarmen“ Südosteuropa der Neuzeit bildet die Großinsel Kreta eine Ausnahme, denn die Organisation der Berufsgilden und Bruderschaften überträgt in Struktur und Terminologie im Wesentlichen die komplexen Gegebenheiten der Lagunen stadt. Daraufverweist das kurze Vorwort von Chrysa Maltezu (9-11). Angeliki Panopulu, heute Redakteurin am Institut für Historische Studien der Nationalen Forschungsstiftung 600 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen in Athen, hat seit 1988 eine ganze Reihe von Spezialstudien zu Facetten ihres Dissertations themas vorgelegt; die Fülle des Archivmaterials und der Reichtum an Detailinformationen sind schier überwältigend. Die Vorlage dieser Monographie bedeutet ohne Zweifel einen großen Fortschritt in der ohnehin dynamischen Forschung der Kultur- und Sozialgeschichte Kretas unter der Venezianerherrschaft, die aufgrund der Quellenlage zu den am besten erforschten Perioden der Großinsel seit der minoischen Kultur zählt. Die Einleitung (13-34) geht auf die Forschungslage zum Zunft- und Bruderschaftswesen in Venedig und im übrigen hellenophonen Raum ein, auf die Spezifik der Notariatsakten und anderer Quellengruppen, auf den Forschungsstand in der internationalen Bibliographie sowie auf den eigenen langjährigen Forschungsweg, der zu diesem bemerkenswerten und gewichtigen Ergebnis geführt hat. Der 1. Teil der Studie beschäftigt sich mit Organisation und Funktion der religiösen Bruderschaften und professionellen Berufsgilden, der 2. Teil geht auf die spezifische Situation in Kreta mit der Erfassung aller einschlägigen quellen kundigen Körperschaften, ihrer Aktivitäten und der namentlich bekannten Personen, die in führenden Positionen daran beteiligt waren, ein. Im 1. Teil (35-164) steht zuerst der institutioneile Aspekt im Mittelpunkt - katholische und orthodoxe Bruderschaften (in den Städten bereits seit 1348, besonders ab dem 16. Jh., in den Dörfern eher vereinzelt), wobei die katholischen Bruderschaften durchwegs überwiegen (in Candía 16 katholische und 5 orthodoxe).
Berufsgilden und professionellen Zünfte sind seit ca. 1500 nachzuweisen (in Candía zuerst die Kalfaterer und Schiffstischler, Schuster und dann weitere). Dann folgt eine Analyse der Rolle und Eingriffe der staatlichen und kirchlichen Behörden (Genehmigung, Schlichtungen, Abstellen von Missbrauchen) unter Bevorzugung der Arbeiter in den Reedereien (maestranze), deren Zunftorganisation auch in der Lage war, auf die Obrigkeit Druck auszuüben. Ein Themenkreis betrifft die Organisationsformen (59-88). Um die behördliche Erlaubnis zu bekommen, mussten elaborierte Reglemente und Statuten eingereicht werden, die die Details zu bestimmen hatten: den Schutzheiligen und den Sitz der Bruderschaft bzw. der Berufsgilde (z. B. die Kalafater hatten den Gekreuzigten, die Schuster den Hl. Nikolaos usw.) und die Kirche bzw. das Kloster ihrer Residenz, die ins Auge genommenen Aktivitä ten und die innere Hierarchie. Festgehalten war dies in den einzelnen capitole der Statuten (;mariegole): die Administrationsorgane (Generalversammlung - capitolo, der Verwaltungs rat — banca, der Vorsitzende — vardian!guardian, consiglieri, sindici, der Sekretär — serivan, bei den Bruderschaften der Prior, der vicario, die procuratori, der sacristano), die Embleme (Banner) und das offizielle Ornat. Ein weiterer Themenkreis geht auf die gesellschaftliche Zusammensetzung ein (89-104): Inskription, Aufnahme und Anzahl der Mitglieder, ihre soziale Herkunft und ökonomische Stellung, Frauen als Mitglieder. Danach geht es um die Finanzierungsquellen (105-116): Mitgliedsbeiträge, Pfründe und Zuwendungen, die Art der
Hilfeleistungen. Es folgt die philanthropische Tätigkeit (117-134, bei den Gilden nur für die Mitglieder): Mitgift und Aussteuer für Mädchen, Almosen für Mittellose, Kranke und Bejahrte, Erstellung von Be gräbniskosten, Freikauf von Gefangenen, Versklavten und Verurteilten (bes. bei Matrosen aufgrund der Piraterie), Leitung von wohltätigen Institutionen. Dazu kommt noch der Kirchen(um-/aus-)bau, Restauration und Dekoration des Zunft- bzw. Bruderschaftssitzes Südost-Forschungen 72 (2013) 601
Kunstgeschichte, Volkskunde (135-146), die Errichtung von Grabmälern, die Organisation von Festen und Litaneien (147-164, z. B. Fronleichnamsprozession, Flagellanten am Karfreitag, Festtag des Schutz heiligen). Der 2.Teil der Monographie (165-460) geht dann ins Detail und stellt die Gesamtin formationen zu den einzelnen Zünften und Bruderschaften auf Kreta vor allem im 16. und 17. Jh. zusammen. Hier sind die einzelnen Funktionsträger mit Datum und Quelle genannt, Mitglieder, Aktivitäten usw. Bei den katholischen Bruderschaften (165-243) macht den Anfang die „Sancta Maria Cruciferomm“, gefolgt von „San Vincenzo (del Santissimo Sagramento)“ (mit besonders detaillierten Quellen), die Flagellanten-Bruderschaft „Verbe ratorum Sánete Crucis“, „Santa Barbara di bombardieri“, „di San Sebastiano“, „San Zorzi“, „San Zorzi intitolato Venetico“, „di Santissimo Nome di Dio et San Rocho“, „di Madonna di Santissimo Rosario“, „di San Giovanni Battista“, „del Cordon di San Francesco“, „di San Carlo Borromeo“, „Vergine di Carmeni“ (Karmeliter), „di Cintura/Centuratorum Sancti Augustini“, „del Angelo Custode“ usw. Die orthodoxen Bruderschaften sind weit weniger, dafür umso bedeutender (245-307): „Dei Genitricis Domina Angelorum“ (schon im 14. Jh.), „Santa Maria Trimartiri“ (17. Jh.), „Santo Onufrio“, „San Spiridon“ usw. Die Analyse der Berufsgilden (309-460) beginnt mit den Kalafatern, gefolgt von den Schiffstischlern (marangoni), den Schustern, den Maurern (murari), den Tischlern (marangoni di soffitti), den Matrosen, den Barbieren, den Malern pittori, darunter auch El Greco), den
Schneidern {sartori), den Fassbindern (botteri, barileri), den Kleinhändlern {mereen), den Seilmachern (filacanapi), den Lastenträgern {bastasi), den Bäckern, Fischern, Rudermachern, Sattelma chern, Gärtnern, Wirten usw. Ein weiterer Teil der Monographie geht aufdie Verteilung von Gilden und Bruderschaften auf die Städte und Dörfer des venezianischen Kreta ein (461-476). Den umfangreichen Band beschließen ein Epilog (477-484), die Archivquellen (485-490), eine reichhaltige Auswahlbibliographie (491-506), ein erschöpfendes Namens- und Ortsverzeichnis (507544), das italienische riassunto sowie das Inhaltsverzeichnis. Die Arbeit besticht durch die minutiöse Quellenarbeit, den prosopographischen Reich tum, die zeitraubende Meinarbeit der Detailverifizierung, aber auch durch die ausgewogene Zusammenschau und stilistische Klarheit. Mit Gewissheit wird dieses Buch für lange Zeit ein Referenzwerk zur Kulturgeschichte des venezianischen Kreta bleiben, aber auch Aus gangspunkt für eine ganze Reihe von neuen Fragestellungen, die Facetten des Alltagslebens vor allem im 16. und 17. Jh. betreffen. Athen, Wien 602 Walter Puchner Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Valter PucHNER, Laographia [Volkskunde]. 8 Bände. Athen: Ekdoseis Armos 2009-2013. Bd. 1: Θεωρητική λαογραφία. Εννοιες, μέθοδοι, θεματικές [Theoretische Volkskunde. Begriffe, Methoden, Themen], 2009. 691 S., ISBN 978-960-527-508-2, € 35,66 Bd. 2: Συγκριτική λαογραφία A '. Έθιμα και
τραγούδια της Μεσογείου και της Βαλκανικής [Vergleichende Volkskunde, Bd. 1: Bräuche und Lieder im Mittelmeer und im Balkan], 2009. 362 S., ISBN 978-960-527-547-1, € 20,39 Bd. 3: Συγκριτική λαογραφία В '. Δημώδη βιβλία καιλαϊκά θεάματα στη Χερσόνησο του Αίμου [Vergleichende Volkskunde, Bd. 2:
Volkstümliche Bücher und populare Schauspiele auf der Balkanhalbinsel]. 2009. 252 S., ISBN 578-960-527-558-7, € 17,32 Bd. 4: Ιστορική λαογραφία. Η διαχρονικάτητα των φαινομένων [Historische Volkskunde. Die diachrone Dimension der Phänomene], 2010.750 S., ISBN 978-960-527-610-2, € 45,43 Bd. 5:
Κοινωνιολογική λαογραφία. Ρόλοι, συμπεριφορές, αισθήματα [Soziologische Volkskun de. Rollen, Verhaltensweisen, Gefühle]. 2010.422 S., ISBN 978-960-527-616-4, €28,27 Bd. 6: Η ξεχασμένη νύφη. Από την Ιταλική Αναγέννηση στο ελληνικό λαϊκά παραμύθι [Die vergessene Braut. Von der italienischen
Renaissance bis zum griechischen Volksmärchen]. 2011. 470 S., ISBN 978-960-527-675-1, € 30,99 Bd.7: Μυθολογικά και ά)λα θέματα [Mythologische und andere Themen], 2012. 227 S., ISBN 978-960-527-718-5, € 15,98 Bd. 8: Μελέτες για το είληνικά δημοτικά τραγούδι [Studien zum griechischen Volkslied]. 2013.
542 S., ISBN 978-960-527-753-6, € 33,֊ Walter Puchner/Manóles Barbunēs, Greek Folk Culture. A Bibliography of Literature in
English, French, German and Italian on Greek Folk Culture in Greece, Cyprus, Asia Minor (before 1922) and the Diaspora (up to 2000). Athens: Laographia 2011 (Bulletin of the Hellenic Laographic Society. Supplement, 15)- 732 S., ISBN 978-96089854-5-2 Valter Puchner, Δοκίμιαλαογραφικής θεωρίας [Essais zur volkskundlichen Theorie]. Athen: Ekdoseis Gutenberg 2011. 374 S., ISBN 978-960-01-1428-7, € 25,Den Lesern der Südost-Forschungen das wissenschaftliche Werk Walter Puchners vor zustellen, bedeutet, Eulen an dessen Wirkungsstätte Athen zu tragen. Seit Jahrzehnten fördert Walter Puchner die kulturgeschichtliche, anthropologische und theatergeschicht liche Erforschung der Hämushalbinsel. Als Rezensent vermittelt er Jahr für Jahr zudem wesentliche Neuerscheinungen aus der griechischen Fachwelt. Sein eigenes Œuvre hat Walter Puchner in einer großen Zahl von Aufsätzen vorgelegt, die, in vielen Zeitschriften und Sammelwerken erschienen, nicht immer leicht zugänglich sind. In den letzten Jahren nun hat er die Sammlung dieser Aufsätze sowohl in deutscher wie in griechischer Sprache an die Hand genommen. Anzuzeigen ist hier in erster Linie die bereits acht stattliche Bände mit rund 4 000 Seiten umfassende Werkausgabe volkskundlicher Studien, die den Reihentitel „Laographia“ trägt. Puchners Ansatz, den südosteuropäischen Raum gleichsam von Süden her zu erschließen, aus einem südosteuropäisch verstandenen Griechenland nach Norden zu blicken, warf in den letzten Jahrzehnten wertvolle Früchte ab, denn allzu off wird Südosteuropa primär aus südslawischer Perspektive betrachtet und die
nichtslawischen Kulturen als Annexe behandelt. Südost-Forschungen 72 (2013) 603
Kunstgeschichte, Volkskunde Dabei wird seit dem Rückgang humanistischer Bildung gerade das griechische Element aus Südosteuropa gleichsam ausgeschlossen, eine Entwicklung, der das vom offiziellen Griechenland kultivierte Bild eines mediterranen, vom Balkan abgekoppelten Hellas kräftig zuarbeitet. Puchner betreibt Balkanologie als Sprachkulturen- und religionenübergreifende Kulturwissenschaft und bewegt sich mit beeindruckender Sicherheit in allen kulturellen Ausdrucksformen zwischen den Polen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wobei Übergangs erscheinungen besondere Aufmerksamkeit gilt. Sein räumlicher Blick umfasst nicht nur den Balkan als ganzheitlichen Kulturraum, sondern geht gleichsam entgrenzt weit in den ostmediterranen Bereich hinaus. Es ist dieser besondere Zugang zur südosteuropäischen Kultur, die gerade Epochen, die von der rein historischen Forschung eher vernachlässigt werden, eine eigene Tiefe und Bedeutung verleiht und darüber hinaus gängige Epochen grenzen relativiert. Im Vorwort zum 1. Band schreibt Puchner, das Wiederaufgreifen älterer Texte zur Volkskunde sei „gewissermaßen eine Rückkehr zu seiner ersten Liebe“. Wie außerordentlich fruchtbar diese Liebe in den letzten rund vier Jahrzehnten war, kann hier nur durch eine Aufzählung der Inhalte angedeutet werden. Die Bände sind dabei nach Themenschwerpunkten untergliedert: Bd. 1 „Theoretische Volkskunde. Begriffe, Methoden, Themen“ stellt als einziger der Bände eigentlich eine eigenständige Monographie dar. Bd. 2 „Vergleichende Volkskunde, Bd. 1 : Bräuche und Lieder im Mittelmeer und im Balkan“ bietet
Aufsätze zu Anprangerung und Tod des Judas, zum Frühlingsbrauch um die Wiedererweckung des Lazarus, zum „Regenmädchen“, zu Richtern und Gerichten im Karneval und zu ekstatischen Tänzen im Balkanraum. Bd. 3 „Vergleichende Volkskunde, Bd. 2: Volkstümliche Bücher und populare Schauspiele auf der Balkanhalbinsel“ enthält die griechische Fassung des Aufsatzes „Zu Rezeptionswegen populärer (Vor-)Lesestoffe der Belletristik in Südosteuropa im 18. und 19. Jahrhundert“1, während die zweite im Band abgedruckte Arbeit Elemente der Studie „Performative Riten, Volksschauspiel und Volkstheater in Südosteuropa“2 weiterentwickelt. In Bd. 4 „Historische Volkskunde. Die diachrone Dimension der Phänomene“ sind Bei träge veröffentlicht u. a. zum Umgang mit heidnischen Götterbildnissen in frühchristlicher Zeit, zum in weiten Teilen des Balkans verbreiteten Brauch der Rosalien, zur Verbrüderung {Adelphopoiia, pobratimstvo), zum venezianisch-osmanischen Krieg 1685-1689 in deut schen Volksliedern, zum anonymen kretischen Gedicht,Altes und Neues Testament“, zu französischen und italienischen Quellen zur frühneuzeitlichen Volkskultur auf Naxos, zu Volksbräuchen im Hirtenmilieu, zum byzantinischen Ödipus und dem apokryphen Judas sowie zu Sabatai Zvi und dem Karneval von Zante im Jahre 1666. Bd. 5 „Soziologische Volkskunde. Rollen, Verhaltensweisen, Gefühle“ beinhaltet stark erweiterte bzw. umgeschriebene griechische Fassungen von Aufsätzen wie „Spuren frauenbündischer Organisationsformen im neugriechischen Jahreslaufbrauchtum“3, „Normative Aspekte der Frauenrolle in den exklusiv femininen Riten des
hellenophonen Balkanraums 4, „Frauenbrauch. Alterssoziologische Betrachtungen zu den exklusiv femininen Riten Süd osteuropas“5, „Die jRogatsiengesellschaften. Theriomorphe Maskierung und adoleszenter Umzugsbrauch in den Kontinentalzonen des Südbalkanraumes“6, „Groteskkörper und Verunstaltung der Volksphantasie. Zu Formen und Funktionen somatischer Deformation 7, 604 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen „Lob- und Ansingelieder als Quellen der historischen Ruralsoziologie“8, „Körpersprache. Am Beispiel Griechenlands“9, „Die Memoiren des griechischen Revolutionsgenerals Markryjannis aus kultursoziologischer Sicht“10. Bd. 6 „Die vergessene Braut. Von der italienischen Renaissance bis zum griechischen Volksmärchen“ bildet zugleich Bd. 1 der „Märchenkundlichen Studien“. Bd. 7 „Mythologische und andere Themen“ (zugleich Bd. 2 der „Märchenkundlichen Studien“) versammelt Abhandlungen zu Märchenstoffen um Ödipus, Orpheus und Pelops, aber auch z. B. eine Studie zur südslawischen Märchensammlung Friedrich Salomo Krauss’, eine Arbeit zum Bild des Griechen in südslawischen Märchen und eine Analyse des Gelehrtenarchivs von Georgios Megas. Bd.8 schließlich umfasst „Studien zum griechischen Volkslied“, darunter ein griechisches Lied zur 2. Türkenbelagerung Wiens (1683) und Studien z. B. zur „Erophili“ des Georgios Chortatsis in mündlicher Überlieferung und zur griechischen Zeitgeschichte im Spiegel des Volksliedes. Die „pièce de résistance“ bildet eine rund 250 Seiten umfassende Forschungs geschichte „Vierzig Jahre Forschung zum griechischen Volkslied“. Diese gesammelten Werke zeichnet aus, dass der Verfasser die einzelnen Beiträge biblio graphisch auf den neuesten Stand gebracht und teilweise auch umgearbeitet hat. Es handelt sich also um weit mehr als einen Abdruck bekannter Arbeiten - vielmehr ist die Werkausgabe „Laographia“ als Fassung (vorerst) letzter Hand zu bezeichnen und zu verwenden. Die stupende Meisterschaft über eine ausufernde Forschungsbibliographie
kennzeichnet Puchners Werk. In Ergänzung zu seiner Werkausgabe hat er als bibliographisches Hilfsmittel zudem eine 730 Seiten starke Forschungsbibliographie zur griechischen Volkskultur vorge legt. 2011 erschien bei Gutenberg in Athen ein Band mit Essays zur volkskundlichen Theorie mit Aufsätzen wie „Wer ist schließlich und endlich das Volk?“, „Der theatrale Charakter der popularen Kultur“ oder „Literarische Verwendungen der Volkskunde“. Ein derart umfangreiches Opus kann kaum auf einen Nenner gebracht werden und entzieht sich daher auch der Gattung der Rezension. Die angesichts der Breite der Themen geradezu andeutungsweise Anzeige in den „Südost-Forschungen“ soll den an südosteuropäi scher (Volks-) Kultur interessierten Leser mit Nachdruck auf diese Werkausgabe hinweisen. Ein Wermutstropfen freilich bleibt: Vielen Südosteuropawissenschaftlern werden die acht Bände aufgrund der Sprachbarriere verschlossen bleiben. Doch gerade dies sollte ein Grund mehr sein, das immer noch vorherrschende Bild eines slawisch geprägten Südosteuropa aufzugeben und gerade die griechische Dimension südosteuropäischer Geschichte, wie sie Walter Puchner so eindrucksvoll vertritt, auch in die Forschungspraxis der Geschichtswis senschaft zu überführen. Wien Oliver Jens Schmitt 1 Südost-Forschungen 65166 (2006/2007), 165-225. 2 Erschienen in: Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes. Wien, Köln, Weimar 2009, 253-298. 3 Schweizer Archiv fiir Volkskunde 11 (1976), 146-170. 4 In: Norbert Reiter (Hg.), Die Stellung der Frau auf dem Balkan. Wiesbaden 1987,
133-141. 5 In: Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes, 151-176. Südost-Forschungen 72 (2013) 605
Kunstgeschichte, Volkskunde 6 Südost-Forschungen 36 (1977), 109-158. 7 In: Burkhard Pöttler (Hg.), Innovation und Wandel. Festschrift für Oskar Moser. Graz 1994, 337-352. 8 In: Walter Puchner, Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 169-183. 9 In: Dagmar Burkhart (Hg.), Körper, Essen und Trinken im Kulturverständnis der Balkan völker. Berlin 1991, 149-155. 10 Südost-Forschungen 34 (1975), 166-194. Aura Xepapadakë, Παύλος Καρρέρ [Pavios Karrer]. Athen: Fagotto Books 2013. 504 S., zahir. Abb., ISBN 978-960-6685-52-1, € 28,Die griechische Musikwissenschaft beginnt seit etwa drei Jahrzehnten, sich für ihre nicht unbedeutende westeuropäische Musiktradition zu interessieren. Diese stand seit der Nach kriegszeit im Schatten der Beliebtheit der rebetika-hieået und der Popularität von Kompo nisten wie Mikis Theodorakis, Manos Chatzidakis oder Stavros Xarchakos, die allerdings auch komplexere Kunstmusik produziert haben, die aber nicht so bekannt geworden ist wie die Liedproduktion und die Intonation von Lyrik aus der Feder preisgekrönter Dichter. Die wesdiche Tradition des Musikschaffens im hellenophonen Raum in kontrapunktischem Gegensatz zur byzantinischen Kirchenmusik geht auf das venezianische Kreta zurück (bis 1669).1 Komponisten wie Francesco Leontaritis im 16. Jh., dessen Kompositionen in Handschriften zum Teil erhalten sind, sind über Venedig bis an den Hof nach Salzburg und München gekommen.2 Auf den Ionischen Inseln, wo auch die Kirchenmusik im westlichen Sinne reformiert wurde, wird diese Tradition ungebrochen seit dem 18. Jh. fortgefuhrt, da 1733 das Teatro San
Giacomo in Korfu seine Pforten geöffnet hat und eine Operntradition installierte, die bis zum 2. Weltkrieg reicht, nachdem italienische Opernaufführungen auch in Hermupolis auf Syra, in Patras und Athen importiert worden sind.3 Zu Beginn der 2. Hälfte des 19. Jh.s beginnen griechische Opernkomponisten die vor herrschende italienische Schule - allerdings bereits in Konkurrenz mit der französischen Oper, aber immer noch im traditionellen italienischen Stil, wenn auch jetzt mit natio nalpatriotischen Themen aus der Revolution von 1821 - abzulösen, und einer der ersten wesentlichen Komponisten dieser Tradition ist Pavlos Karrer (1829-1896), der zusammen mit Spyros Samaras (1861-1917), Nikolaos Chalikiopulos Mantzaros (1795-1872), SpyridonXyndas (1810-1896) und Dionysios Rodotheatos (1849-1892)-die Werke der beiden Letzten sind zu einem Großteil verloren gegangen -, die heptanesische Musik-Schule der Ionischen Inseln begründet hat. Darüber gibt auch der Prolog von Giorgos Leotsakos Auskunft (7-13). Ein Teil der Werke von Karrer ist auch diesem Schicksal anheimgefallen, was zu einem Großteil auf die Bombardierungen des 2. Weltkriegs und das katastrophale Erdbeben von 1953 zurückzuführen ist. Die ausgezeichnet belegte und quellenmäßig erschöpfende Monographie von Avrà Xepapadaku, heute Lektorin für Theaterwissenschaft an der Universität Kreta in Rethymno, geht auf ihre Dissertation aus dem Jahre 2005 zurück; die Memoiren des Komponisten 606 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen hatte Leotsakos schon 2003 herausgegeben. Zur Rekonstruktion der italienischen Karriere des Komponisten aus Zante wurde auch die italienische Presse, vor allem die Zeitungen von Milanoherangezogen. Darüber berichtet der Prolog der Autorin (15-18), „Chordisma“ genannt, Einstimmung der Orchesterinstrumente vor der Vorstellung ֊ die Monographie verwendet als Kapitelüberschriften Termini der Opernauffiihrungen: Ouverture, Ano Primo, Atto Secondo, Atto Terzo, Atto Quattro, Tutti (Finale), Encore! Das Einleitungskapitel (19-68) geht auf die Jugendzeit des Komponisten auf Zante ein, auf die Europareise 1842/1843 mit seinem Onkel und die Preisverleihung für seine erste Komposition von der Philharmonischen Gesellschaft auf Korfu 1849 durch Mantzaros. Auf sein Talent aufmerksam geworden, schickte man ihn zu Musikstudien nach Italien - „Atto Primo: Il giovane maestro“. Dies bildete das bisher dunkelste Kapitel in seiner Biographie (Lücke in seinen Memorien von 1850 bis 1856), nun vorbildlich aus italienischen Quellen aufgearbeitet. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes im Mailand in den risorgimentofahren dominiert Verdi an der Scala di Milano. Der griechische dilettante Paolo Carrer wird rasch mit eigenen Werken bekannt (das Ballett „Bianca del Belmonte“), im klassischen Sinne „studiert“ dürfte er kaum haben. Seine erste Oper, „Dante e Bice [Beatrice]“ wird 1852 im Theater Carcano von Milano aufgeführt; es folgen das komische Ballett „Cadet, il barbiere“ 1853 im Teatro alla Canobbiana, die Oper „Isabella d’Aspeno“ als erster großer Erfolg, gefolgt von der „Rediviva“
1856; nicht alle Partituren aus dieser Zeit sind erhalten. Noch während der Arbeiten an der Oper „Marco Bozzari“ über den Freiheitshelden der Griechischen Revolution, Libretto von Giovanni Caccialupi, und nach den erfolglosen Verhandlungen mit der Scala, dort eine seiner Opern aufzuführen, bekommt Karrer Sehnsucht nach seiner Heimatinsel, dem fior di Levante (1857). Darüber berichtet das 2. Kapitel (69-132). Im Theater ,Дро11оп“ von Zante werden seine weiteren Werke aufgeführt. Hier heiratet er Isabella latra. Auf Korfu spielt man seine „Rediviva“, 1858/1859 spielt er in Athen König Otto I. auf dem Klavier Teile des „Marco Bozzari“ vor, doch wegen des nationalpatrioti schen Themas lässt der Wittelsbacher Monarch, 1843/1844 durch eine Volkserhebung zur konstitutionellen Monarchie gezwungen, die Oper nicht aufführen. Karrer wendet sich nach Bologna, seine Frau wird zur primadonna··, Tourneen führen nach Athen und Smyrna. In Patras wird 1861 der „Marco Bozzari“ uraufgeführt, stößt jedoch auf die Feindschaft des Metropoliten und konservativer Kaufmannskreise, da die Aufführung in die Fastenzeit der Oster-Quadragesima fiel. Die folgenden Jahre des Kampfes um die Einigung der Ionischen Inseln mit Griechenland und des blutigen Arkadi-Aufstandes in Kreta 1866 finden Karrer unter anderem in Hermupolis auf Syra, wo eine Benefizvorstellung des „Marco Bozzari“ zugunsten der aufständischen Kreter stattfindet, diesmal bereits in griechischer Sprache. 1867 schreibt er die Musik für „Fior di Maria“, Libretto ebenfalls von Caccialupi, 1868 die „Kyra Frosyni“ mit der bekannten
melodramatischen Episode aus dem Ali Pascha-Mythos auf Griechisch, gefolgt von der italienischen Oper „Maria Antonetta“. Das 3. Kapitel (133-213) ist den Versuchen Karrers gewidmet, nach 1875 den Athener show business- und Theater-Markt mit seinem Tingel-Tangel der cafés chantants und den französischen Operettentruppen mit den Offenbach-Hits zu erobern. Hauptinstrumente dieser Strategie bilden seine griechischen Opern mit Themen aus dem historischen Na tionalmythos; zu diesem Zweck vertont er auch Lieder bekannter Dichter der Zeit. Die Südost-Forschungen 72 (2013) 607
Kunstgeschichte, Volkskunde ersten Vorstellungen finden im Musikkonservatorium von Athen statt. Zu den National opern kommt nun noch die „Despo“, von Karrer selbst ins Italienische übersetzt. Doch die Erfolge steilen sich eher außerhalb der im Taumel der belle époque und der eingängigen Operettenmelodien befindlichen Hauptstadt ein. In den 1880er Jahre kehrt er wieder nach Zante zurück. Dort verfasst er seine erste grand opéra „Marathon-Salamis“ und zwei Opernfragmente „Lambros, il brulottiere“ (über den Freiheitshelden Lampros Katsonis) und „Don Pigna“ (neben der ebenfalls unvollendeten griechischen Operette „Conte Spurgitis“ nach dem Libretto von I. Tsakasianos). Die Vorstellungen bewegen sich nun auf der Achse: Ionische Inseln, Patras, Italien; der Athener Markt bleibt weiterhin schwierig. Die Eröffnung des dortigen Munizipialtheaters 1888 wird einer französischen Truppe übertragen. Gegen Jahrhundertende wird der Athener Opern-Markt zu Lasten von Korfu, Zante, Hermupolis und Patras immer dominanter; zu den traditionellen Opernspielplätzen kommen nun der Piräus und Thessaloniki. In Smyrna und Alexandria sowie in Konstantinopel stößt man auf die italienische Konkurrenz; 1888 wird eine griechische „Melodramatische“ Truppe gegründet, in deren Repertoire sich auch Opern von Karrer befinden (seine letzte Oper mit dem altgriechischen Thema bleibt weiterhin ungespielt). Diesem Prozess der wachsenden Konkurrenz ist das 4. Kapitel gewidmet (215-249). Wie so viele andere griechische Truppen sucht auch diese Operntruppe mit Karrer im Repertoire den Erfolg im Ausland: 1889/1890
Marseille, Triest, Brăila, Galaţi, Bukarest, Odessa,4 Konstantinopel, Alexandrien, Kairo, Port-Said. Karrer folgt den eingefahrenen Routen der ambulanten griechischen Truppen der Zeit, die die hellenophonen DiasporaKommunitäten im Ostmittelmeer, im Balkanraum und in der Schwarzmeer-Region und ihre Nostalgie nach Vorstellungen aus der Heimat zu ihrem Überleben brauchen.5 Man sammelt auch Geld für die kostspielige Aufführung von „Marathon-Salamis“, doch diese wird charakteristischerweise erst im Jahre 2003 in Szene gesetzt, dann aber gleich mehrfach. Karrer bemüht sich von seiner Heimatinsel aus, wo er bis zu seinem Tode 1896 zurückge zogen lebt, die Aufführung seiner letzten Oper zustande zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Das Kapitel schließt mit „post mortem“, seinem Nachruf und dem Nachleben bzw. der griechischen und weltweiten Rezeption seiner Opernwerke; seine griechischen Opern hatten auch im 20. Jh. eine nicht unbedeutende Rezeption im Balkanraum. Das 5. Kapitel („Tutti“, 251-355) bringt eine Analyse der Opernwerke mit der Liste der dramatis personae (und ihrer Stimmkategorie) und einer detaillierten Inhaltsbeschreibung nach Akten sowie dem Forschungsstand zu Libretto und Partitur, Musikeinflüssen und Vergleichen mit anderen Opern oder Vertonungen desselben Librettos. Darauf geht dann ausführlich und zusammenfassend das letzte Kapitel ein (357-386), gegliedert in euro päische Einflüsse (Donizetti, Verdi der Früh- und Mittelphase, französische grand opéra) und Einflüsse der Nationalopern-Bewegung (Karrer als Vorläufer der nationalgriechischen Schule von Manolis
Kalomoiris Anfang des 20. Jh.s); Kurzkapitel erhellen nicht realisierte Pläne und unbekannte Seiten seiner Biographie (z. B. das fehlende politische Engagement im italienischen risorgimento und in der Rizospasten-Bewegung auf den Ionischen Inseln für die Vereinigung mit Griechenland). Ein umfangreicher Anhang bringt die in theaterwissenschaftlichen Arbeiten übliche Auf führungsliste der Einzelwerke (387-408). Seine Zeit haben eigentlich nur die griechischen 608 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Opern überlebt: der „Marco Bozzari“ mit 45 Vorstellungen bis 1988, die „Kyra-Frosyni“ mit 12 Vorstellungen bis 1910 und die „Despo“ mit 5 bis 2008; „Marathon-Salamis“ wurde erst 2003, 2005 und 2010 in Athen aufgeführt. Es folgen die zahlreichen, kapitelweise geordneten Fußnoten (409-449) sowie die Bibliographie (450-485), unterteilt in Studien und Monographien, Musikalisches Material, phonographische Aufnahmen, Libretti, Vor stellungsprogramme und Theaterzettel, unveröffentlichtes Archivmaterial sowie Literatur werke, Chroniken und Memoiren. Die hervorragend dokumentierte Arbeit ist von einem Namensindex beschlossen (486-504). Die Monographie von Avrà Xepapadaku ist ein ausgesprochener Lesegenuss. Versehen mit zahlreichen Illustrationen, gibt sie ein umfassendes Bild des Musiklebens und der Opernkultur der Zeit sowohl auf den Ionischen Inseln als auch in Italien zur „Studien“Zeit des Komponisten in Milano, verfolgt mit breiter Quellenkenntnis seine Versuche, in Athen Fuß zu fassen, und begleitet ihn auf den Tourneen nach Frankreich, in die Ägäis, ins Donaudelta, in die Schwarzmeer-Region, an den Bosporus, ins Ostmittelmeer und an den Unterlauf des Nils. Die Arbeit ist ausgezeichnet belegt und löst eine ganze Reihe von Forschungsfragen, die sowohl die Biographie des Komponisten als auch so manche verschollenen Einzelwerke betreffen. Sie ist das Ergebnis langjähriger Recherchen und wird noch lange als ein Meilenstein der musik- und theaterwissenschaftlichen Forschung um die Anfänge der griechischen Nationaloper und der westlichen Musiktradition in Hellas im
Allgemeinen wie auch als Referenzwerk in der einschlägigen Bibliographie zur Musik- und Theatergeschichte Griechenlands zitiert werden. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. Nikolaos Panagiotakis, Μαρτυρίες για τη μουσική στην Κρήτη κατά τη Βενετοκρατία, Thesaurismata 20 (1990), 9-169. 2 Ders., Φραγκίσκος Λεονταρίτης. Κρητικός μουσικοσυνθέτης του δεκάτου έκτου αιώνα. Venedig 1990. 3 Zum Repertoire auf den Ionischen Inseln im 18. Jh. siehe Platon Mavromustakos, Το ιταλικό μελόδραμα στο Θέατρο Σαν Τζιάκομο της Κέρκυρας (1733-1798), Parabasis I (1995), 147-192; zum Repertoire während der britischen Herrschaft vgl. Walter Puchner, Η ιταλική опера στα Επτάνησα επί Αγγλοκρατίας (1813-1863). Πρώτες παρατηρήσεις με βάση τα βιβλιογραφημένα λιμπρέτα, Porphyras 114 (2005), 591-624. 4 Vgl. nun Irena Bogdanovič/Walter Puchner, Ελληνικό θέατρο στην Οδησσό 1814-1914. Athen 2013; als eBook unter http://theatre.uoa.gr . 5 Vgl. nun Walter Puchner, Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Wien, Berlin, Münster 2012, 83-159, bes. 151-159: Erfolgsrepertoire und nationalpatriotisches stage business der fahrenden Truppen. Südost-Forschungen 72 (2013) 609
Rezensionen Sprache und Sprachwissenschaft Εύττλοια. Εόρτιος τόμος για τη к δεκαετηρίδα του Τμήματος Γλώσσας, Φιλολογίας και Πολιτισμού Παρευξείνιων Χωρών [Euploia. Festschrift der Abteilung für Sprache, Phi lologie und Kultur der Schwarzmeerländer zum 10-jährigen Bestehen]. Thessaloniki: Adelphön Kyriakidi 2010. 317 S., mehrere Abb., ISBN 978-960-467-187-8 „Euploia“ bedeutet im Altgriechischen die Seetauglichkeit fur Schiffe. Seit byzantinischer Zeit sind an den Schwarzmeerküsten rund um den für seine plötzlichen Stürme gefürchteten Euxeinos Pontos (als „fremdenfreundliches Meer“ stellt die Bezeichnung einen Euphemis mus für das Gegenteil dar) hellenophone Merkantil-Kommunitäten entstanden, die sich vorwiegend mit dem Seehandel beschäftigt haben. An den Nordküsten von Kleinasien und im Hinterland haben sich ausgedehnte hellenophone Enklaven noch im Osmanischen Reich erhalten, die als Pontus-Griechen einen besonders altertümlichen Dialekt, der noch heute lebendig ist, gesprochen haben. Nach dem missglückten Kleinasienfeldzug in der Nachfolge des 1. Weltkrieges wurden diese Minderheiten 1922 zwangsweise ausgesiedelt, wobei eine ähnliche demographische Bewegung an den südrussischen Nordküsten des Schwarzen Meeres aus Furcht vor den Repressalien der Roten Armee (Einzug in Odessa 1920) vor ausgegangen war. Die Volkskunde der Pontus-Griechen bildet als Flüchtlingsethnographie seither einen eigenen, besonders interessanten Zweig der griechischen Volkskulturforschung. Diesem Forschungszweig hat sich das Institut für Kleinasiatische Studien in Athen gewid met, weil diese
Erinnerungskultur nach den Gesetzen der Konservativität der Peripherie und der Minderheiten kulturelle Strata erhalten hat, die teilweise auf das byzantinische Jahrtausend zurückführen. Und dies ist nicht nur an der Dialektologie abzulesen, sondern auch am Brauchtum und seiner Nomenklatur. Die seit 1997 bestehende Abteilung für Schwarzmeer-Studien an der Universität in Komotini bringt zu ihrem 10-jährigen Bestehen einen Festschriftband heraus, den Iakovos Aksoglu, Evangelia Thomadaki, Georgios Salakidis und Manolis Sergis redigiert haben. Letzterer ist als Mitherausgeber des zweibändigen Handbuches zur griechischen Laographie' bekannt geworden; seine Arbeiten wurden auf diesen Seiten schon mehrfach vorgestellt.2 Der Band ist als Leistungsausweis dieser für die vergleichende Balkanistik unmittelbar interessanten universitären Institution gedacht, und beginnt mit Tätigkeitsberichten, die für jegliche Eva luierung eine Auflage sine qua non darstellen. Aufgrund des gesamtkulturellen Spektrums der Abteilung sind in den Abhandlungen ganz verschiedene Beiträge zwischen Geschichte, Rechtswissenschaft, Kulturforschung, Philologie, Linguistik und Landeskunde vertreten. Den Beginn macht Paschalis Valsamidis zu unveröffentlichten Dokumenten zu Wahlen der Epikospatshelfer in der Zwischenkriegszeit im kleinasiatischen Raum (31-54), gefolgt von Vasilios E. Grammatikas zum Begriff und der Praktik der Repressalien seit dem Al tertum und Mittelalter (55-91). Evangelia Thomadaki beschäftigt sich mit semantischen Typologien der Adjektive im Griechischen (93-109), Panagiotis G. Krimpas geht
in einem spanischen Artikel auf die Schwierigkeiten der Übersetzung juridischer Terminologie im internationalen Handelsrecht ein (111-120), Theophanis Malkidis beschäftigt sich mit der Kurdenfrage (121-139), Christina Marku geht in einem balkankomparativen Artikel auf die semantischen Nuancen und die phraseologischen Kontexte des Wortes Herz (kardia, 610 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen särce) im metaphorischen und wörtlichen Gebrauch im Griechischen und Bulgarischen ein (141-154), und Ioannis Th. Bakas fokussiert seine Ausführungen auf die Geschichte des makedonischen Erziehungsvereins in Serres in der 2. Hälfte des 19. Jh.s als ein Beitrag zur Organisation und Tätigkeit griechischer Erziehungs- und Kulturvereine im spätosmanischen Reich (155-182). Ähnlich gelagert ist der englische Artikel von Ioannis M. Mpakirtzis, „National Identity in Xanthi at the End of the 19th and the Early 20th Century“ (183-202). Der Historie verpflichtet sind auch die folgenden Artikel von Iuliana Pogosova zum „Freundesbund“ (Filiki Etairia) und den Dekabristen als Beitrag zur Erforschung der Ein flüsse der griechischen Revolution in Russland (203-209) sowie von Martha Pylia zum „Tableau général de l’Empire Othoman“, dreibändig von 1787-1820 in Paris aus der Feder des Armeniers Mouradgea d’Ohsson (Istanbul 1740 - Paris 1807), Protegé der Schwedischen Botschaft am Bosporus, erschienen (211-220). Der nationaltürkischen Literatur wendet sich dann Giorgos I. Salakidis zu (221-248), und der Identitätsforschung Manolis I. Sergis, der über eine lokale Kommunität von ausgesiedelten Pontus-Griechen in den Rhodopen im Zeitraum 1923-1970 berichtet (249-269). Den durchwegs heterogenen, aber nicht uninteressanten Band beschließen die Beiträge von Tsiprian-L. Sutsiu über griechische Übersetzungen rumänischer Literatur nach 1945 (271-295) und von Eleftherios Charatsidis über das ethnographische Denken im zaristischen Russland vom 17. bis zum 20. Jh. (297-317). Die meisten
Beiträge sind mit einem englischen oder auch französischen bzw. spanischen Abstract versehen und bringen Verweise in Fußnoten oder als „References“ am Ende des entsprechenden Beitrags. Wenn Leistungsausweis thematische Vielfalt bedeutet, so ist der eigenreflektive Festschriftband durchaus gelungen; die Koordination der Einzelforschungsrichtungen in einer facettenreichen Synthese wäre dann der nächste Schritt. Ob die Abteilung das universitäre Fusions- und Sparprogramm mit dem schönen Titel „Athena“ überleben wird, darüber wagt jedoch derzeit niemand eine Aussage zu machen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Ελληνική Λαογραφία. Ιστορικά, θεωρητικά, μεθοδολογικά, θεματικές. Athen 2012. 2 Zu den Lebenslaufriten im kleinasiatischen Pontus-Gebiet siehe Südost-Forschungen 67 (2008), 571f.; zur Volkskunde der Pontus-Griechen Südost-Forschungen 68 (2009), 757f. Vgl. auch Österreichische Zeitschrififür Volkskunde LV/104 (2001), 75-78. Andreas Pásztort, Brevis Grammatica Bulgarica. Hgg. Kiril Kostov / Klaus Steinke. Nachwort v. Sigrun Comati. München, Berlin, Washington/DC: Verlag Otto Sagner 2013 (Bulgarische Bibliothek, 19). XVI, 129 S„ 129 Abb., ISBN 978-3-86688-375-8, €32,Als früheste Literaturwerke des Neubulgarischen gelten die „Damaskini“ seit dem Ende des 16. Jh.s, denen noch die „Istorija slavenobolgarskaja“ des Paisij Chilendarski von 1762, mit der man gewöhnlich die Geschichte des Neubulgarischen beginnen lässt, nahesteht. Südost-Forschungen 72 (2013) 611
Sprache und Sprachwissenschaft Versuche, eine neubulgarische Norm zu schaffen, setzen aber erst mit der 1824 in Kron stadt erschienenen Fibel Petar Berons und der „Bolgarska grammatika“ des Neofit Rilski (Kragujevac 1835) ein, obwohl noch 1907 Gustav Weigand konstatieren musste, dass das Bulgarische weiterhin eine feste Norm vermissen lasse (X). Während die bisher genannten Werke für die Hand der lernenden bulgarischen Jugend bestimmt waren, stehen bei dem hier vorzustellenden Werk andere Motive im Vordergrund. Andreas Pásztory, fur dessen Lebensweg in der vorliegenden Arbeit lediglich auf einen Aufsatz Kostovs von 201 Iі verwiesen wird (IX, XV), musste nach dem gescheiterten un garischen Aufstand von 1848 fliehen und gelangte in den Raum Plovdiv, wo er 1852 bis 1867 als Lateinlehrer in der Gemeinde bulgarischer Katholiken tätig war. Hier entstand seine „Brevis Grammatica Bulgarica“, von der Pásztory selbst auf dem Titelblatt sagt, sie sei von ihm aus der deutschsprachigen Grammatik der Brüder „A. D. CankoF, die 1852 in Wien im Druck erschienen war, übersetzt und dem alltäglichen Sprachgebrauch der Bulgaren angepasst worden (III, IX). Als vermeintlich bloße Übersetzung hat diese handschriftlich gebliebene Grammatik, die lediglich 65 Blätter umfasst (gegenüber den VT+218 Seiten der Vorlage), in der Bulgaristik wenig Beachtung gefunden. Sie blieb im Besitz der katholischen Gemeinde von Kaläcli (heute Teil der Stadt Rakovski), der größten Paulikianergemeinde im Raum Plovdiv, bis sie nach der Auflösung der Bibliothek 1971 in die Bulgarische Nationalbibliothek in Sofia kam, wo
Kiril Kos tov 1973 auf sie aufmerksam wurde. Als Frucht über 30-jähriger Beschäftigung mit dem Text legt er nun zusammen mit Klaus Steinke die Edition dieser Grammatik vor (III£, XIII). Die Edition umfasst außer dem Faksimile mit Übersetzung ins Deutsche und in Fuß noten kommentierter Transkription des Sprachmaterials ins Kyrillische ein Vorwort der Herausgeber (Ulf.) und Anmerkungen von Steinke zur Anlage der Ausgabe (V-VIII) sowie ein Nachwort von Sigrun Comati (ЇХ-XIV). Ihr danken die Herausgeber im Vorwort dafür, dass sie den für das Faksimile notwendigen Mikrofilm besorgt und die Aufnahme der Edition in die Reihe der Bulgarischen Bibliothek ermöglicht habe. In ihrem Vorwort geht Comaţi knapp auch auf den historischen Rahmen der Entstehung des Textes ein. Für die Edition wäre es freilich wünschenswert gewesen, die Pásztory-Grammatik durch gehend mit der Cankov-Grammatik und auch mit der 1862 entstandenen italienischen Version der Pásztory-Grammatik zu vergleichen, von der die Herausgeber sagen, dass in ihr „die Darstellung des Bulgarischen konziser und einheitlicher“ sei als in der lateinischen Fassung (III). Wenn sie es freilich „unbegreiflich“ (IV) nennen, dass „von der Grammatik der Cankofs bisher noch kein Reprint angefertigt wurde“, so trifft der Vorwurf nicht, denn ein solcher ist 2011 bei Nabu Press erschienen. Die Cankov-Brüder Алгол (um 1818-um 1891) und Dragan (1828-1911), die beide unter anderem in Wien philologische Studien betrieben und sich Verdienste um die Bulga rische Wiedergeburt errungen haben, nennen in der Vorrede als Motiv für die Publikation
ihrer Grammatik in deutscher Sprache „das lebhafte Verlangen, unsere geliebte Mutter sprache, wie man sagt, in die Welt einzuführen, und ihr gegen mannigfache Unbilden, die ihr von verschiedenen Seiten angethan wurden, gerechte Würdigung und Anerkennung zu verschaffen“ (V). Vor allem ging es ihnen darum zu zeigen, dass das Bulgarische Teil des slawischen Stammes sei. Das dürfte der Grund dafür sein, dass sie für die Publikation das 612 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Deutsche wählten, die Hauptsprache der aufstrebenden Slawistik, und eine wissenschaftliche Orthographie, wie sie bei Slawisten allgemein im Gebrauch war. Ganz anders das Anliegen Pásztorys: Nicht Wissenschaftlichkeit, sondern praktische Verwendbarkeit steht bei ihm im Vordergrund, und nach der Formulierung auf dem Titelblatt könnte man sogar vermuten, dass Pásztory, der bei seiner Ankunft in Bulgarien dieser Sprache noch nicht mächtig war (IX), seine Grammatik zunächst als bloßes Exzerpt aus der Cankov-Grammatik fur den persönlichen Gebrauch zusammengestellt habe. Dafür spricht eine Reihe von Fehlem, auf die die Herausgeber eingehen. So hat Pásztory cvêtkov-ùt vol „Florians Ochs“ der Vorlage missverstanden als „florens vinilus“ ( 1423), das Femininum vrùf„Strick2 mit dem Masku linum vräh „apex“ verwechselt (27бб 29бѕ ), findet sich (55ш) ein Genusfehler (Mastilloto [.] è tvarde gasto, nalejte malko voda vav nej für Mastílo-to je tvürdegustó, nalejte mâlko vodu fnègo „Die Tinte ist sehr dick, gießen Sie ein wenig Wasser hinein“), unterscheidet er gegen die Vorlage fälschlich drei Genera im Plural der Possessivpronomina (73ш) gibt es syntaktisch falsche Sätze wie As seta ghi dam vi „ego dabo ea vobis“ (69159), und von seiner Darstellung des bulgarischen Tempus- und Aspektsystems sagen die Herausgeber einleitend, dass sie „nur sehr fragmentarisch und fehlerhaft“ sei. „Die Vorlage ist erheblich gekürzt und wohl teilweise auch missverstanden worden, worauf etliche Fehler zurückzuführen sind“ (9O1S9). Besondere Probleme hat Pásztory offenbar mit irrealen
Bedingungssätzen, in denen er das Imperfekt durch eine nichtexistente Formen, die er Optativ nennt, ersetzt, z. B. Ako bèh as tólkos čestit „Würde ich so glücklich gewesen sein“ durch Ako bi beh as tolkos eestit (93ı*) oder Asflézuvah vütrê, ako ne bê'hù tólkos mlógo hóra tam „Ich würde hineingegangen sein, wenn nicht so viele Leute da gewesen wären“ durch Asfleguvahfotre, ako bi ne bi beha tolkos hora tam (I2I224). Vier Jahre später, als Pásztory am 24.10.1856 seine Grammatik beendet (129), ist dann aus seinen Exzerpten samt Verbesserungen eine Grammatik geworden, die er auch anderen zur Verfügung stellen will. Diese anderen sind wie er Katholiken und befasst mit der Verbreitung des Katholizismus unter den Bulgaren; allen gemeinsam ist als Klerikern die Vertrautheit mit dem Lateinischen (X). Zur Wiedergabe des Bulgarischen verwendet Pásztory nicht die wissenschaftliche Transkription, sondern ein System, das ähnlich, unter Orientierung am italienischen Modell, auch bei den Kroaten üblich war (e für c, sc für /, x für z, z für c unterschieden von j für z; für ã schreibt er manchmal ä, meist aber nur a). Das ergibt sich allerdings nur aus seinem Gebrauch, denn statt einer Beschreibung der Sprachlaute (in seiner Vorlage immerhin mehr als sieben Seiten) findet sich bei ihm nur der eine Satz, „Sed in lingva bulgarica hae iterum fumunt diversas pronuntiationes quas homo usu potest adiscere“ (V). Kroatische Einflüsse lassen sich auch sonst feststellen, so bei der Verbalform liubimo „amamus“ und kada liubimo (10020ւ-101շօշ) ohne Vorbild in der Vorlage. Die Herausgeber erklären auch
die Endung -e neben -i im Plural der Adjektive durch kroatischen Einfluss (IO19). Als Katholik und Lehrer bei Paulikianern stößt sich Pásztory eher an archaischen, durch das Kirchenslawische konservierten Formen, die es in der Cankov-Grammatik noch in größerer Zahl gibt. So gebraucht er nur den Dativ na Bogha, wo die Cankov-Grammatik neben na-Bóga noch bógu kennt (3982), und im Vokativ hat er 0 Gospode, eine Form, die auch sonst bei Paulikianern belegt ist (schon 1651 imЛбагар, fol. 5՝ Twcnwde), statt Gospodi Südost-Forschungen 72 (2013) 613
Sprache und Sprachwissenschaft der Vorlage (39ѕз) das allerdings daneben an anderer Stelle (33) unter den unregelmäßig gebildeten Vokativen genannt wird. In dieselbe Kategorie fällt wohl auch die Ersetzung von istete (Istete li da jedéte ribui) durch volkssprachliches ískate {Iskateli da jodete ribat) (44ւօշ). Erstaunlich ist allerdings, dass Pásztoiy sogar das Wort bogát {Ti si tvürdê bogát) seiner Vorlage durch den Turzismus zengin {Tisi tvardezenghin „Tu es valde dives“) ersetzt (119շււ); vielleicht, da es ihm unpassend vorkam, den Namen Gottes etymologisch mit weltlichem Reichtum in Verbindung zu bringen. Einen gewissen Wert hat die Pásztory-Grammatik als Quelle für die historische Dia lektologie; Cornati weist ausdrücklich auf das Vorhandensein ostbulgarischer Dialektzüge und Lexik des Plovdiver Raumes hin (IX). Als Beispiele seien genannt: die Ersetzung von prikdzuvami der Cankov-Grammatik durch bortuvame (2IQ oder das Vorhandensein der Kurzform des maskulinen Artikels {Toj cesto vidi zara fur Toj često vidi caret [42и]). Wenn andererseits Steinke von Pásztory sagt, dieser habe ekavisch-westbulgarische Züge bevorzugt (VII), so ist das vor dem Hintergrund der Herkunft der Cankov-Brüder aus Svištov im westbulgarischen Dialektraum nicht auffällig, zumal die Textbeispiele und Paradigmen der Pásztory-Grammatik fast ausnahmslos dieser Vorlage entnommen sind (VIII, 6). Für die Geschichte des Neubulgarischen ist die Pásztory-Grammatik wegen der unvoll kommenen Sprachbeherrschung ihres Verfassers von nur untergeordneter Bedeutung; sie steht somit durchaus zu Recht im
Schatten der Cankov-Grammatik, die weit eher eine nähere Untersuchung verdient hätte. Positiv ist in jedem Fall, dass die Edition eine bislang unbekannte Quelle zur bulgarischen Sprachgeschichte zugänglich macht, ärgerlich hingegen, dass die Besonderheiten dieses Denkmals erst im Vergleich zur Cankov-Grammatik deutlich werden, dieser Vergleich aber in der Edition in die Fußnoten verbannt ist. Leserfreundlicher wäre da eine systematische Behandlung gewesen. Bonn Nicolina Trunte 1 Kiril Kostov, Andreas Pásztory und seine Brevis Grammatica Bulgarica, ՍսկՍրԽո-1սհրհահ 2011 (2012), 31-96. Franz Posset, Marcus Marulus and the Biblia Latina of 1489. An Approach to his Hermeneutics. Vorrede Kenneth Hagen. Unter Mitarbeit von Zvonko Pandžić (DVD). Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2013 (Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge, Reihe A: Slavistische Forschungen, 74). 250 S. + DVD, ISBN 978-3-412-20756-4, € 44,90 Marko Marulić (1450-1524), der unter dem Humanistennamen Marcus Marulus schrieb und vom Autor Franz Posset so genannt wird, gilt als Vater der kroatischen Literatur, sowohl auf Latein (genannt sei das Drama „Davidias“) als auch in kroatischer (čakavischer) Spra che („Judita“, „Suzana“); ihm sind die „Marulicevi dani“, ein international renommiertes Kulturfestival in seiner Heimatstadt Split, gewidmet, das bereits seit 1991 besteht. Im April 614 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 2009 wurde in diesem Rahmen mit der „Biblia cum comento“ das Handexemplar der von diesem kroatischen Humanisten verwendeten vierbändigen Bibel vorgestellt (19); die da rin enthaltenen Marginalien von der Hand Marulićs bilden die Grundlage fur das hier zu rezensierende Werk. Die Untersuchung konzentriert sich auf die aussagekräftigsten Stellen und ist dabei erschöpfend, auch wenn Posset in seinem Schlusskapitel (199-211) beschei den nicht wenige verbleibende Desiderata für die künftige Erforschung dieses schriftlichen Denkmals anführt. Die künftige Beschäftigung mit den Marginalia wird erheblich erleichtert durch die Beigabe einer DVD mit der qualitativ hochwertigen Wiedergabe der gesamten „Biblia cum comento“ im pdf-Format, für die Zvonko Pandžić verantwortlich zeichnet. „Biblia cum comento“ [sic!] ist jene Bezeichnung, die Marulić selbst für sein Handexem plar, das auf fast allen Seiten Marginalien von ihm trägt, gebraucht hat ( 15) ; die Bezeichnung weist darauf hin, dass hier der Text der Vulgata - wie damals üblich (24) ֊ typographisch eingerahmt ist von mittelalterlichen Kommentaren zum Bibeltext, wobei der Postille des Franziskaners Nikolaus von Lyra (ca. 1270-1349) die größte Bedeutung zukommt. Lyra fungiert hier auch als Vermittler älterer Kommentare zur Heiligen Schrift, die er zusam menfasst, wobei er daneben aber auch das Verständnis der antiqui hebrei berücksichtigt: Etwa 20 jüdische Bibelgelehrte kommen bei ihm zu Wort (17), allerdings nur, soweit diese seine christologische Interpretation der Schrift stützen können (9f., 18). Da das Titelblatt
zu Marulićs Handexemplar verloren ist, hat die Bibel nur anhand eines Kolophons am Ende des 1. Buches als die älteste illustrierte Bibel in Italien identifiziert werden können, die am 8. August 1489 auf Kosten von Ottavio Scotto aus Monza (Octavianus Seotus Modoetiensis) in Venedig gedruckt worden ist (46-53). Die Marginalien Marulićs in seinem Handexemplar beziehen sich mit zwei Ausnahmen stets auf die Kommentare, nicht auf den Bibeltext selbst ( 16) ; die beiden Ausnahmen sind: 1 Chr 28,9 und 1 Chr 29,10-19 mit dem Gebet Davids (98) undTobit 3,21-23 mit dem nur in der Vulgata überlieferten Gebet Sarahs (lOOfi). Eigener Kommentare enthält sich Marulić, auch hier mit einer einzigen Ausnahme: zu 2 Tim 3,8 führt er eine antike Parallele für das Wort paenuև an und setzt sich damit von der symbolischen Deutung bei Lyra ab ( 182f.). Ansonsten verzichtet Marulić auf eigene Anmerkungen ֊ seine Marginalien sind nie urteilend oder polemisch, wohl, wie Posset meint, weil er sich allzu bewusst war, lediglich Schüler und ein theologischer Autodidakt zu sein (201). Marko Marulić blieb zeit seines Lebens Laie, wenngleich er sich Gedanken um die Hebung des geistlichen Lebens in seiner Vaterstadt Split machte und erfüllt von pastoraler Sorge wohl auch öffentliche, erbauliche Vorträge hielt, da er nicht berechtigt war, von der Kanzel zu predigen; vor allem aber sammelte er erbauliche Texte, die in seine Publikationen einflossen (37-39). Eine solche Publikation war das „Carmen de doctrina domini nostri Jesu Christi pendentis in cruce“, auf das Franz Posset im Rahmen seiner Beschäftigung mit
dem Renaissance-Mönchtum gestoßen ist und das ihn veranlasste, sich ausführlicher mit Marko Marulić zu beschäftigen (14). Franz Posset, den Kenneth Hagen, bis 2001 Professor an der Marquette University, Milwaukee/Wisconsin, der größten Jesuiten-Universität der USA, in seiner Vorrede zur vorliegenden Publikation als „lay Catholic historian and theologian“ bezeichnet (10), teilt mit seinem Doktorvater, bei dem er 1984 promoviert hat, das Interesse an der ReformaSüdost-Forschungen 72 (2013) 613
Sprache und Sprachwissenschaft tion und insbesondere an Luther im katholischen Kontext,1 daneben die Kontinuität, die vom mittelalterlichen Mönchtum, hier besonders Bernhard von Clairvaux, zur Reforma tion führt.2 Es geht Posset dabei stets um die Verbindung von Renaissance-Humanismus und Bibelexegese. Mit Marulić verbindet ihn, dass auch dieser „lay theologian“ (13) war, wenngleich Posset ihn ebendort und im Folgenden als „Bible scholar“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist allerdings angesichts der fehlenden sprachlichen Ausbildung Marulićs kaum gerechtfertigt. Zwar hat er in Split bei Hieronymus Genesius Picentinus „basic Greek“ gelernt (20), dieses blieb aber so rudimentär, dass sein einziger Versuch, aus William Britos (ca. 1230-1300) Kommentar zu Hieronymus’ Prolog eine Marginalie in griechischen Lettern herauszuziehen (fol. 6r), kläglich gescheitert ist (66). Obwohl er Erasmus von Rotterdam bewunderte (22, 30), besaß er dessen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments nicht (41). Das Hebräische blieb ihm völlig verschlossen, selbst die von Papst Leo X. gebilligte Übersetzung des Psalters nach dem Hebräischen nahm er nicht zur Kenntnis (41). Der Text der Vulgata, Werk seines „Landsmanns“ Hieronymus (45), genügte ihm völlig (40), und griechische Kirchenväter, die bei ihm durchaus eine prominente Rolle spielen, kannte er nur in lateinischer Übersetzung (43). So verstand er auch den Einwand, den Paul von Burgos (Pablo de Santa Maria, ca. 1350-1435) gegen Lyras Identifizierung des Gottesna mens m.T mit dem Namen Jesu (¿’läT!՜) vorbrachte, nicht (79); statt sich zu Ex 3,14
mit zeitgenössischen Spekulationen um die Entfaltung des unaussprechlichen Tetragrammatons zum Pentagrammaton (ГШГР) als Namen Jesu zu beschäftigen, notierte Marulić fol. 83r lediglich einen „error Machometanom“. Damit ist Marulić auch einem Laientheologen wie Johannes Reuchlin (23) deutlich unterlegen. Marulićs eigentliches Interesse war das eines Laienseelsorgers: „a lay Seelsorger or a want-to-be preacher“ (211). Mit diesem Interesse erklärt Posset auch Marulićs Interesse gerade für die spirituelle Auslegung der Schrift: „The spiritual meanings of the Scriptures lend themselves to typical pastoral activities such as spiritual edification and picturesque preaching, [.]. Scholarly elaborations of a Bible expert are relatively pointless (and are actually inappropiate in pastoral care), whereas the skilful application of allegories, parables, metaphors, typologies, and the pursuit of the ‘spiritual senses’, i.e., the search for different ‘levels of meaning’ of the Scriptures, are typical tasks of a good preacher (and teacher)“ (211). Marulićs Arbeit mit seiner Handbibel ist vor diesem Hintergrund vor allem von Bedeutung für die Beurteilung seines eigenen literarischen Schaffens, für das er hier reiches Material fand, das sich um ihn interessierende biblische Gestalten wie David, Judith oder Susanna rankt. Dass trotz seines Interesses für die Gestalt Judiths, von dem sein 1501 vollendetes Werk „Judita“ zeugt, Marginalien zu diesem biblischen Buch fast völlig fehlen (101), könnte vielleicht damit erklärt werden, dass ihm bei der Vorbereitung dieses Werks seine Handbibel noch
nicht zur Verfügung stand,3 denn Material für die zu seinen Lebzei ten nicht gedruckten „Davidias“ hat er sehr wohl durch Marginalien kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit hat ihren Wert daher vor allem für Literaturwissenschaftler, kaum aber für Theologen und Bibelwissenschaftler. Insofern ist es passend, dass der Zagreber Schriftstellerverband Posset aufgrund des hier rezensierten Werkes inzwischen für den Davidias-Preis 2013 nominiert hat.4 616 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Das Buch Possets beginnt nach dem Vorwort seines Doktorvaters Kenneth Hagen (9f.) und einigen Praeliminaria (13-19) mit einer Skizze zu Marko Mamiié und seiner Zeit (2039), zu der von ihm verwendeten Bibel (40-57) und seinen Marginalien darin (58-62). Da nach werden im Hauptteil die interessantesten Marginalien in der Reihenfolge der biblischen Bücher besprochen (63-195). Den Abschluss des Buches bildet vor der Zusammenfassung im Schlusskapitel die Behandlung der Messias-Frage bei Lyra (196-198). Der Nachweis alttestamentlicher Hinweise auf Jesus als Messias hat Mamiié in besonderer Weise bewegt. Danach folgen eine Bibliographie (212-218) sowie Überblicke über die Verteilung der von Mamiié verwendeten Symbole (Christogramme, Kreuzzeichen, maniculae und Darstel lungen von Kelch und Hostie als eucharistische Symbole sowie die Nennung theologisch wichtiger Termini) in den Marginalia (219-231). Der folgende Namensindex (232-236) ist freilich minimalistisch. Nicht recht befriedigend sind hier die in Klammern beigegebenen Informationen zu den genannten Autoren, die teils sehr ausführlich sind,5 während sich Kirchenväter wie Termihän, Basileios der Große, Johannes von Damaskus oder Hilarius von Poitiers mit dem Eintrag „theologian“ begnügen müssen; als „church father“ hervor gehoben werden erstaunlicherweise nur Ambrosius, Augustinus und Hieronymus. Diese Ungleichbehandlung ist selbst bei einem dezidiert katholischen Autor, zumal angesichts der erwähnten Bevorzugung griechischer Kirchenväter durch Mamiié, auffällig. Die Liste der als „heretic“ bezeichneten Autoren
umfasst Apollinarius, Arius, Mani, Sabellius und Valentinianus, wobei sich die Einordnung hier anders als für die Bezeichnung als Kirchen vater offenbar aus den Marginalien Marulićs selbst ergibt, der auch Muhammad unter die Häretiker zählt (200), zu seiner Zeit durchaus üblich und nicht weiter auffällig. Wertvoll für die Arbeit mit dem Buch sind das Verzeichnis der Bezüge auf den Text der Heiligen Schrift (237-243) und ein thematisches Register (244-250), die zusammen mit der DVD andere Gelehrte, die sich für das literarische Œuvre Marulićs interessieren, vorzüglich in den Stand setzen, an das von Posset Geleistete anzuknüpfen. Bonn Nicolina Trunte 1 Siehe dazu seine Publikation: Franz Posset, The Real Luther. A Friar at Erfurt and Wittenberg. St. Louis/MO 2011. 2 Zu nennen ist ders., Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches. Leiden 2005. 3 „[.] for his literary work for Judit he does not seem to have consulted his Biblia Latina cum comento“ (101). 4 Für diese Information danke ich Zvonko Pandžić. 5 So werden zu Abraham Abenhazara die Nebenformen Abraham ben Meir, Ibn Ezra, Aben Esra, Abnhaçara [sid] und die zusätzlichen Informationen „rabbi, cabalist“ genannt. Südost-Forschungen 72 (2013) 617
Rezensionen Literatur- und Theaterwissenschaft Roderick Beaton, Byron’s War. Romantic Rebellion, Greek Revolution. Cambridge: Cambridge University Press 2013.338 S., 14 Abb., 2 Karten, ISBN 978-1-107-03308-5, £30,Der schottische Byzantinist und Neogräzist Roderick Beaton, Autor dieser neuen ByronBiographie, ist Koraes Professor of Modern Greek and Byzantine History, Language and Literature am Centre for Hellenic Studies im King s College in London, bekannt vor allem fur seine philologischen Studien als Liedforscher,1 zum byzantinischen Roman2 und dem Digenes Akrites-Epos,3 seine Monographie über Seferis,4 aber neuerdings auch als Herausgeber eines Kazantzakis-Studienbandes5 und Verfasser einer griechischen Literaturgeschichte des 19. und 20. Jh.s.6 In der vorliegenden Monographie beschäftigt er sich in einer minutiösen Untersuchung mit einem eher historischen Thema, allerdings mit deutlich philologisch literarischem Interesse, und mit einer Schlüsselgestalt der europäischen Romantik, die für die griechische Staatsbildung, aber auch für die griechische Literatur des 19. Jh.s eine herausragende Rolle gespielt hat. Die erschöpfende Quellenerfassung, die trotz der über 200 existierenden Byron-Biographien eine ganze Reihe von unveröffentlichten oder bisher kaum berücksichtigten Korrespondenzen, Memoiren, Tagebuchnotizen usw. einschließt, fuhrt sowohl nach England, Italien und in die Schweiz wie auch nach Griechenland selbst. Damit wird der geistige Werdegang eines Dichter-Idols seiner Zeit Schritt für Schritt nachgezeichnet und viele Missverständnisse und Klischees bereinigt,
die der Byron-Kult in Griechenland und in Gesamteuropa hervorgebracht hat. Dies hängt auch mit Fachkompetenzen zusammen. Die griechischen Historiker verfügen über ein eher stereotypes Zerrbild von dem extravaganten Lord, der sich in Mesolongi 1824 zum Revolutionsführer und Politiker aufspielte, ohne die tieferen Zusammenhänge der Lokalakteure und die Mentalitäten der Waffenführer zu kennen. Die griechischen Literatur wissenschaftler beschäftigen sich eher mit der etwas einseitigen patriotischen Rezeption seines Literaturwerkes in Griechenland im 19. Jh. und den mannigfaltigen Einflüssen, die er auf die griechische Romantik, sowohl die eher klassizistische hochsprachliche,Athener Schule“ als auch die mehr demotizistische der Ionischen Inseln, ausgeübt hat. Die mittel- und westeu ropäischen Literaturwissenschaftler, Anglisten und Komparatisten stehen seiner politischen Tätigkeit während der Griechischen Revolution eher hilflos gegenüber, die in so eklatantem Gegensatz zu dem Rest seines Lebens steht (überdies gab es in dieser Zeit von Byron keine nennenswerte Literaturproduktion mehr), weil sie weder den reichhaltigen Fundus von Originalquellen und die Sekundärliteratur zu seiner Aktivität, in Zusammenhang mit den komplizierten Vorgängen des wechselhaften Revolutionsverlaufes und der großen Anzahl der Akteure auf hellenischem Boden, einsehen können noch mit den neueren Synthesen und Einschätzungen der griechischen Fachliteratur zur Erhebung von 1821 vertraut sind. Doch erst die Zusammenschau all dieser Informationsquellen, erarbeitet in ausgedehnten Archivstudien in
Griechenland und England, zusammen mit der Analyse von Byrons aus gedehntem Literaturwerk selbst, ergibt das komplexe, widersprüchliche und nicht immer konsequente Bild eines komplizierten und unberechenbaren Literaten, der am Ende seines Lebens jedoch auf dem Weg ist, politisches Feingefühl und diplomatisches Geschick, vor 618 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen allem aber langfristiges Planungsvermögen und die Fähigkeit zum konsequenten Verfolgen von Zukunftszielen zu entwickeln. Das Klischeebild des exzentrischen Aristokraten und ausschweifenden Poeten des romantischen Orientalismus ist vor allem durch die abrupte Gegensätzlichkeit der Gemütsverfassungen und die skandalträchtigen Normübertretungen charakterisiert, die in den literarisierten und dem historischen Journalismus nahestehenden Biographien weidlich ausgeschlachtet werden. Beaton geht diesen Normübertretungen ohne Scheu nach; seine Fachkompetenz ent hebt ihn auch des Verdachts orientalistischer Stereotype, die als Erklärungshilfen vielfach angeboten werden. Er lässt vor allem die Quellen selbst sprechen, autobiographische, Korrespondenz, Tagebucheintragungen und Memoiren von Verwandten, Freunden (wie die Shelleys, des Pisa-Kreises usw.) und Akteuren seiner politischen Tätigkeit, vor allem englische, italienische, griechische und französische, die durchwegs ins Englische übersetzt sind. Die Monographie wendet sich an ein durchschnittliches englisches Leserpublikum, so dass vielfach pragmatologische Erklärungen von Personen, historischen Gegebenheiten, Fakten und Vorgängen der Griechischen Revolution für ein hellenophones Publikum wegfallen dürften. In Manchem ähnelt diese Monographie Beatons Seferis-Biographie, die ebenfalls den geistigen Werdegang, die Dichtung und politische Tätigkeit des Nobelpreisträgers in einer derart integrativen Weise untersucht hat, dass das Lebenstotum eines Intellektuellen, Poeten und Diplomaten in einem faszinierenden master
narrative entfaltet wird.7 Diplomatisch war letztlich auch die Aktivität von Byron im aufständischen Griechenland: er war weder militärischer Kommandeur, obwohl mit seinem Vermögen gewisse militärische Aktionen finanziert wurden, noch Staatsmann, dies war vielmehr der phanariotische „Prinz“ Alex andras Mavrokordatos von der Zentralregierung, mit dem Byron eng zusammenarbeitete und die Vision eines zentralistischen Nationalstaates teilte; die Vision von der Gründung eines modernen Nationalstaates im Geiste einer konzessionsbereiten Realpolitik der Zeit, mit der anzustrebenden Zustimmung der Großmächte und einer konsequenten Finanz politik (die Rolle Byrons beim Zustandekommen der ersten Finanzanleihe aus England für die Aufständischen war entscheidend), indem er gleichzeitig den bürgerkriegsähnlichen Zuständen 1824 entgegenarbeitete, kann am ehesten mit der Terminologie der Diplomatie beschrieben werden. Ob dieser 1830 gegründete unabhängige Nationalstaat wirklich die erste moderne Nation des Europäischen Kontinents bildete (272), mögen die Historiker entscheiden. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt deutlich auf den griechischen Konnexen des Byron-Themas, vor allem von 1823 bis zu seinem Tod am 19. April 1824 im historischen Mesolongi, das nach dem legendären Ausbruchsversuch der Belagerten 1826 in ganz Eu ropa in aller Munde war und das selbst die Schulkinder kannten. Doch lebensprägend in vielerlei Hinsicht war Byrons grand tour in jungen Jahren 1809-1811 nach Griechenland gewesen, ein fast zweijähriger Aufenthalt, der nicht nur in die Verse von „Childe Harold s
Pilgrimage“ eingegangen ist, sondern Byrons kurzes Leben (er ist 36-jährig verstorben) wie ein Rahmen umspannt; der Mittelteil seines Lebens hatte mit Griechenland allerdings nicht viel zu tun. Als sich der Lord nach seinem langjährigen Aufenthalt in Italien 1823 der griechischen Sache annahm (der Aufstand ging damals schon ins dritte Jahr), eine Südost-Forschungen 72 (2013) 619
Literatur- und Theaterwissenschaft Entscheidung, bei der Shelley und Byrons Bekanntschaft mit Alexandras Mavrokordatos eine gewisse auslösende Rolle gespielt hatten, war er einer der besten englischen Kenner von Land und Leuten, wenn ihn auch die einst bewunderten suliotischen Krieger als lebendige Verkörperung des Kleften-Ideals schließlich in ihrer Wankelmütigkeit enttäuschten. Bei den vielen Theorien, was eigendich die Todesursache Byrons gewesen sein mag, entscheidet sich Beaton dahingehend, den psychischen Schock über den Hochverratsprozess gegen Karaiskakis und seine Verurteilung, ein diplomatischer Schachzug von Mavrokordatos, um die eigene Stellung in der Zentralregierung zu festigen, als zentral anzusehen, obwohl spastische Krisen auch schon vorher zu belegen sind. Byron sah den Sinn des ganzen Unternehmens in Frage gestellt und war bereit abzureisen. Beatons Monographie ist in vier Hauptkapitel eingeteilt: „The Rebel Imagination (1809-1816)“ (3-50), „The Road to Revolution (1816-1823)“ (51-142), „Greece: ,Tis the Cause Makes А1Г (July-December 1823)“ (143-210) und „Missolonghi: the Hundred Days (January-April 1824)“ (211-263). Beaton spielt im letzten Hauptkapitel erkennbar auf Byrons Ideal Napoleon an. Die Erzählung wertet veröffentlichte und unveröffentlichte Privatquellen und Sekundärliteratur aus, ebenso wie die Literaturwerke selbst, die in ihrer Thematik und mit ausgewählten Textbeispielen selbst zur Darstellung kommen. Dies wird in einer geschickt angeordneten einheitlichen Erzählung zusammengebunden. Beatons Erzähltalent und der Sprachstil des master
narrative lassen die Lektüre des Bandes zum nachhaltigen Genuss werden, seine Werkkenntnis von Byrons Literaturproduktion ist ebenso stupend wie seine Belesenheit und Quellenkenntnis zu allen Ereignissen, die auch nur irgendwie mit Byron zu tun haben. Ob alle Historiker mit gewissen Einschätzungen Beatons glücklich sein werden, mag der Detailkritik aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Vorbehalten sein; sein literaturwissenschaftlicher Spürsinn jedenfalls stellt Zusammenhänge her, die der umfangreichen Forschung zu seinem Literaturwerk bisher entgangen sein dürf ten. Insofern ist die Monographie nicht nur ein schätzenswerter Beitrag zur europäischen und englischen Literaturgeschichte und Komparatistik, sondern auch ein bemerkenswerter Beitrag zur Reiseliteratur über Griechenland, zur Geschichte der Griechischen Revolution und zur vergleichenden Balkanologie, da die historischen Kontexte der Ereignisse weit über den Raum des heutigen Nationalstaates Griechenland hinausreichen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Roderick Beaton, Folk Poetry ofModem Greece. Oxford 1980; dazu ausführlich Walter Puch Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 237-247. 2 Roderick Beaton, Η ερωτική μυθιστορία του ελληνικού μεσαίωνα. Athen 1996; vgl. meine ausführliche Besprechung in Südost-Forschungen 57 (1998), 414-419. 3 Ders./David Ricks (Hgg.), Digenes Akrites. New Approaches to Byzantine Heroic Poetry. Aldershot 1993; vgl. meine Rezension in Südost-Forschungen 53 (1994), 599-605. 4 Roderick Beaton, George Seferis. Bristol, Athen 1991; rezensiert in Südost-Forschungen 53 (1994), 605-607. 5
Ders., Εισαγωγή στο έργο του Καζαντζάκη. Επιλογή κριτικών κειμένων. Heraklion 2011; rezensiert in Südost-Forschungen 71 (2012), 687-690. ner, 620 Südost-Forschungen TI (2013)
Rezensionen 6 Ders., An Introduction to Modern Greek Literature. Oxford 1994; rezensiert in SüdostForschungen 55 (1996), 560-564, und Parabasis 3 (2000), 425-427. 7 Vgl. auch die stark erweiterte griechische Ausgabe; ders., Γιώργος Σεφέρης. Περιδένοντας τον Αγγελο. Βιογραφία. Athen 2003; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 63I6A (2004/2005), 658f. Hans Bergel, Von Palmen, Wüsten und Basaren. Reisenotizen aus Israel. Berlin; Frank Timme Verlag 2013. 86 S„ ISBN 978-3-86813-019-5, € 14,80 Zeitbedingte Notwendigkeiten schaffen sich Formen und Zielsetzungen, auch in der Literatur, und wenn man feststellt, dass die Komponente Wissensvermittlung heute die Fantasie und die Gestaltungsvielfalt, die Informationsfulle die individuellen Weltentwürfe ersetzt, so ist das weder sonderlich neu noch überraschend. Der Zeitgenosse muss sich heute wie in der Antike oder in der Zeit des bürgerlichen Humanismus in einer ausufernd vielfältigen Welt von Fakten und konkreten Zusammenhängen zurechtfinden, die durch ein sprunghaftes Anwachsen neu erschlossener Wissensgebiete gekennzeichnet ist. Durch die extreme Mobilität kann er sich überdies den Zugang zu früher kaum erreichbaren Welt gegenden und sozialen Brennpunkten erschließen. Die Literatur ist ein Teil der Eröffnung und Erschließung dieses fast inkommensurablen Weltganzen. Bücher vermitteln Wissen über die Geschichte von und die Existenzbedingungen in abgelegenen Gegenden, aus denen sogenannte Migranten in die europäischen Länder mit ihren bekannten Beziehungsmustern einwandern und sich dann in Biographien oder auch in historischen
Romanen mit einer für den einzelnen Leser schwer anzueignenden Fülle an Mitteilungen über Lebens- und Denkformen zu Wort melden. In ausufernden Zeitromanen, in Reisegedichten oder in Reportagen werden faktenreiche Überblicke über politische und soziale Entwicklungsver läufe vorgelegt, in denen spannende Handlungen nur das Verständnis für die Tatsachen erleichtern sollen. Für die Fiktionen bleiben als gesonderte Genres Fantasy-Romane, Science-Fiction-Entwürfe und Ähnliches. Dass viel gereist wird, ist nicht neu, aber die Periodizität und der Stellenwert des Reisens im Alltag der Gesamtbevölkerung der Industrienationen hat sich beträchtlich geändert. Das Schrifttum, das in Erinnerungsstenogrammen die Erkenntnisse der Reisen festhält und die Leser auf die Reisen vorbereitet, hat in Form von Reiseberichten, -führern, -erinnerungen und -romanen deutlich zugenommen. Jede dieser Darstellungsformen verfügt über eine literarische Tradition und eigene Gesetzmäßigkeiten, die respektiert oder durch Neuansätze überwunden bzw. gesprengt werden können. Dies gilt auch für das Reisetagebuch. Dass dort das Ich nach Belieben seinen eigenen Rhythmus auslebt, diejenigen Eindrücke aus drückt und in den Vordergrund stellt, die eine Reise erlebenswert machen, dass die innere, nicht die äußere Route nachvollzogen wird, dass man sich Abweichungen von historischer Faktizität erlauben darf - das alles ist bekannt und kann - muss aber nicht - Eigen-Art hervorbringen, denn man kann zweifelsohne auch einfache Chronologien und sparsame Notate von Tagesabläufen präsentieren. Südost-Forschungen 72 (2013)
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Literatur- und Theaterwissenschaft Hans Bergei, durch seine Erzählungen und Romane, ebenso durch Essays und Feuilletons, durch Übersetzungen und Gedichte bekannt, hat wieder einmal eine Reise unternommen und in einem Reisetagebuch, das vom 24.4. bis zum 11.5.2006 und von München bis Tel Aviv und zurück reicht, seine Erkenntnisse festgehalten. Die erwarteten Realia sind vorhanden: Man erfährt (nicht viel) über die Reiseroute - anders als früher, denn ein Flug mit Hapagfly vergeht schnell, ein Hyundai Getz ist umgehend geleast und die frühen Be schwernisse auf den Zügen von West nach Ost, die Kontakte mit Ländern und Menschen sowie Gefahren aufdem Weg zum Ziel einschlossen, sind heute während des luftigen Fluges undenkbar. Erst die Abstecher von Jerusalem in die Negev-Wüste (nach Mizpe Ramon), in denTimnas-Nationalpark und zum Ramon-Krater erbringen einprägsame Erlebnisse. Diese gehören traditionell zu einer Reise: Entdeckungen, Eindrücke von Menschen und Alltag. Ungewöhnlich ist aber, dass der Autor in diesem Falle bereits ein langes Leben hinter sich hat, aus dem eine atemberaubende Fülle an schriftstellerischen Werken vorliegt und dass er vor 2006 schon mehrfach in Israel war. Diesmal kann er also aus seinem Leben, und seinen Werken zitieren und damit durch Andeutungen und Erinnerungsmarksteine die knappe Wiedergabe der Tagesabläufe ergänzen. Der Text mit Zitaten - von Werken, aus den Werken, aus Gesprächen - wächst in sich und aus sich. Es kommen zahlreiche Dialoge vor mit Menschen, die der Autor trifft. Von diesen Dialogen wird meist der Part wiedergege ben, den die
anderen sprechen. Der Autor selbst ergänzt nachträglich die Äußerungen der Dialogpartner und bringt seine Stellungnahme ein. Das Ergebnis ist kein direkter Dialog, dafür ein aus der Vergangenheit hergeleiteter kommunikativer Ansatz, der fortgeführt und nach der Reise weitergedacht und fortgeschrieben wird. Das alles verbindet sich mit der bleibenden Prägung durch die Landschaft: sie ist sinnlich nur zum Teil fassbar, überfordert das Vorstellungsvermögen des Einzelnen, hat eine Ausdehnung jenseits des Denkbaren und liegt dennoch - wie die Palmenhände - vor dem Schauenden, fast unnahbar und doch unabweislich. Der Erzähler, auf sinnliche Impulse eingestellt, deutet an, was er nicht mehr in Worte fassen kann. Auch hier wird ein Rahmen gesprengt. Kehren wir zu den Erzähltraditionen zurück, die für das Genre des Reisetagebuchs und für die Gepflogenheiten des Autors Bergei symptomatisch sind. Die Berichte von Reisen ins Heilige Land gehören zu den ältesten in europäischen Bezügen: seit dem 13. und 14. Jh. gibt es Pilgerberichte und Ratgeber für Pilger.' Damals war die Reiseroute bzw. die zurückgelegte Wegstrecke ein Anziehungspunkt, denn dort begannen die Fährnisse für das beobachtende Ich. Im Zeitalter der Flugreisen ist dies, wie erwähnt, anders. Der abgesteckte Rahmen reicht von Flughafen zu Flughafen, Besonderheiten sind vorhanden, für den Reisenden aber nicht entscheidend. Die angesprochenen frühen Pilgerreisen verfolgten ein Ziel: den Kontakt mit den heiligen Stätten der Christenheit. Diese vorläufig letzte Nahostreise Ber geis setzt sich ein anderes Ziel: „So wie diesmal,
wird auch künftig das Verweilen, nicht die große historische Reminiszenz das Anliegen sein“ (81). Das erste Anliegen des Verweilens ist zunächst ein literarisches: den Prolog bildet der Besuch bei den Qumran-Schriftrollen, wo die ästhetische Meisterschaft der Essener bewundert wird. Darauf folgen zwei Lesungen Bergeis im Lyris-Kreis und im Goethe-Institut. Hier werden die Begegnungen mit Freun den fortgesetzt, die auf dem Flughafen begannen, wo der Bildhauer und Dichter Manfred Winkler das Ehepaar Bergei erwartet hatte. Die Übereinstimmung Bergeis mit den Hörern 622 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen hat ihre Vorgeschichte, nämlich dessen frühere Besuche in Israel. Jetzt wird diese Geschichte vertieft, was zum „Verweilen“ einlädt, denn die in Israel tätigen deutschsprachigen Juden sind in einer ähnlichen Situation wie der Reisende. Sie sind aus ihrer österreichischen (im Falle der Bukowina ab 1918: rumänischen) Geburtsregion ausgesiedelt (worden), die LydsAutoren und Autorinnen nach Israel, ins Wunschland ihrer Väter, Bergei aus Siebenbürgen ins deutsche Mutterland. Wie man sich jeweils zurechtgefunden hat, wird zu einem Leit motiv der Darstellung. Dabei scheint schon die Doppelrolle des Ich-Erzählers bei Reisen und Tagebüchern auf: der reale Autor, der die Gegenwart hinnimmt und konkrete Fakten vermittelt sowie die angenommene/ausgestaltete Erzählerrolle, was hier bedeutet, die Rolle einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit, fur die einiges von den Gewohnheiten der Minderheit kaum verständlich ist und bleibt. Die Rollengestaltung sieht bei Bergei etwas anders aus als bei seinen Gesprächspartnern in Israel: Er kann sich mit den Veränderungen in der Bundesrepublik nicht abrinden und verweist auf die eigene Tätigkeit als streitbarer Journalist und als Repräsentant einer Auflehnung gegen starre Mentalitätsstrukturen und -barrieren.2 In Israel findet er — mitten in den dramatischen Auseinandersetzungen um dessen Zukunft — Freundschaften, Gleichgesinntheit, Kommunikationsfreiheiten, die ihm im deutschen Mutterland mitunter fehlen. Der Suchende, der auf sich selbst und eine auserwählte Gruppe Gestellte öffnet sich deshalb neuen Angeboten und Erkenntnissen mit
einer nüchternen Begeisterung, die den Spannungsbogen der Darstellung ausmacht. Das ist Bergeis bewusstes Ausgestalten einer Ich-Rolle, die alle Beengungen des realen Ichs sprengt, und diese Rollenauffassung ist vor allem im Alter möglich, weil inzwischen die Fesseln der Tagespflichten abgefallen sind, auch bei den Dialogpartnern. Den „Tanz in Ketten“ gibt es nur in der Vorgeschichte. Zur Form des Dargebotenen: Tagebücher sind subjektiv gesteuerte Notate. Für die IsraelReise des Autors ist die Regelmäßigkeit der Tagesaufzeichnungen bestimmend, die Sicherheit und Kontinuität gewährleistet. Dass der Umfang der jeweiligen Tagesdarstellung schwankt, ist selbstverständlich, denn schon dadurch werden Schwerpunkte jeweils dem Augenblick angepasst und damit einmalig. Ein Ablauf, wie man ihn aus Reisedarstellungen kennt, wo die Ankunft am Zielort zunächst eine sehr umfangreiche Präsentation des Neuen auslöst, wonach mit zunehmender Aufenthaltsdauer die Notate kürzer werden, sodass erzählte Zeit und Erzählzeit disproportional sind, ist hier nicht denkbar, denn die Reise ist die Wieder holung früherer Israel-Kontakte des Ehepaars Bergel.3 Nach akribischen Details über die Fluglinie, die Reisegesellschaft, den empfangenden Freund, die Sicherheitsvorkehrungen beim Abflug und das Flugwetter endet das Tagebuch mit einem Resümee: „Wie klein und wie groß zugleich ist unsere Welt“ (81). Das könnte ein Motto fur jede einzelne Feststellung der Tagebucheintragungen sein. Weil es sich um Wiederholungen handelt, spielen im Verlauf der Darstellung Leitmotive eine verbindende Rolle. Das beginnt im
Detail, wenn etwa bei jeder Begegnung mit dem General Aaron als Konnotat sein „männliches“ Auftreten erwähnt wird; Männlichkeit und Militärisches werden auch bei dem TV-Erlebnis der Unabhängigkeitsfeier in Jerusalem verknüpft, bei der Bergel die Männlichkeit und Ordnung der Parade bewundert und ein Hinweis auf die Rolle deutscher Offiziere für die israelische Armee hervorgehoben wird, als ein Kennzeichen für einen Staat, der in erster Linie auf Selbstbehauptung angewiesen ist und Südost-Forschungen 72 (2013) 623
Literatur- und Theaterwissenschaft alle Mittel, die dazu beitragen können, sachlich genau abwägt. Daran schließen sich Exkurse über die interne Bedrohung Israels an: durch die Zuwanderung aus Russland, durch die ein Antisemitismus (!) ins Heilige Land importiert wird; durch die orthodoxen Juden, die die Grundfesten der israelischen Demokratie in Zweifel ziehen; und durch die Zunahme der Beduinen in der Negev-Wüste, die sich nicht in die demokratische Ordnung des Landes integrieren. Männlichkeit und staatliche Funktionssicherheit sind ein Leitmotiv, und dem Reisenden geht es um die innere und äußere Sicherheit eines Landes, das er gut kennt. Ein weiteres Leitmotiv ist das Eintauchen in die außergewöhnliche Landschaft. Wer Bergeis Werk kennt, weiß sehr gut, was ihm die Geborgenheit und das Eingebundensein in Natur und Natürlichkeit bedeuten. Bergei findet eine faszinierende neue Facette dieser Naturverbundenheit in den Wüsten des heiligen Landes, die ein ständiges Engagement, eine unaufhörliche Hingabe an Kargheit, Härte und Schönheit zur Voraussetzung haben. Auch hier steht am Anfang ein Prolog: in Jerusalem ist es ein Besuch des Museums der Anna Tycho, einer bedeutenden Landschaftsmalerin Israels, der die Versuche einleitet, die Besonderheiten der Leute und des Raumes zu begreifen. Die Harmonie zwischen Mensch und Landschaft, in Bild und Wirklichkeit, ist Bergeis zweiter Schritt zu einem Einvernehmen mit dem besuchten Land. Durch die Begegnung mit weiteren Malern und Bildern sowie durch die Fahrten in Israels Süden werden die Eindrücke bestätigt und vertieft. Es verfestigt
sich Schritt für Schritt das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zu Kultur und Geschichte, zu Natur und Menschen, die ein Anliegen veranschaulicht, das durch Ver weilen begünstigt wird: die Sorge um das Wohl und den Frieden in diesem Land, das bei einem Deutschen zur geistigen Heimatfindung beitragen kann. Das geschieht auch: er ist unter Freunden, in einem Israel, das vielen Wünschen des Betrachters entgegenzukommen scheint, er fühlt sich dort zu Hause. Dazu passt das letzte Leitmotiv, auf das wir hinweisen: sein Erlebnis Israels mit Freunden, vor allem aber mit seiner Frau Elke. Diese ist der erste Ansprechpartner, sie vermittelt zusätzliche Erkenntnisse, weil sie - wie der Ich-Erzähler - auf die Menschen zugeht und Fragen stellt, manchmal auch Fragen beantwortet und an den Überlegungen beteiligt ist, die der Autor anstellt. Das Reisetagebuch wird zum Instrument des Hineinfindens in die große Familie des bereisten Landes und zugleich einer Bestätigung menschlicher Harmonie und Glücksfindung in der kleineren Familie, der Zweierbeziehung. Eine Reise zum Ich und zum Wir, die durch dieses in sich einheitlich geformte Buch nach vollziehbar und erkennbar wird und damit die Grenze von Einzelnem, von Einzelheiten und von kurzlebigen Tageserlebnissen überschreitet. Wuppertal Horst Fassei 1 Vgl. Werner Paravicini (Hg.), Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analy tische Bibliographie, Bd. 4/1: Deutsche Reiseberichte, bearbeitet v. Christian Halm. Frankfhrt/M. 22001 ; Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Innsbruck 1900, unter
https://archive.org/details/deutschepilgerrOOrhgoog , 13.11.2013. Einzeldarstellungen z. B. bei Christian Geyer, Die Pilgerfahrt Ludwigs des Jüngeren von Eyb nach dem Heiligen Lande (1476), Archiv für Geschichte und Altertumskunde von Oberfranken 21 (1901), H. 1, 1-54, 16-52; Folker Reichert, Von Dresden nach Jerusalem. Albrecht der Beherzte im Heiligen Land, in: André Thieme 624 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen (Hg.), Herzog Albrecht der Beherzte (1443-1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa. Wien, Köln, Weimar 2002, 53-72. 2 Vgl. dazu Renate Windisch-Middendorf, Der Mann ohne Vaterland. Hans Bergei - Leben und Werk. Berlin 2010; Raluca Rädulescu, Europäertum eines Inseldaseins. Identitats- und Alteritätsbewusstsein im Werk Hans Bergeis. Mit einem Nachwort von George Gutu. Bukarest 2009; siehe auch Hans Bergel, Gedanken über Europa. Wien 2005; ders., Das Motiv der Freiheit. München 1988. 3 Erwähnt sei hierfür z. B. Hans Bergel, Israelische Trilogie, deren erster Teil 1999 für die Jubi läumsausgabe der Zeitschrift „Mosaik“ ins Hebräische übersetzt worden war. Nicolae Gheorghiţă, Byzantine Chant between Constantinople and the Danubian Principalities. Studies in Byzantine Musicology. Bucharest; Editura Sophia 2010. ѴШ, 256 S., zahir. Abb., Musiknoten, ISBN 978-973-136-227-4 Das Interesse an der Phanariotenzeit bis 1821 hat auch in Rumänien zugenommen. Das dokumentiert etwa der zweisprachige Band von Lia Brad Chisacof zur griechischsprachigen Literatur in den Donaufurstentümem,1 die Monographie von Matthias Kappler zu den der osmanischen Lyrik nachgestalteten mismagies der Konstantinopolitaner Phanarioten2 oder die Bukarester griechischen Satiren, die sowohl klerikale wie weltliche Themen anschneiden.3 Im Bereich der Ethnomusikologie besteht eine Tradition von der „Geschichte des transalpi nischen Dacien“ von Franz Josef Sulzer (Ende des 18. Jh.s) bis Béla Bartók, doch „Byzance après Byzance“ im musikologischen Bereich war bislang eher eine Ausnahme.4 Dies
scheint sich nun zu ändern. Nicolae Gheorghiţă, Assistenzprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Bukarest mitpost-graduate-Studien in Athen, Cambridge und St. Petersburg, hat bereits einige Monographien zur postbyzantinischen Kirchenmusik in Rumänisch, Englisch und Griechisch vorgelegt. Hier nun handelt es sich um einen Studienband von 14 kürzeren oder längeren englischen und griechischen Beiträgen, großteils bereits veröffentlicht, die die Dynamik dieser Studienrichtung im postsozialistischen Rumänien dokumentieren. Dies beginnt mit „Byzantine Chant in the Romanian Principalities during the Phanariot Period (1711-1821)“ (1-36),5 eine Überblicksstudie mit insgesamt 29 Abb., gefolgt von einer anderen umfangreichen Studie: „Secular Music at the Roman Princely Courts during the Phanariot Epoch (1711-1821)“ (37-82), ein reich belegter und mit zahlreichen Illustrationen versehener Überblicksartikel über die Tradition osmanischer Musik an den Phanariotenhöfen in Bukarest und Jassy. Es folgen zwei Kurzartikel für „The Canterbury Dictionary of Hymnology“, über Dionysios Photeinos, den Autor des „Neos Erotokritos“ (Wien 1818), und Nikephoros Kantouniarēs (83-86, 87-90), weiters „The Anastasimatarion of Dionyios Photeinos (1777-1821)“ (91-102),6 dasselbe ausführlicher im Griechischen (103-126)7 sowie eine weitere griechische Studie zu syntaktischen und morphologischen Anmerkungen zu demselben Anastasimatarion ( 126-134) ,8 Weitere Artikel sind: „Byzantine Music Treatises in the Manuscript Fund in Romania. The Case of Gr. MS no. 9 from the National Archivs in Drobeta Turnu-
Severin“ (135-162); ein kurzer griechischer Artikel zu musikologischen Studien zur Byzantinischen Musikin Rumänien (163-66), ähnlich auch Südost-Forschungen 72 (2013) 625
Literatur- und Theaterwissenschaft in Englisch (167-170); „Some Observations on the Structure of the „Nouthesia pros tous mathitas“ by Chrysaphes the Younger from the Gr. MS no. 840 in the Library of the Ruma nian Academy (A. D. 1821 )“ ( 171 -190);9 „The Kalophonic Idiom in the Second Half of the 18th Century. The Koinonika Aineite ton Kyrion in the First Authentic Mode“ (191-200);10 „The Structure of Sunday Koinonikon in the Post-Byzantine Era“ (201-224);11 schließlich „Observations on the Technique of Transcription (exegesis) into the New Method ofAnalyti cal Music Notation of the Sunday Koinonikon of the 18th Century“ (225-248).12 Hier tut sich ein breites Forschungsfeld auf, das sowohl in sprachlicher Hinsicht interdisziplinär ist (griechisch, rumänisch, osmanisch) als auch in musikologischer (byzantinische und westliche Notation). Der Band endet mit einem Index der Namen und termini technici (249-255). Athen, Wien Walter Puchner 1 Lia Brad Chisacof, Antologie de literatura greacă din Principatele Române. Proză şi teatru, secolele XVIII-XIX. Bucureşti 2003. 2 Matthias Kappler, Türkischsprachige Liebeslyrik in griechisch-osmanischen Liedanthologien des 19. Jahrhunderts. Berlin 2002. 3 Walter Puchner, Satirische Dialoge in dramatischer Form aus dem Phanar und den transdanubischen Fürstentümern 1690-1820, in: ders., Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums, Bd. 1. Wien, Köln, Weimar 2006, 115-132. 4 Vgl. etwa John Plemmenos, „Micro-music“ of the Ottoman Empire. The Case of the Phanaiot Greeks of Istanbul. Cambridge 2001. 5 Zuerst
veröffentlicht in: Ivan Moody/Maria Takala-Roszczenko (Hgg.), Composing and Chanting in the Orthodox Church. Proceedings of the Second International Conference on Orthodox Church Music. Joensuu 2009, 76-97. 6 Zuerst erschienen in Acta Мшісае Byzantinae 4 (2002), 99-109. 7 Zuerst erschienen in Polyphonia 16 (2010), 88-111. 8 Zuerst in: Grigorios Stathis (Hg.), Theoria and Praxis of the Psaltic Art: The Oktaechia. Acta of the Third International Congress of Byzantine Musicology and Psaltic Art, Athens 17-21 October 2006. Athens 2010, 351-366. 9 Zuerst erschienen in Acta Мшісае Byzantinae 7 (2004), 271-289. 10 Zuerst erschienen in Acta Musicae Byzantinae 5 (2003), 45-50. 11 Zuerst erschienen in Eastern Christian Studies 8 (2008), 33T355. 12 Inzwischen erschienen in: Nina-Maria Wynek (Hg.), Psaltike. Neue Studien zur Byzantinischen Musik. Festschrift für Gerda Wolfram. Wien 2011, 125-144. Aleksandra Gojkov-Rajić, Nemačka drama na vršačkoj sceni [Das deutsche Drama auf der Werschetzer Bühne]. Vršac: Visoka Škola strukovnih studija za obrazovanje vaspitača „Mihajlo Palov“ 2013 (Biblioteka Istraživačke studije, 61). 359 S., ISBN 978-86-7372177-4 Aleksandra Gojkov-Rajić hat in Neusatz/Novi Sad studiert und unterrichtet an der Pä dagogischen Hochschule in Werschetz/Vršac deutsche Sprache und Literatur. Am gleichen 626 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Hochschulinstitut werden neben den serbischen auch rumänische und anglistische Lehr veranstaltungen angeboten. Wie in der Auslandsgermanistik üblich, hat Frau Gojkov-Rajić auch aus dem Deutschen ins Serbische übersetzt („Im Krebsgang“ von Günter Grass, ebenso eine Auswahl seiner Prosa),1 und sie hat sich — auf Anregung des bekannten serbischen Germanisten Tomislav Bekić — schon früh mit donauschwäbischen Schriftstellern aus der Region, speziell mit Johannes Weidenheim und seinem Roman „Rückkehr nach Maresi“, beschäftigt.2 Dass sich die Verfasserin auch mit der Rezeptionstheorie und -geschichte aus einandergesetzt hat, war nicht nur für die jetzt vorgelegte Arbeit von Bedeutung.3 Die gute Zusammenarbeit der einzelnen Ethnien an der Hochschule in Werschetz konnte ich 2007 vor Ort selbst miterleben: Bei den Diskussionen nach meinem Vortrag über das deutsche Theater in Werschetz konnte man in serbischer, rumänischer oder deutscher Sprache das Wort ergreifen. Die vorliegende Arbeit ist eine Fortsetzung der Promotionsschrift der Autorin,4 die Schwerpunkte setzt, die dort nicht in gleichem Umfang hätten beachtet werden können. Der Aufbau des Buches verrät die Unterschiede: Zunächst wird - wie in der Dissertation von 2012 - ein Abriss der Geschichte des Banats im 18. Jh., der österreichischen Sied lungspolitik und der kulturellen Ansätze im Banat gegeben, dessen südwestlicher Teil 1920 an den SHS-Staat abgetreten wurde und der heute Teil der zu Serbien gehörenden Vojvodina ist. Die Autorin stützt sich hier auf Regionalhistoriker wie Franz Wettel und Felix Milleker,
die sich mit der Stadtgeschichte von Werschetz beschäftigt haben. In den folgenden Kapiteln steht Theatergeschichte im Vordergrund: Zunächst werden - auf Anregung von Vlado Obad, der sich mit den deutschen Wandertruppen in Osijek/Essegg auseinandersetzte -5 die wichtigsten Theaterunternehmer beachtet, die auch in Werschetz spielen ließen. Im nächsten Kapitel geht die Autorin auf das Laientheater in Werschetz ein, was schon deshalb sinnvoll ist, weil aus diesen Dilettantenaufführungen, aus der Tä tigkeit der einzelnen Vereine das Stadttheater entstanden ist. Dieses Stadttheater, dessen soziale Voraussetzungen die Autorin in ihrer Promotionsschrift eingehend untersucht hat, als sie auch einen Bezug zu den gewählten Bühnengenres (historische Gemälde, Pos sen, Schwänke, Volksstücke, Genrebilder) herzustellen versuchte, wird - ebenso wie das Laien- und Schultheater — mit Hilfe sehr ausführlicher Überblickstabellen präsentiert. Danach geht die Arbeit auf die wichtigsten deutschsprachigen (deutschen, österreichischen, lokalen) Dramatiker ein, die auf der Bühne von Werschetz zu sehen waren, ausgehend von Nestroy und Raimund (dem Wiener Volkstheater) bis zu den Autoren der 2. Hälfte des 19. Jh.s. Was die Arbeit auszeichnet, ist die Verwendung neuer Quellen. Das sind zunächst einmal die späten Theaterjournale aus Werschetz (1871-1872, 1873), die Sammlungen des Stadtarchivs und des Stadtmuseums Werschetz und - in ganz besonderem Maße - die Informationen aus dem „Werschetzer Gebirgsboten“, die diejenigen der Theaterjournale und des Archivs ergänzen. Aus diesen Quellen gespeist,
entsteht für die Entwicklung des Theaters in Werschetz ein exaktes Bild der Jahrzehnte von 1850 (vor allem nach 1855) bis 1880. Außerdem verhilft die Beibehaltung der Schreibweisen von Namen und Titeln in ihrer in Werschetz verwendeten Form im 19. Jh. dabei, sich eine Vorstellung des dortigen Sprachgebrauchs und der Bildungssituation zu machen. Allerdings wäre es manchmal Südost-Forschungen 72 (2013) 627
Literatur- und Theaterwissenschaft wünschenswert gewesen, ungenau wiedergegebene Sprachformen durch Anmerkungen zu kommentieren bzw. sie zu korrigieren.6 Ein Verdienst der Untersuchungen ist es auch, dass sie der Mehrsprachigkeit Rechnung trägt, wenn sowohl deutsch- als auch serbischsprachige Inszenierungen der Vereine und Schulen registriert wurden. Für das Jahr 1861 werden die Aufführungen von Jovan Sterija Popovič erwähnt,7 fur 1867 u. a. die Aufführungen von Stücken des Jovan Subotič.8 Mit Bezug auf die Arbeiten von Alojz Ujes hätte man ausführlicher auf das Nebeneinander von serbischsprachigem und deutschsprachigem Schultheater eingehen können, denn immerhin fanden die ersten serbischen Schulaufführungen in Werschetz 1793 zeitgleich mit jenen in der Banater Hauptstadt Temeswar statt (ein serbisches Berufstheater war schon 1814 geplant, als drei Serben versuchten, den deutschen Theaterdirektor Kunz dazu zu veranlas sen, auch in serbischer Sprache spielen zu lassen). Werschetz war zunächst nicht in erster Linie wegen seines deutschen Theaters bekannt, sondern durch serbische Aufführungen. Mit zwei Lustspielen von Michail Kreide begann 1793 in Werschetz die Tätigkeit des serbi schen Schultheaters.9 In Werschetz gingen ähnliche Versuche weiter, denn es war keinesfalls Zufall, dass der „serbische Lessing“, Jovan Sterija Popovič (1806-1856), der später dafür sorgte, dass 1841/1842 und 1847/1848 in Belgrad serbischsprachige Theateraufführun gen stattfanden, hier geboren wurde.10 Ob man letztere auch in der Provinz zeigte, ist bis heute nicht bekannt, aber an den großen
Sohn der Stadt Jovan Sterija Popovič erinnert die Werschetzer Stadtbibliothek, die seinen Namen trägt. Die Mehrsprachigkeit der Aufführungen und ihrer Rezeption belegen auch mehrsprachige Theaterplakate: 1881 kam der ungarische Theaterdirektor Gyula Polgár nach Werschetz und zeigte am 26.11.1881 Robert Planquets komische Operette „Cornevilli harangok / Die Glocken von Corneville / Zvona Kornevilska“; für den 24.4.1892 warb Direktor Sándor Dobós Truppe für das Lustspiel „Paraszttrumf/ Bauern Trumpf/ Seljačka dosetka“ von Árpád Gabányi; und am 3.(15.)12.1898 begann die Srpsko narodno pozorište ihre Spiel zeit in Werschetz mit dem Lustspiel „Prisni prijateli/A jó barátok/Die guten Freunde“ von Victorien Sardou. Diese mehrsprachigen Plakate sind ein Indiz, dass man Zuschauer aus verschiedenen ethnischen Gruppen werben wollte, die auf ihre Muttersprache nicht verzichten wollten. Mehrsprachige Aufführungen im Rahmen des gleichen Theaterabends, wie man sie aus Orawitza/Oraviţa kennt, sind bislang für Werschetz nicht nachweisbar. Da beide Städte miteinander verbunden waren - als sogenannte Vereinigte Stadttheater -, wäre zu erwarten, dass es viele Analogien gibt, und hierzu zählen vielleicht auch mehrsprachige Aufführungen im Rahmen der gleichen Veranstaltung. Eine Untersuchung der mehr sprachigen Plakate hätte die multikulturelle Atmosphäre, auf die die Verfasserin eingeht, noch deutlicher gemacht, ebenso eine Beschäftigung mit den serbischen und ungarischen Gastspielen seit den neunziger Jahren des 19. Jh.s. Sehr übersichtlich und reichhaltig sind die Angaben über die Vereins-
und Schulauffüh rungen von 1857 bis 1870 (79-105). Sie sind chronologisch angeordnet und lassen erken nen, wie die Repertoirekonstanten der Berufstheater sich auf die Laienkünstler auswirkten. Man kann dabei vor allem die Arbeiten von Paul S. Ulrich zu Rate ziehen, der statistischkomparatistische Gegenüberstellungen der Spielpläne unterschiedlicher Stadttheater vor genommen hat.11 Ebenso informativ sind die Tabellen mit den im Stadttheater von 1870 628 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bis 1874 gespielten Stücken. Anstelle einer chronologischen Abfolge werden die Stücke nach Dramatikern in alphabetischer Reihenfolge wiedergegeben, was dem nächsten Kapitel dazu verhilft, der Rezeption deutscher bzw. österreichischer Bühnenwerke in Werschetz auf die Spur zu kommen. Dabei werden die beliebtesten Dramatiker (Nestroy, Raimund) ausführlicher behandelt, die anderen aber in ihrer Bedeutung ebenfalls berücksichtigt. Zur Untersuchung der Besonderheiten des multikulturellen Milieus in Werschetz hätte eine weitere regionale Komponente hinzukommen können: die regionalen Theaterunio nen. Schließlich war auch das Stadttheater unter der Leitung von Karl Zeh als eine Union zwischen Werschetz und Orawitza konzipiert, wo die jeweils gleichen Stücke vom selben Ensemble dargeboten wurden. Aber Werschetz war — zum Beispiel unter Karl Rémay dem Älteren - in den 1860er Jahren in den Verbund von Arad, Lugosch/Lugoj und Großbetschkerek/Zrenjanin eingebunden, wobei in der jeweiligen Arena in Werschetz (hier gab es eine solche seit 1852) und Großbetschkerek die Sommersaison bestritten wurde. Die regionale Einheit hätte Gojkov-Rajić berücksichtigen können, indem sie etwa bei den einzelnen Direktoren, die sie im 2. Kapitel der Arbeit präsentiert,12 auf deren Simultantätigkeit an unterschiedlichen Standorten hinweist. Wie vielfältig die Bühnengenres sind, die man dem Repertoire der deutschen bzw. ös terreichischen Dramatik entlehnte, kann man aber anhand der Detailangaben bei GojkovRajić sehr gut erkennen. Mit ihren beiden Büchern über das deutsche Stadttheater in
Werschetz (2012) und über die Rezeption deutscher Dramatik auf den Bühnen von Werschetz (2013) hat die Germanistin zu einer eingehenden Kenntnis der Theatertätigkeit in ihrer Heimatstadt beigetragen. Damit hat ֊ nach Zemun/Semlin, wofür Vasilija Kolaković Vorarbeiten er bracht hat -13 auch die Meinstadt Werschetz eine solide Grundlage zur Beurteilung ihres vielsprachigen Kulturlebens, speziell die Theatertätigkeit, anzubieten. Für diese wichtige theatergeschichtliche Arbeit ist der Verfasserin zu danken. Wuppertal Horst Fassei 1 Vgl. Günter Grass, Hodom raka. Prevela sa nemačkog Aleksandra Gojkov-Rajić. Beograd 2002; ders., Pisma: 1959-1994. Ginter Gras, Helen Volf. Vorw. Daniela Hermes. Übers. Aleksandra Gojkov-Rajić. Beograd 2005. 2 Aleksandra Gojkov-Rajić, Povratak u zavičaj u savremenoj srpskoj i nemačkoj književnosti (komparativna analiza romana Johanesa Vajdenhajma Povratak u Marezi i Miodraga Matickog Idu Nemci). Vršac 2002 (Biblioteka Bibliosfera, 3). 3 Dies., Pristup književnom delu iz ugla teorije recepcije. Vršac 2008 (Biblioteka Istraživačke studije, 38). 4 Dies., Vršacko. Gradsko pozorište kao posrednik nemačke knijževnosti. Das Werschetzer Stadt theater als Vermittler deutscher Literatur. Vršac 2012; vgl. dazu meine Besprechungen in Germanistik 53 (2012), H. 3-4, 678. 5 Vlado Obad, Njemačke putujuće družine na pozornici osiečkoga kazališta u 100. godina Hr vatskoga narodnog kazališta о Osjeku. Povjest, teorija i praksa. Zagreb, Osijek 2008. 6 Vgl. „Eugen Sue“ (Eugène Sue), „E Offenbach“ (Jaques Offenbach, jeweils 83); „Börösmárty“ (Vörösmarty, 85); bei der
Posse „Ein Fuchs“ von „Juin“ (eigentlich Carl Giugno) hätte man - wie Südost-Forschungen 72 (2013) 629
Literatur- und Theaterwissenschaft in anderen Fällen auch - den Namen des Komponisten (Karl Binder) angeben können (99); „Poni“ (Emil Pohl, 104); bei dem Stück „Der Tod der Barbara Ubrik“ (104) hätte auch der Autor Lajos Urményi genannt werden sollen, eventuell auch der Übersetzer bzw. Bearbeiter; „Souppe“ (Suppe, 104£); „Die Reise nach Gratz“ (Graz); „Ein jüdischer Honvéd“ (Honvéd); „Dramolet“ (Dramoleti); „Localer Schwank“ (Lokaler Schwank); „Kaballe und Liebe“ (Kabale, alle 122); usw. 7 „Milosch Obilich“, „Svetislav і Mileva“, Kir Janja“, vgl. 81, ebenso eine deutsche Fassung des Dramas „Der Tod des Serben-Czars Urosch“ von Karadzic (das Stück wurde von Eduard Reimana 1862 in Temeswar aufgefuhrt). 8 Vgl. u. a. „Sana na javi“, Scribes „Die erste Begegnung“ (serbisch von Đorđević) sowie Schillers „Kabale und Liebe“ (ebenfalls serbisch von Đorđević). 9 Alojz Uješ, Prva školska pozorišna predstava na srpskim jeziku u Vršku 1793. godine. Vršac 2004. 10 Ders., Duhovna srodnost Lesingovog i Sterijinog nacionalnog pozorista (Hamburg 1767, Beograd 1841/42 i 1847/48), in: Ljubomir Simović (Hg.), Jovan Sterija Popovič 1806-1856-2006. Beograd 2007 (SANU naučni skup, 117), 179-201. 11 Paul S. Ulrich, Die Spielplangestaltung des deutschsprachigen Theaters in Elbing im 19. Jahr hundert im Lichte der Statistik (vor allem von 1846 bis 1888), in: Artur Pelka u. a. (Hgg.), Migratio nen/Standortwechsel. Deutsches Theater in Polen. Łódź, Tübingen 2007 (Thalia Germanica, 11), 25-60; ders., Die Spielplangestaltung und das Personal des deutschsprachigen Temeswarer Theaters im 19. Jahrhundert
statistisch betrachtet, insbesondere für die Jahre 1822-1860, in: Horst Fassel (Hg.), Das Deutsche Staatstheater Temeswar nach 50 Jahren vor dem Hintergrund deutscher Thea terentwicklung in Europa und im Banat seit dem 18. Jahrhundert. Tübingen, Temeswar 2005, 51-74. 12 Ausführlichere Informationen über die Tätigkeit der deutschen Theaterdirektoren in der 2. Hälfte des 19. Jh.s hätte man in Horst Fassel, Rückblick auf das deutsche Theater in Werschetz. Ausgangspunkte und Forschungsperspektiven, Estudios Filológicos Alemanes. Revista del Grupo de Investigación Filología Alemana 19 (2009), 9-39 vorfinden können, der auf meinen Vortrag in Wer schetz im November 2007 zurückgeht. 13 Vasilija Kolaković, Pozorištni život Zmuna u XIX veku. Kroz dokumenta zemunskog magistrata 1800-1875, Godišnjak grada Beograda 18 (1971), 163-198, unter http://www.mgb.org.rs/images/ stories/MGB/pdf/GodisnjakXVIII/GodisnjakXVIII 163-198,pdf , 4.12.2013. Hayal perdesinde ulus, değişim ve geleneğin icadı [Stellen Sie sich die Nation als Höhe punkt, als Veränderung und Erfindung der Tradition vor]. Hg. Peri Efe. Istanbul: Tarih Vakfi Yurt Yayınları 2013. XII, 246 S., zahir. Abb., ISBN 978-975-333-291-0, TRY 28,Die Anerkennung des Schattentheaters als beschützenswertes Kulturerbe der Türkei durch die UNESCO und das Kulturprogramm der Bosporus-Metropole Istanbul als euro päische Kulmrhauptstadt 2009, wo die Karagöz-Schattenspiele im Zentrum standen, haben den Studien zum osmanisch-türkischen Schattentheater neuen Aufwind verliehen, auch wenn monumentale Ausgaben bereits seit dem Millenium eine
ungewöhnliche editoriale Beweglichkeit dokumentieren.1 Die hervorragend illustrierte Kulturzeitschrift „Toplumsal Tarih“ hatte 2009 ihre 181. Nummer dem balkanischen und türkischen Schattentheater gewidmet, wo auch meine balkanische Übersichtsstudie zur Geschichte und Geographie des osmanischen Schattentheaters in Südosteuropa erschienen ist.2 630 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Nach der Vorstellung der Autoren in Kurzbiographien und der Einleitung von Peri Efe folgt der 1. Beitrag von Fan Pen Chen, dem Verfasser einer Monographie zum chinesi schen Schattentheater,3 zum Schattenspiel in Asien von der Türkei bis China (1-47)4 mit umfassender Bibliographie. Es folgt eine Studie zur Komik des osmanischen KaragözSpiels von Daryo Mizrahi (48-61).5 Es folgt mein Übersichtsartikel über das osmanische Schattentheater auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft (64-88).6 Sodann folgt der klassische Artikel zum Einfluss des osmanischen Schattentheaters auf das ru mänische Puppenspiel (89-110) von Eugenia Popescu-Judetz.7 Ihrem Angedenken ist auch der ganze Band gewidmet. Nach Bosnien führt dann die kurze Studie von Svetlana Slapšak (111-119).8 Die Herausgeberin selbst, Peri Efe, liefert dann eine Studie über den griechischen Karagiozis und den Schattenspieler Sotiris Spatharis (120-138). Mit dem psychologisch-soziologischen Interpretationsmodell des osmanischen Schattenspiels durch Sabri Esat Siyavuşgil9 setzt sich Sertan Batur auseinander (139-161), gefolgt von einem eher theoretischen Gemeinschaftsartikel zur Ästhetik der Schattenspielfiguren (162-174). Von unschätzbarem Wert ist jedoch die Bibliographie von M. Sabri Koz (175-240), wo insgesamt 51 Spielhefte aufgelistet sind,10 171 selbständige Publikationen und 282 Ar tikel und Studien - insgesamt mehr als 500 Angaben. Damit ist zusammen mit meinen 1200 aufgelisteten Publikationen zum griechischen Schattentheater (wo auch arabische, osmanische und balkanische Angaben enthalten
sind)11 eine umfassende bibliographische Dokumentation des traditionellen ostmediterranen Schattentheaters gegeben, die eventuell auch eine separate Publikation rechtfertigt. Doch die Bibliographie bietet noch mehr: etwa 150 Abbildungen von Spielheften, Handschriften und Deckblättern von Publikationen mit Nummernverweis auf die Bibliographie (225-240). Den Band beschließt ein Namen- und Ortsindex (241-246). Eine Zusammenfassung in eine der europäischen Hauptsprachen wäre vielleicht zu überlegen gewesen. Dennoch bildet das Buch einen gewichtigen Beitrag für die Schat tenspielforschung in Südosteuropa und ist zugleich ein Indiz dafür, dass die einschlägigen türkischen Publikationen an wissenschaftlichem Gewicht gewinnen und komparatistische Zugänge mit einigem Tiefgang zunehmend rezipieren. Athen, Wien Walter Puchner 1 Torn is the Curtain, Shattered is the Screen, the Stage all in Ruins. Yapı Kredi Karagöz Collec tion. Istanbul 2004; Gölgenin Renkleri / Colours of Shadows / Couleurs de Reflet. Ankara 2008; sowie die Wiederauflage der Stückausgabe 1968-70 von Cevdet Kudret, Karagöz. 3 Bde. İstanbul 2004. 2 Osmanli gölge tiyatrosunun. Yayılışı, işlevi, asimilasyonu, Toplumsal Tarih 181 (2009), 46-69, zurückgehend auf die Studie: Das osmanische Schattentheater auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft. Verbreitung, Funktion, Assimilation, Südost-Forschungen 56 (1997), 151-188 - als Schwarzauge Karagöz und seine Geschichte auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft auch in: Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums, Bd. 1.
Wien, Köln, Weimar 2006, 97-132. 3 Fan Pen Chen, Chinese Shadow Theatre: History, Popular Religion, and Women Warriors. Montreal, Kingston 2007. 4 Zurückgehend auf einen Artikel in Asian Folklore Studies 62 (2003), 23-64. Südost-Forschungen 72 (2013) 631
Literatur- und Theaterwissenschaft 5 Er greift dabei einen einschlägigen Artikel in Toplumsal Tarih 181 (2009), 48-55, wieder auf. 6 Entsprungen aus einem englischen Vortrag beim International Symposium „Ottoman Empire European Theatre. II. The Time ofJoseph Haydn ( 1732-1809). From Sultan Mahmud I to Mah mud II (r. 1730-1839)“, Istanbul 2009. 7 Zurückgehend auf ihre Studie: L’influence des Spectacles Populaires Turcs dans les Pays Rou mains, Studie et Acta Orientala 5-6 (1967), 337-355. 8 Hier ist auch eine neuere Monographie angeführt: Zoran Lukič, Karadjoz. Saraybosna 2002; 2. Aufl. Tuzla 2007. 9 Sabrı Esat Sİyavuşgİl, Karagöz. Psiko-sosyolojik bir deneme. Ankara 1941. 10 Zum Karagöz in der Zwischenkriegszeit vgl. Serdar Öztürk, „Karagöz Co-Opted: Turkish Shadow Theater of the Early Republic (1923-1945)“, Asian TheatreJournal23 (2006), H. 2,292-313. 11 Walter Puchner, „Σύντομη αναλυτική βιβλιογραφία του θεάτρου σκιών στην Ελλάδα“, Laografia 31 (1976-78), 294-324, und 32 (1979-81), 370-378, sowie die Fortsetzung „Σύντομη αναλυτική βιβλιογραφία τον ελληνικού θεάτρου σκιών (1977-2007) με συμπληρώσεις για τα προ ηγούμενα έτη“, Parabasis 9 (2009), 423-496, mit 1198 Nummern. Laura Manea, Literarische Gruppierungen und ihre Funktion in der rumäniendeutschen Literatur nach 1945. Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012 (Studien zur Germanistik, 45). 297 S„ ISBN 978-3-8300-6495-4, €85,80 Die Entwicklung der neuesten Literatur entzieht sich durch deren unaufhörliche Wan delbarkeit den Klassifizierungsbestrebungen der Literaturhistoriker. Da manche Entwick lungstendenzen dennoch
nachvollziehbar sind, ist man versucht, diese nachzuzeichnen. Man kann zum einen die - als unmittelbar vermutete - Abhängigkeit der Literatur von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen wählen, um Schwerpunkte zu ermitteln.1 Die Abhängigkeit der Kultur/Literatur von Parteibeschlüssen, mithin die Stationen einer Kommando-Kultur sind für Rumänien von Anneli Ute Gabányi dargestellt worden.2 Man kann zum anderen auch interne Literaturentwicklungen, die Kontinuität von literarisch-ästhetischen Traditionen und deren Umfunktionierung ausmachen. Dazu gehört es auch, Gruppierungen zu identifizieren, die regional oder überregional Einfluss auf die Literaturszene hatten. Für Deutschland wird dies von Laura Manea in Kapitel 2 (21-31) versucht, für das rumänische Schrifttum in Kapitel 6 (89-101). Wenn man dabei einen Überblick über die gesamte Nationalliteratur anstrebt, kann dies nur zu Missverständnissen führen; statt auf die Gruppe 47, auf die Gruppe 61, auf die Literatur der Studentenbe wegung, in der DDR, auf 1959 und den sogenannten Bitterfelder Weg einzugehen, die zeitgleich mit den in der rumäniendeutschen Literaturszene präsentierten Literaturkreisen tätig waren, statt in der rumänischen Literatur auf die rumänischen Literaturkreise des Schriftsteller-Verbandes, den „Luceafarul“-Kreis, auf den Kreis um Alexandru Piru (der sich zunächst um die Zeitschrift „Contemporanul“, danach um die „Gazeta literară“ sammelte) oder auf die 61er Poeten einzugehen, werden von ihr auch Gruppen des 19- Jh.s erwähnt. Insgesamt bleibt in beiden Fällen vieles skizzenhaft und - da keine
Entwicklungslinie aus- 632 Südost- Forschungen 72 (2013)
Rezensionen gemacht wird - missverständlich. Das gilt allerdings auch für die anderen Teile der Arbeit, ausgehend von der vorgeblich literatursoziologischen Bestimmung der Begriffe Dichterkreis, Dichterschule, Dichterverein, für die wieder zu weit abliegende Beispiele aufgezählt werden, während wichtigere fehlen. Ein Manko der Arbeit von Manea wird rasch erkennbar: Es sollte erschöpfend erfasst werden, was zu lang- oder kurzlebigen Literaturbestrebungen gehörte, anstatt dass man wenigstens an ausgewählten Beispielen - das Funktionieren, den Wirkungsmechanismus einiger Kreise untersucht hätte. Was ebenfalls fehlt, ist eine plausible Erläuterung der Existenzbedingungen von Literaturkreisen einer deutschsprachigen Minderheit im straff hierarchisch organisierten und zentralistisch gelenkten kommunistischen Rumänien von 1948 bis 1989.3 In dem Einbahnstraßen-Gesellschaftssystem nach 1947, in dem eine einzige Partei, die kommunistische, das Sagen hatte und durch die Zensur (die sogenannte Pressedirektion und die diversen flächendeckenden Uberwachungssysteme in den Institutionen, zum Bei spiel die regionalen Kulturkomitees) auch das Schrifttum im Griff hatte, wurden nationale und regionale Instanzen geschaffen, die staatliche Richtlinien umzusetzen hatten. Es sollte so ein homogenes Kulturleben entstehen, in dem die Spielräume für Einzel- und Eigen initiativen extrem eingeschränkt waren. Dass sich Unterschiede zwischen verschiedenen Etappen - auch auf der Ebene der dominierenden Ideologie — ergaben, ist unbestreitbar, ebenso, dass sich Richtlinien in der Literatur nicht derart
unmittelbar umsetzen ließen wie in berechenbareren, etwa technischen Bereichen. Als oberste Instanz — nach der Parteiführung - gab es den Rumänischen Schriftsteller verband, der seine Zentrale in Bukarest und Filialen in den größeren Städten des Landes besaß, wo die ersten Literaturkreise 1948 ins Leben gerufen wurden. Im Rahmen dieser Kreise gab es in Gebieten mit Minderheiten auch Abteilungen für diese Minderheiten. Eine tatsächliche Liberalisierung erfolgte in den 1950er Jahren nicht, obwohl man die ur sprünglich rumänischen Namen der Literaturkreise durch deutsche oder ungarische ersetzte, zum Beispiel in Temeswar 1952 die deutsche Abteilung des Flacăra-Kreises in NikolausLenau-Kreis umbenannte - die Mitglieder blieben die gleichen, die Unterordnung unter das Diktat der Parteiführung ebenfalls. Dass später regionale deutschsprachige Autoren Namensgeber für Literaturkreise wurden (Michael-Königes-Kreis in Zeiden, Josef-HaltrichKreis in Mediasch, Michael-Albert-Kreis in Schäßburg, Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis in Temeswar, Nikolaus-Schmidt-Kreis in Arad) änderte nicht viel, zeigte jedoch das Bestreben der Einzelstandorte, die eigenen lokalen Traditionen/Persönlichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Es ist eine andere Frage, ob die gewählten Namen/Autoren in der Lage waren, eine regional-einheitliche Identität zu vertreten. Außer den Literaturkreisen des Schriftstellerverbandes gab es die Kreise, die in Kulturhäu sern/Kulturheimen angesiedelt waren. Sie sollten breiteren Bevölkerungsschichten den Zu gang zur Literatur/Kultur ermöglichen und gleichzeitig deren
Eigenproduktion überwachen. In den Städten gab es solche Kulturhäuser (z. B. in Bukarest das Friedrich-Schiller-Haus, in Klausenburg, Temeswar, Hermannstadt und Jassy die Studentenkulturheime), in den Dörfern nannte man sie Kulturheime, die für Freizeitaktivitäten zur Verfügung standen. In diesen Kulturhäusern/-heimen waren unterschiedliche Tätigkeitsfelder abgesteckt: TanzgrupSüdost-Forschungen 72 (2013) 633
Literatur- und Theaterwissenschaft pen, Chöre, Theatergruppen und Literaturzirkel. Um es — vergleichbar mit der Bewegung „Greif zur Feder, Genosse“ in der DDR - auch den Industriearbeitern zu ermöglichen, über Literatur zu diskutieren (bzw. die erwünschte Literatur kennenzulernen) und selbst schrift stellerisch tätig zu werden, entstanden Literaturzirkel auch in großen Industriekomplexen (nach der Wende von 1989 übernahm der Leiter des rumänischen Literaturkreises der Jassyer Schwerindustrie, Cassian Maria Spiridon, die Leitung der traditionsreichen Literaturzeit schrift „Convorbiri literare“, als man von diesen proletarischen Literaturkreisen absah). Schließlich wurden auch Schüler und Studenten in Literaturkreisen organisiert, von denen bei Manea der Kreis des Temeswarer Lenau-Gymnasiums nicht erwähnt wird, dem in den siebziger Jahren eine eigene Beilage in der „Neuen Banater Zeitung“ zur Verfügung stand. Dass nicht in erster Linie Talente, sondern eine konforme Literatur gefördert werden sollte (n), machte es den einzelnen regionalen Literaturkreisen schwer, eine Tätigkeit zu entfalten, die ihren eigenen Ansprüchen genügte. Das war bis in die späten 1960er Jahre fast unmöglich; dann gab es eine zeidich befristete Phase mit Öffnungen zur europäischen/ westlichen Kulturszene. Diese wollte man wieder zurücknehmen, was allerdings nie end gültig gelang, den Wünschen der Parteiinstanzen zum Trotz. Wenn man diese flächendeckende staatliche Organisation von Zentren für literarische Aktivitäten im Auge behält, die in der deutschsprachigen Literatur des Landes in den oben
genannten Periodika und Verlagen der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten, dann ist das Thema des vorliegenden Buches von Laura Manea gut gewählt und lässt Aufschlüsse hinsichtlich der Funktion der deutschen Minderheitenliteratur in Rumänien erwarten. Ob man auch die Zeitschriften, die oft als Mittelpunkte gleichgesinnter Literaturäußerungen gelten, und ebenso einzelne Verlage mit den Literaturkreisen gleichstellen sollte, ist jedoch anzuzweifeln. Unbestritten haben die Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ (1949-1992, zunächst 1949-1955 als „Banater Schrifttum“) und die Wochenschrift „Karpatenrundschau“ (nach 1968) in verschiedenen Zeitabschnitten besondere Zeichen gesetzt, waren die „Neue Banater Zeitung“ (mehr als ihre Vorgängerin, „Die Wahrheit“, 1957-1968), die „Hermann städter Zeitung“ (1968-1990) mit regionalen und thematischen Eigenheiten ausgestattet, während die Zeitschrift „Volk und Kultur“ (1956-1985, zuvor 1949-1955 der „Kulturelle Wegweiser“) vor allem für volkstümliche Kultur eingeplant, die Jahrbücher der Universi täten mit germanistischen und komparatistischen Beiträgen für literaturtheoredsche und -historische Untersuchungen (so etwa die Hermannstädter „Forschungen zur Volks- und Landeskunde“ ab 1959). Die Bukarester Verlage Ion Creangă, Albatros und Kriterion, die über deutsche Abteilungen verfügten, waren, ebenso wie der Klausenburger Dacia- und der Temeswarer Facla-Verlag, auf einzelne Literaturschwerpunkte festgelegt, aber sie waren keineswegs Sprachrohre einzelner Literaturkreise, waren keineswegs monolithisch und widerspruchsfrei, so dass
jedes einzelne Periodikum und jede Verlagstätigkeit erst einzeln untersucht werden müssten. Die Zusammenhänge anzudeuten, hätte die vorliegende Arbeit wenigstens ansatzweise unternehmen können, um so die Rolle der Literaturkreise erkennbar zu machen. Auch hätte man die unterschiedlichen Formen der Literamrkreise getrennt präsentieren müssen, um Unterschiede und Vergleichbarkeiten überzeugend definieren zu können. 634 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Die Verfasserin hat die Arbeit als Promotionsschrift bei Horst Schuller-Anger vorgelegt, was ihr Beschränkungen auferlegt. Die letztlich vorgelegte Dissertation hat zwei unleugbare Verdienste. Zum einen hat Manea neben den Printmedien auch Zeitzeugen befragt und ihre eigenen Aussagen fast ausnahmslos auf diese beiden Quellen zurückgeführt (ein einziges Mal wird auch die Literatur selbst herangezogen: Bei dem Mausenburger Literaturkreis der Studenten wird der Roman „Rote Handschuhe“ von Eginald Schlattner zitiert, der die Tätigkeit dieses Kreises karikierend dargestellt hat).4 Zum anderen hat Manea eine vollständige Erfassung der zahlreichen literarischen Gruppierungen nach 1945 angestrebt und eine Informationsfülle zusammengetragen, deren Auswertung Erkenntnisse über das literarische Leben in einer kommunistischen Diktatur liefern sollte. Die beiden Vorzüge der Arbeit unterliegen dem schon erwähnten Dilemma - das Zuviel steht einem Zuwenig gegenüber: 1.) Die Zeitzeugen und ihre Erinnerungen sollten durch Presseaussagen berichtigt/ bestätigt werden. Außerdem wäre es sinnvoll gewesen, für jeden Literaturkreis mehrere Zeitzeugen zu befragen. Da dies unterblieben ist, muss man Ergänzungen und Berich tigungen selbst vornehmen. Ich beschränke mich auf ein Beispiel, Jassy. Als Zeitzeuge für diesen Studentenliteraturkreis füngiert Karl Arthur Ehrmann, der 1972 in der Tou ristikbranche, danach bei der „Karpatenrundschau“ und zuletzt bei der Saxonia-Stiftung tätig war. Ehrmann hat einiges vergessen, obwohl er sich auch auf eigene journalistische Beiträge hätte berufen
können5 - so etwa, dass im Literaturkreis von 1968 bis 1972 Ei genproduktionen der Studenten in einer sonst unüblichen Form besprochen wurden. Ein Student sammelte die Texte und fugte Werke bekannter deutscher Autoren hinzu. Alle Texte standen - ohne Namensangabe - zur Diskussion, und erst nach der Diskussion wurde die Zuordnung der besprochenen Einzelbeispiele zu den jeweiligen Verfassern vorgenommen. Außer den Gedichten und Kurzprosatexten, die zum Teil in der „Neuen Literatur“, der „Universitas“-Beilage der „Neuen Banater Zeitung“ und in „Volk und Kultur“ abgedruckt wurden (zwei Jassyer, Hans Matye und Willi Ehrmann, erhielten Preise bei literarischen Wettbewerben), gab es auch ein Theaterstück von Dietmar Franz („Die Explosion“), das in der Regie des Verfassers aufgeführt wurde (auch Willi Ehrmann hat ein Stück inszeniert, „Opfer Helena“ von Wolfgang Hildesheimer). Die Gespräche über Literatur wurden durch literarisch-musikalische Veranstaltungen ergänzt, die der DAAD-Lektor Dr. Klaus Steinke finanzierte (so konnten angesehene Musiker aus Jassy dazu eingeladen werden). Weder die Lehrstuhlinhaberin Hertha Perez noch Hilde-Marianne Paulini beteiligten sich an der Tätigkeit des Literaturkreises. Paulini, die Lehrveranstaltungen über rumäniendeutsche Literatur hielt, organisierte in den späten 1970er Jahren Lesungen aus Werken rumänien deutscher Autoren, zum Beispiel 1976 eine Lesung zum 70. Geburtstag Alfred Kittners, aber diese Veranstaltungen waren nicht Teil der Aktivitäten des Literaturkreises. Wie wenig die Lehrstuhlinhaberin den Literaturkreis förderte, war nach
der erfolgreichen Aufführung von Peter Hacks „Publikumsbeschimpfung“ zu erfahren:6 Hertha Perez untersagte es, wei tere Aufführungen und Literaturdiskussionen abzuhalten. Der Literaturkreis sollte - wie in allen Hochschulzentren - bloß wissenschaftliche Seminararbeiten aufbereiten helfen, die bei den Jahrestagungen der Fakultät vorzulegen waren. Seit 1972 hat es keine weitere Tätigkeit des von mir geleiteten Jassyer Literaturkreises gegeben, der nominell weiter Südost-Forschungen 72 (2013) 635
Literatur- und Theaterwissenschaft bestand und als Förderer angegeben wurde, wenn es mir gelang, Autoren zu Lesungen nach Jassy einzuladen: Claus Stephani (mehrmals), Gerhard Eike, Bernd Kolf, ebenso als einzigen DDR-Schriftsteller Horst Deichfuss. Man muss im Falle Jassy außerdem in Betracht ziehen, dass die Zahl der Kreismitglieder gering war und nicht durch Mitarbeiter aus anderen Fakultäten ergänzt werden konnte, weil es in der Hauptstadt der Moldau nach 1945 keine deutsche Minderheit mehr gab (demnach auch kein potentielles Publikum). In der rumänischsprachigen Studentenzeitschrift „Opinia“ wurden - durch die Vermitt lung von Andrei Corbea-Hoişie — Beiträge seiner Kollegen publiziert, auch derjenigen aus dem ehemaligen Literaturkreis. Das alles liest sich bei Ehrmann anders und könnte durch weitere Zeugenbefragungen überprüft werden. Ähnliche Erinnerungslücken gibt es zweifelsohne auch bei anderen Zeitzeugen, und nur dort, wo die Periodika die Tätigkeit von Literaturkreisen ausführlich würdigten, ist Exakteres über diese zu erfahren. Am besten steht es dort, wo — wie im Falle Erwin Wittstocks für Kronstadt - Aufzeichnungen über die einzelnen Sitzungen und über die Zielsetzungen des Literaturkreises vorliegen (man hätte diese Aufzeichnungen - die Veröffentlichungsgenehmigung Joachim Wittstocks vorausge setzt ֊ als wichtige Quelle abdrucken können). Für die frühen Jahre des Flacära-Kreises in Temeswar gibt es ebenfalls ausführliche Protokolle des seit den 1920er Jahren bekannten Temeswarer Journalisten Gabriel Sárkányt (er war bis 1949 Feuilletonchef der „Temesvarer
Zeitung“), die am Sitz des Temeswarer Schriftstellerverbandes aufbewahrt wurden. Eine TeilveröfFentlichung dieser Aufzeichnungen wäre ebenfalls sinnvoll gewesen. 2.) Die Präsentation der Literaturkreise erfolgt ausschließlich nach chronologischen und topographischen Gesichtspunkten. Dass die vom Schriftstellerverband angeregten Kreise ihre Tätigkeit anders organisierten als die Kulturhäuser/-heime, dass die Schülerund Studentenkreise anders organisiert waren als die Instanzen des Schriftstellerverbandes und der Kulturkomitees, dass schließlich die Literaturzirkel in Industriebetrieben ihre eigenen Regeln hatten, das wird in der vorliegenden Arbeit nicht klar erkennbar. Die Präsentation der Literaturkreise in einzelnen Ortschaften Siebenbürgens, des Banats und Bukarests beschränkt sich auf Informationen über Entstehungszeit, Mitglieder und das Ende des jeweiligen Kreises. Über die Zielsetzungen und über den Beitrag der Kreise zur deutschsprachigen Literaturszene wird wenig oder nichts mitgeteilt, aber gerade das wäre ein Anliegen, das die vorgenommene Auflistung sinnvoll erschienen ließe. Was konnten Literaturkreise in einzelnen Orten leisten? Was war in den 1950er, was in den 1970er oder in den 1980er Jahren überhaupt möglich? Dass ein Kurzkapitel auf die Zensur eingeht, macht es nicht einfacher, denn auch hier kann nur sehr summarisch verfahren werden. Wie die Zensurinstitutionen funktionierten, wie sie als Steuerungsinstrumente erfolgreich waren (oder auch nicht), wird nicht ersichtlich. Da die Veröffentlichungen in Periodika und bei Verlagen erfolgten, die nicht zu den
Literaturkreisen gehörten, wäre eine Untersuchung von deren Beziehungen zu den Publikationsinstanzen nötig gewesen. Dass es tatsächlich einen Literaturkreis der „Karpatenrundschau“, der „Neuen Banater Zeitung“ oder der „Neuen Literatur“ gab, darf bezweifelt werden. Bei dem erwähnten „Universitas“-Kreis handelt es sich keineswegs um eine feststehende Gruppe, vielmehr publizierten dort Temeswarer Autoren aus mehreren Studentenkreisen, ebenso solche aus Jassy (zeitweise waren diese ebenso zahlreich vertreten wie die Temeswarer). 636 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Dass Literamrkreise nebeneinander gestellt werden, die ihrer Zielsetzung und ihrer Organisationsform nach unterschiedlich waren, erschwert den Überblick. Vergleiche sind aber oft sehr aufschlussreich, wenn sie konsequent angestellt werden. Es war zum Beispiel sowohl bei den Literaturkreisen in Kulturhäusern/-heimen üblich, Literatur neben anderen Kunstformen zu behandeln. Manche der erwähnten Kulturhäuser traten in erster Linie durch ihre Inszenierungen in Erscheinung, zum Beispiel das Bukarester Schiller-Haus, das mit seinen Theateraufführungen mit dem ungarischen Kulturinstitut in Bukarest konkurrierte; an beiden war in den 1950er Jahren der gebürtige Temeswarer Coloman Müller einer der aktivsten Mitarbeiter.7 Das Schiller-Kulturhaus wird allerdings von Manea nur erwähnt, wenn vom dortigen Poesie-Club die Rede ist, so dass eine Gewichtung seiner diversen Einzelaktivitäten nicht erfolgt. Ebenso wird bei Temeswar nicht angegeben, dass die bei den Studentenliteraturkreise (Aktionsgruppe, Arbeitskreis 74) ihre Tätigkeit zum Teil im Studentenkulturhaus entfalteten, wo man auch die Theaterauffiihrungen beachtete. Diese bleiben in der vorliegenden Arbeit unerwähnt, und auch die Untersuchung des Beitrags der Lehrkräfte, die an Aufführungen und Diskussionen beteiligt waren, unterbleibt.8 Es wäre, wie schon erwähnt, wünschenswert gewesen, Vergleichbares zu vergleichen und statt einer topographischen Darstellung nach den Funktionsbedingungen der Literaturkreise zu fragen: also die Kreise des Schriftstellerverbandes, die Studentenliteraturkreise (auch die Literaturkreise
der Gymnasiasten, etwa die des Temeswarer Lenau-Gymnasiums vor und nach 1990),9 die Literaturzirkel der Kulturhäuser/Tieime sowie die Diskussionsforen der Industriebetriebe jeweils getrennt zu betrachten. Ob und wie die einzelnen Kreise die Publikationsorgane in Bukarest, Kronstadt, Hermannstadt, Temeswar und Klausenburg für ihre Zielsetzungen nutzten, ob es tatsächlich einen Universitas-Kreis gegeben hat (dort publizierten neben den Banater Studenten auch solche aus Jassy oder aus Siebenbürgen, die einander in den seltensten Fällen trafen, schon gar nicht regelmäßig, wie es bei Literatur kreisen üblich ist). Auch könnte man daraufhinweisen, dass die Literaturkreise in Temeswar (Arbeitskreis 74, Aktionsgruppe) zunächst als Studentenliteraturkreise fungierten, an der Universität oder im Studentenkulturheim tätig sein konnten und — alle gemeinsam - von der Redaktion der „Neuen Banater Zeitung“ unterstützt wurden. Da sie alle in der Antho logie von Eduard Schneider („Wortmeldungen“) erwähnt werden,10 scheint es einen Dialog untereinander gegeben zu haben, und auch eine Konkurrenz, die sich eventuell anregend ausgewirkt hat. Bei den Kulturhäusern/-heimen, ebenso bei Schüler- und Studentenlite raturkreisen, war die Theatertätigkeit eine normale Ergänzung der jeweiligen Tätigkeit. In diesem Buch gibt es allerdings nur für Hermannstadt eine Darstellung dieser Tätigkeit.11 In anderen Fällen sollten zusätzlich die Berichte in den Medien (Periodika, deutschsprachige Fernseh- und Radiosendungen) herangezogen werden, in einem noch größeren Umfang und übersichtlicher/systematischer,
als es in der Bibliographie (229-296) der Fall ist. Wenn einiges weggelassen, anderes ergänzt, die Systematik konsequent durchgehalten und eine komparatistische Betrachtung eingeführt würde, könnte diese Arbeit zu einer wichtigen (Teil-) Grundlage für die Erforschung der Literaturtätigkeit im kommunistischen Rumänien ausgeweitet werden. Wuppertal Südost-Forschungen 72 (2013) Horst Fassei 637
Literatur- und Theaterwissenschaft 1 In Deutschland etwa: 1949 die Gründung der beiden deutschen Staaten; in der DDR 1953 der Volksaufstand; in der Bundesrepublik die 68er Bewegung; 1989 die deutsche Wiedervereinigung, die zu literarischen Neuorientierungen geführt hätte. In Rumänien die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft 1948 und die Übernahme der Staatsgewalt durch die Kommunisten; die nachstalinistischen Lockerungen nach 1953; das Einschwenken des Parteiführers Gheorghe Gheorghiu-Dej auf einen Nationalkommunismus nach 1958; die 1964-1971 unternommenen „Neuerungen“ seines Nach folgers Nicolae Ceauşescu, die durch die kleine Kulturrevolution 1971 beendet wurden; schließlich die zunehmend restriktivere Diktatur bis zu den grotesk-zerstörerischen Maßnahmen der achtziger Jahre; 1989 der Sturz des Diktators und der Versuch einer Hinwendung zur Demokratie. Für die deutsche Minderheit in Rumänien: 1945 Deportationen in die Sowjetunion; 1951 Deportation der Banater in die Bärägan-Steppe; 1956-1950 politische Einschüchterungsprozesse (darunter 1959 der Prozess gegen fünf siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller, der Schwarze-Kirche-Prozess, 1960 der Weresch-Reb-Prozess gegen Banater Akademiker); 1967 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Rumäniens zur Bundesrepublik Deutschland; 1977 Beginn der organisierten Aussiedlung der Deut schen aus Rumänien; nach 1991 das Überleben einer schwindenden Minderheit in Rumänien nach dem Exodus 1990/1991. 2 Anneli Ute Gabanyi, Partei und Literatur in Rumänien seit 1945. München 1975. 3 Die zeitliche Begrenzung 1945/1948-1989 wird nicht
expressis verbis erwähnt, aber nach 1989 gibt es andere Voraussetzungen für eine literarische/kulturelle Tätigkeit der deutschen Minderheit in einem Staat, der sich nicht mehr als Diktatur begreift. 4 Allerdings wäre ein Eingehen auf die Berichte Schlattners und anderer aus den 1950er Jahren über diesen Literaturkreis nötig gewesen, um zwischen damals und heute einen Vergleich ziehen zu können, vgl. Eginald Schlattner, Der Bruch, Volkszeitung, Jg. 1, Nr. 21 vom 17.10.1957, S. 4; ders., Volkskunst der nationalen Minderheiten, Volkszeitung, Jg. 1, Nr.30 vom 19.12.1957, S.4; G.N., Kreis für deutsche Sprache und Literatur, Volkszeitung, Jg. 1, Nr. 32 vom 31.12.1957, S. 5; Joachim Wittstock, Literatur im Dienste des Fortschritts, Volkszeitung, Jg. 2, Nr. 54 vom 5.6.1958, S.4. 5 Vgl. z. B. Karl Arthur Ehrmann, Barock-Abend in Jassy, Neuer Weg, Jg. 22, Nr. 6433 vom 21.1.1970, S.2; ders., Um wachzurütteln. Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ in Jassy aufgeführt, Neue Banater Zeitung, Jg. 14, Nr.2521 vom 27.12.1970, S.6; vgl. auch Horst Fassel, Deutschunterricht in Jassy (1830-1992). Wissenschaftler und Lehrer als Vermittler im West-OstDialog. Tübingen 1993. 6 Die Aufführung fand im November 1970 im Rahmen einer Veranstaltung statt, die sich mit deutscher Literatur und Musik im 20. Jahrhundert beschäftigte. Als Darsteller traten Hilde Buchner, Cornelia Cujbä, Ute Leutschaft, Richard Bloos und Karl Ehrmann auf. 7 Vgl. dazu: A. B., Ein Wochenprogramm des „Friedrich-Schiller-Kulturhauses“, Volk und Kultur 10 (1958), H. 5,42f; Arthur Braedt, Das Kulturhaus Friedrich Schiller.
Bukarest-Rumänien 19571959. Eine Dokumentation. Stuttgart 1983; Mariana Duura u. a. (Hgg.), Das „Friedrich Schiller“ Kulturhaus im Wandel der Zeiten. Bukarest 2006. Dass Theatertätigkeit und Literaturbestrebungen benachbart waren, entsprach der seit dem 18. Jh. bekannten Behandlung des Theaters als Teil der Literatur. Die Bühnentätigkeit des Schiller-Hauses ist häufig beachtet worden, vgl. u. a. Gerhardt Csejka, Theaterarbeit ohne Theater. Gespräch mit dem Schauspieler Emmerich Schaffer über seine Ar beit mit der Theatergruppe des Schillerhauses, Neue Literatur TI (1976), H.7, 100-102; Peter Martini, Vielfältiges Programm. Rückblick und Vorschau auf die kulturelle Tätigkeit im „Schiller“-Haus, Neue Literatur 27 (1976), H.8, Ulf; Emmerich Schaffer, Wir brauchen begeisterte Leute. Kellertheater des Bukarester Schillerhauses gastiert in Braşov, Karpatenrundschau, Jg. 9, Nr. 36 vom 3.9.1976, S. 1,4f; Helga Höfer, Der Luxus von der höheren Gewalt. Horvaths „Glaube Liebe Hoffnung“ im Bukarester Schillerhaus, Neuer Weg, Jg. 28, Nr.8525 vom 12.10.1976, S.3; Wolfgang Wittstock, Den Kinder638 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen schuhen entwachsen. Kellertheater des Friedrich-Schiller-Kulturhauses aus Bukarest gastierte in Braşov, Karpatenrundschau, Jg. 9, Nr. 40 vom 1.10.1976, S.4f. 8 Vgl. zur Temeswarer Theatertätigkeit u. a. Nicolae Wolcz, Oglindele. Studioul de teatru al Centrului universitar timişorean, România literară, Jg. 2, Nr. 37 vom 11.9.1969, S. 25; Ludwig Schwarz, Warum Studententheater? (Gespräch mit Robert Jereb, Student an der Temesvarer Germa nistikfakultät), Karpatenrundschau, Jg. 4, Nr. 14 vom 9.4.1971, S. 12; Walter Konschitzky, Gedichte als Selbstauskunft. Vortragsabend des Temesvarer deutschen Studententheaters, Neuer Weg, Jg. 23, Nr. 6860 vom 28.5.1971, S.6; Emmerich Reichrath, Wenn Amateure Theater spielen. Einige Überlegungen am Rande der Aufführung von Dürrenmatts „Meteor“ in Temeswar, Neuer Weg, Jg. 26, Nr. 7682 vom 19.1.1974, S.3; Richard Wagner, Studentengruppe führt Dürrenmatts „Meteor“ auf, Neue Literatur 25 (1974), H. 2, 106-108; ders., Mockinpott. Das Thalia-Studio des Temeswarer Studentenkulturhauses, Karpatenrundschau, Jg. 15, Nr. 19 vom 14.5.1982, S.4f. 9 Dass es schon in den 1970er Jahren am Lenau-Gymnasium eine Literaturtätigkeit gab, die in einer Beilage der „Neuen Banater Zeitung“ ein Sprachrohr fand, wird in der Darstellung nicht ausgeführt. 10 Eduard Schneider, Wortmeldungen. Temeswar 1972. 11 Vgl. Hannes Höchsmann, Studententheater Hermannstadt 1969-1978, ein Überblick. O.O. 1998, 1. Hierbei handelt es sich um ein unpaginiertes Typoskript, das u.a. im Institut für donau schwäbische Geschichte und Landeskunde vorliegt, von Stefan Sienerth
dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Die seit 1972 als „Studentenbühne Sibiu“ bezeichnete Einrichtung war für die junge Universität ein Stück Eigenwerbung. Dass sie die Nähe zum professionellen Theater suchte, war ein Hinweis darauf, dass man Qualität anstrebte. Studenten theater gab es in Rumänien in Einzelfällen schon vor 1959, dann aber erst wieder in den Jahren der relativen Entspannung (1965-1975). In Klausenburg gab es 1959 eine Brecht-Aufführung und dann erst 1974 die nächste Inszenierung: vgl. Ernst Fischer, Deutsche Studenten-Laienspielgruppe. „Die Gewehre der Frau Carrar“ Brechts in Klausenburg, Volk und Kultur 11 (1959), H.7, 27; Annemarie Schuller, Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter. Die Germanistik-Abteilung der philologischen Fakultät von Cluj, Karpaten rundschau, 7. Jg. 7, Nr. 13 vom 29.3.1974, S. 6. Ο κόσμος του Ερωτάκριτου και ο Ερωτάκριτος στον κόσμο. Πρακτικά Διεθνούς Επιστημονικού συνεδρίου Σητεία, 31/7-2/8/2009 [Die Welt des „Erotokritos“ und „Erotokritos“ in der Welt. Akten des internationalen wissenschaftlichen Kongresses, Siteia, 31.7.-2.8.2009]. Hg. Tastila M. Markomichelaki. Heraklion: Elliniko Kentro 2012. 208 S., ISBN 978960-86153-4-2, €29,80 Zuanne Papadopulos, Στον καιρό της σχόλης (ĽOccio). Αναμνήσεις από την Κρήτη του 17” αιώνα [In der Freizeit (ĽOccio). Erinnerungen an das Kreta des 17. Jahrhunderts]. Eini. u. Komm. Alfred Vincent. Übers, u. Edition Natalia Deligiannaki. Heraklion: Crete University Press 2012. 331 S., 18 Abb., ISBN 978-960-524-390-6, €20,Κρητικά Χρονικά [Crética Chronica], Bd. 31. Heraklion: Society of Cretan
Historical Studies 2011. 321 S., zahir. Abb., ISSN 0454-5206, € 15,Die Großinsel Kreta, vor allem während der fast viereinhalb Jahrhunderte währenden Venezianerherrschaft (bis 1645/1669), steht nach wie vor im Zentrum eines weit ausgreiSüdost-Forschungen 72 (2013) 639
Literatur- und Theaterwissenschaft fenden komparativen Interesses, was einerseits mit der Qualität der Literatur dieser Epoche zusammenhängt, die einen bedeutenden Teil der nachbyzantinischen Belletristik ausmacht, andererseits mit den umfangreichen Notariatsakten, die in den staatlichen Archiven von Venedig lagern und bedeutende Einzelheiten des öffentlichen und privaten Alltagslebens der Bevölkerung enthalten, an deren Durchforstung und Auswertung noch Generationen von Historikern arbeiten werden. Das wichtigste und umfangreichste Literaturprodukt bleibt nach wie vor der barocke Versroman „Erotokritos“ mit über 10 000 Versen, nachdem vor Kurzem ein anonymes religiöses Gedicht („Das Alte und Neue Testament“) von etwa dem halben Umfang, ebenfalls aus dem 17. Jh., veröffentlicht und kommentiert worden ist.1 Seit dem Kongressband von 2006, der eine umfassende Bibliographie von Stefanos Kaklamanis enthält,2 ist es kaum stiller um den bemerkenswerten Versroman im kretischen Literaturdialekt von Vicenzo Cornaros geworden. Seine Geburtsstadt Siteia in Ostkreta hat im Sommer 2009 einen internationalen Kongress organisiert, der sich ebenfalls mit der Poetik der umfangreichen Verserzählung auseinandersetzt, aber auch mit Fragen der Rezeption, des Einflusses usw. Der l.Teil des schlanken Aktenbandes ist dem Literaturwerk selbst gewidmet. Es setzt mit einer allgemeinen Studie von David Holton ein, „Beim Wiederlesen des Erotokritos“ (29-42), um mit Giorgos Kallinis, „Was ist der Erotokritos und wie ist er zu lesen. Das genre und die Gattung“ (43-61 ) fortzufahren: Aufgrund der Mischung
von lyrischen, narra tiven und dramatischen Elementen ist der kretische Versroman im Laufe seiner Erforschung mit ganz verschiedenen Bezeichnungen belegt worden; der Referent schlägt „sentimentales Erzählgedicht“ vor. In der Folge setzt sich Eratosthenis Kapsomenos mit kulturellen codes im „Erotokritos“ auseinander (63-76), vor allem mit der Ambivalenz der Gegensätze und den Analogien zwischen Mensch und Natur, die auch im Volkslied zu finden sind. Dia Phillipides und Wim Bakker analysieren das Ende des Versromans mit der fast sadisti schen Prüfung der Standhaftigkeit der Aretusa (77-87), wo die Ambivalenz der Gefühle augenfällig und vom fiktiven Erzähler kommentiert wird (Liebe und Angst, Freude und Leid). Den letzten Beitrag zum l.Teil bilden die Ausführungen von Tina Lentari über die Analogie zwischen den Pfeilen des Eros und den Blicken der Aretusa: das decorum des Blickes in „Erotokritos“ (89-103). Der 2. Teil zu Rezeptionsfragen setzt mit Odysseas Tsangarakis ein, der das Heimweh (nostos) des Erotokritos mit der homerischen Tradition in Zusammenhang bringt (107-120) und fährt mit Marina Rodosthenus-Balafa fort, die ihre Ausführungen der petrarkischen Tradition und neoplatonischen Einflüssen auf den „Erotokritos“ und die zyprischen „Canzoniere“ widmet (121-144). Ott giostra im 2. Teil des Versromans wendet sich Alfred Vincent zu und vergleicht sie mit dem italienischen Versgedicht auf die barriera in Chania 1594 (145-171). Es folgen noch Giorgis Giatromanolakis über die Lektüre des „Erotokritos“ durch Seferis (173-189), Maria Prevelaki über den „Neos Erotokritos“ von
Pantelis Preveíalas (191-196) und Tasula Marko michelaki über das Lanzenturnier in den dramatischen Bearbeitungen und Theaterauflührungen von „Erotokritos“ in Vorstellungen von 1929 bis 2005 (197-208). Der Universitätsverlag Kreta hat auch eine griechische Übersetzung der im venezianischen Dialekt geschriebenen Memoiren von Zuanne Papadopoli über seine Jugendzeit auf der Großinsel im 17. Jh., bevor es im venetotürkischen Krieg an das Osmanische Reich fiel, 640 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bewerkstelligt, wobei in der Einleitung und bei den Kommentaren auf die Ausgabe (mit englischer Übersetzung) von Alfred Vincent3 zuriickgegriffen wird. Diese Ausgabe ist mei nerseits ausführlich besprochen worden,4 so dass keine Ursache besteht, diese unschätzbare Quelle zum Alltags- und Festleben auf der Großinsel noch einmal detailliert vorzustellen. Auf die Einleitung (17-42) folgt der Text (43-179) ohne das venezianische Original und die Kommentare (181-275). Hinzugefugt wurde ein Bildteil (277-289), ein griechisches Glossar (291-294), ein Generalindex (295-306) sowie die Bibliographie (307-331). Damit ist auch einem hellenophonen Leserpublikum eine der wichtigsten Quellen zum Alltagsleben auf der Großinsel im 17. Jh. zugänglich gemacht. Die „Kretischen Chroniken“ sind eines der traditionsreichsten kretischen Periodika, die kretologische Themen von der minoischen Zeit bis auf die heutigen Tage abdecken. 1947 von Andreas Kalokairinos gegründet, erschienen sie Jahr für Jahr bis 1973 in 25 Bänden, dann wurde die Herausgabe des Periodikums mehr oder weniger eingestellt: 1986/1987 erschienen noch zwei Bände, besorgt vom Kretischen Universitätsverlag, 1988-1990 zwei weitere, 1994 ein Index-Band von der Vikelaia-Bibliothek in Heraklion. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich die Gesellschaft für Kretische Historische Studien nicht nur entschlossen hat, das Periodikum nach der langen Pause weiterzuführen, sondern auch die 30 umfangreichen bisherigen Bände elektronisch zugänglich zu machen.5 Wie auch in den früheren Bänden, setzen die Studien mit archäologischen
Beiträgen ein, um sich dann der Venezianerzeit zuzuwenden. Auch hier ist der internationale Charakter des Periodikums gewahrt: Neben griechischen Beiträgen finden sich auch solche in den europäischen Hauptsprachen. So veröffentlicht Stefanos Kaklamanis seine umfangreiche Studie auf Italienisch, „Partendo da Candía. Pubbliche manifestazioni in onore di Gian Giacomo Zane, ex Capitano General di Creta (1598)“ (69-138), wo es zu Prozessionen und theaterhaften Festivitäten gekom men ist, Festreden der Akademie und Deklamation von Lob- und Widmungsgedichten; im Appendix der Studie wird die italienische Festbeschreibung veröffentlicht. Ein weiterer Beitrag bedient sich der französischen Sprache: Jean-Laurent Savoye, „Georges Chortatsis et la contre-Réforme: une exigence de réciprocité“ (139-162), wo die Tragödie „Erofile“ mit den Staatstheorien der Zeit verglichen wird.6 Michail Paschalis untersucht in sei nem griechischen Beitrag die Beziehung der vier Zwischenaktintermedien der „Erofile“, die Episoden aus der „Gerusalemme liberata“ von Tasso dramatisieren, mit der Tragödie selbst (163-182). Tasula Markomichelaki fragt sich in ihrem ebenfalls griechischen Bei trag, ob eine Stelle in „Erotokritos“ (El 191-1200) nicht eine intertextuelle Bezugnahme auf die Tragödie „Erofile“ von Chortatsis darstellt (183-194). Auch der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Theater: Alfred Vincent weist einen Aufenthalt des Komödien dichters Markantonios Foskolos (1655, „Fortunatos“) auf Korfu nach (195-202). Komnini Pidonia setzt die 1. Druckausgabe des „Apokopos“ (1509) mit dem Erdbeben
von 1508 in Beziehung (203-206); Aspasia Papadaki beschäftigt der Wein in Texten der kretischen Literatur (207-220); Kostas Lamprinos untersucht die soziale Strukturierung in der Zeit der Venezianerherrschaft: Hierarchien, Terminologie und Kataloge der gesellschaftlichen Stellung (221-239). Die weiteren Beiträge verlassen die Venezianerzeit und wenden sich neueren Epochen zu: Manolis Drakakis zum kretischen Gymnasium in Heraklion 1881-1889 (241-267); Theocharis Detorakis zu unveröffentlichten Briefen von Louis Südost-Forschungen 72 (2013) 641
Literatur- und Theaterwissenschaft Petit and Stefanos Xanthudidis (269-280); und Eugenia Lagudaki zur Bewegung der ,„Anciens Combattants et des Victimes de la Guerre“ in Heraklion 1922-1925 (281-308). Den Band beschließen zwei ausführliche Buchbesprechungen (309-321). Damit setzen die „Kretischen Chroniken“ im Wesentlichen die bewährte traditionelle Strukturierung der früheren Bände fort, und man darf sich wünschen, dass sich dieser Neubeginn als von bleibender Dauer erweisen wird. Athen, Wien Walter Puchner 1 Παλαιά και Νέα Διαθήκη, ανώνυμο κρητικό ποίημα (τέλη 15“-αρχές 16™ αι.). Kritische Aus gabe t Nikolaos M. Panagiotakis. Hgg. Stefanos Kaklamanis / Giannis К. Mavromatis. Venezia 2004 (Graecolatinitas Nostra, Sources, 6); Walter Puchner, „Παλαιά και Νέα Διαθήκη“. Ανώνυμο κρητικό ποίημα. Σχόλια και παρατηρήσεις. Venezia 2009. 2 Stefanos Kaklamanis (Hg.), Ζητήματα ποιητικής στον Ερωτόκριτο. Heraklion 2006,447-538. 3 Zuanne Papadopoli, Memoires of Seventeenth-Century Crete. L’Occio (Time of Leisure). Edited with an English translation, introduction, commentary and glossary by Alfred Vincent. Venice 2007 (Graecolatinitas Nostra, Sources, 8). 4 In den Südost-Forschungen 67 (2008), 355-357. 5 http://www.historical-museum.gr/eng/ekim/view/krhtika-chronika , 12.12.2013. 6 Der Beitrag geht auf die Dissertation des Verfassers, Erophili de Georges Chortatsis. Line tragédie de la Renaissance européenne, an der Universität Paul Valéry - Montpellier III zurück. Ottoman Empire and European Theatre. Volume I: The Age of Mozart and Selim III (1756-1808). Hgg. Michael HÜTTLER/Hans
Ernst Weidinger. Wien: Hollitzer Wis senschaftsverlag 2013 (Don Juan Archiv Wien: Ottomania, 1). 1016 S., 134 teils farb. Abb., Musiknoten, ISBN 978-3-99012-065-1, €82,50 Dieser sorgfältig aufgemachte und redigierte Band bildet die Akten einer Doppelkonferenz in Wien und Istanbul im Frühjahr 2008 ab, organisiert von der privaten Forschungsstiftung Don Juan Archiv Wien, dem International Theatre Institute der UNESCO in Wien und dem Austrian Cultural Forum in Istanbul zum Thema „Ottoman Empire and European Theatre. I. The Age of Mozart and Selim III (1756-1808)“. Diese Doppelkonferenz war gleichzeitig der Auftakt zu einer ganzen Reihe solcher Doppelkonferenzen, die in den Folgejahren in den beiden Metropolen der einstigen Großreiche, an der Donau und am Bosporus, stattgefhnden haben und deren Publikation noch aussteht. Als erste Großpublikation der Reihe Ottomania des Hollitzer Wissenschaftsverlags und des Don Juan Archivs in Wien mit vorwiegend theater- und musikwissenschaftlicher Ausrichtung hebt der voluminöse Band mit einem inspirierten „Proem“ von Hans Ernst Weidinger an (Ѵ-ѴП), der den thematischen Anfangsimpuls der nichtstaatlichen Stiftung Don Juan Archiv vorstellt ֊ den Grundsatz, dass die Anfänge bereits den weiteren Werde gang und die Gesamtentwicklung beinhalten (Weidinger hat eine vielbändige Dissertation zur Entwicklung des Don-Juan-Themas bis hin zu Mozarts „Don Giovanni“ am Wiener 642 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Theaterwissenschaftlichen institut vorgelegt): Don Juan und das Theater; Don Juan und die Türken; sowie Don Juan und die Geschichte. Nach dem Inhaltsverzeichnis, der Abbreviationsliste und einigen remarks folgt in der thematischen Einheit „Ouverture“ das Editorial „Ottoman Empire and European Theatre“ der Herausgeber (3-6). Die Einführung „Orientalism on Stage: Historical Approaches and Scholarly Reception“ von Michael Hüttler (7-28) zum Exotismus der Türkenopern und der alև Љтса-Мusik im Lichte von Saids Orientalismus (zusammen mit den „orientalischen“ Bühnenbildern) geht dann ausführlich auf die wissenschaftliche Rezeption der Theaterstücke und Opern mit orientalischem Thema ein, um schließlich bei den Kontaktzonen zwischen Habsburg und der Hohen Pforte zu enden. Alle elaborierten und erweiterten Vorträge sind auf Englisch verfasst und mit einer ausführlichen Fachbibliographie versehen. Sodann folgt das Kongressprogramm des Wiener Teils mit den Eröffnungsreden (29-40) sowie das Pendant dazu für den Istanbuler Teil (41-52). Nach weiteren akademischen Reden (5365) von Wolfgang Greisenegger, İlber Ortayli (Direktor des Topkapi Museums) und dem bekannten Theaterhistoriker Metin And folgt eine hommage auf die „Diva turca“ Leyla Gencer von Zeynep Oral (65-76). Im darauffolgenden thematischen Abschnitt „Prologue. The Stage of Politics“ sind die politisch-historischen Rahmenbedingungen des West-Ost-Kulturaustauschs in zwei Beiträgen zusammengefasst: „Austria’s Relations with the Ottoman Empire in the Eighteenth Century“ von Bertrand Michael Buchmann (81-100)1 mit
umfangreicher Bibliographie; und, überaus ausführlich, „The Ottoman Em pire and Europe in the Wake of the Second Half of the Eighteenth Century“ von Mehmet Alaadin Yalçinkaya (101-150). Damit setzen die theaterwissenschaftlichen Studien ein. Im I. Themenabschnitt („Act I“), „Diplomacy and Theatre“, stehen die Anfänge des Theaters am Bosporus im Mittelpunkt: „The Earliest Opera Performances in the Ottoman World and the Role of Diplomacy“ von Suna Suner (155-222) ist eine überaus gehaltvolle und umfangreiche Studie zur Regie rungszeit des Reformsultans Selim III. (1789-1807), der auch als Dichter und Komponist hervorgetreten ist. Sie beginnt mit einer Analyse der osmanischen Diplomatenberichte {sefäretnäme) aus dem Westen seit dem 15. Jh. und deren Beschreibungen von Musik-, Theaterund Ballettvorstellungen und fährt mit den Schaustellungen in der Bosporus-Metropole (und den westlichen Botschaften) seit dem 16. Jh., vor allem in den Diplomatenberichten, fort (z. B. die Molière-Komödien in der französischen Botschaft während des Karnevals im Jahre 1673), während die ersten Opernaufführungen in Konstantinopel gegen Ende des 18. Jh. zu datieren sind. Im 19. Jh. gibt es dann bereits regelrechtes Theater; die Darstellung der Opernaufführungen fuhrt bis in die republikanische Zeit des 20. Jh.s. In der Folge berichtet Walter Puchner über die Anfänge des Jesuitentheaters am Bosporus („European Drama and Theatre in Seventeenth-century Istanbul“, 223-234). Ein weiterer Abschnitt mit dem Titel ,Ambassadors and Envoys“ nimmt sich dann systematisch die Botschafferberichte vor. Zuerst
untersucht Boğaç Babür Turna die osmanischen Berichte aus dem Westen: „The Watcher and the Watched. Ottoman Diplomatie Visitors as Spectator and .Perfor mers' in Eighteenth-century Europe" (237-262), wobei die orientalische Erscheinung der Abgesandten selbst eine Art Spektakel bildete und zum Türkenbild des Westens wesentlich beigetragen hat; sodann in umgekehrter Optik die westlichen Diplomatenberichte über Südost-Forschungen 72 (2013) 643
Literatur- und Theaterwissenschaft die Spektakularität des imperialen Hofceremoniells am Bosporus „European Ambassadors at the Ottoman Court: the Imperial Protocol in the Eighteenth century“ von Günsel Renda (263-276); sowie zu einem Spezialfall „Auf türkische Art prächtig aufgeputzf: the Visit to Vienna by the Extraordinary Ottoman Envoy, Chaddi Mustafa Efendi, in the Year 1748“ von Frank Huss (277-284). In Act I“ folgt noch ein Abschnitt zur „Türkenmusik“: „Janissaries and mehter-Turkish Military Music“ mit einem einzigen Beitrag von William F. Parmentier II: „The Mehter: Cultural Perception and Interpretations of Turkish Drum and Bugle Music Throughout History“ (287-306). Act II“ geht dann auf die Türkenopern und -dramen mit ihrem Entfuhrungsmotiv ein und folgt einer geographischen Gliederung: „Europe South, West and North“ umfasst zuerst Mailand, London und Wien mit den Beiträgen „Performing ,Turkish Rulers' on Teatro alla Scala’s Stage, From the Late Eighteenth to the Mid-nineteenth Century“ von Alexandre Lhâa (311-338, auch über die Ali-Pascha-Ballette); „The Ottoman Seraglio on European Stages“ von Esin Akalin (339-374); und „‘Help for the Turk’: Investigating Ottoman Musical Representation in Britain from the Late Eighteenth to the Mid Nine teenth Century“ von Emre Araci (375-388). Der nächste Themenabschnitt umfasst dann Kopenhagen und Paris: „The Staging of the Turk: the Turk in the Danish Theatre of the Eighteenth Century“ von Bent Holm (391-426) und „The ,Turk‘ and the ,Parisienne'. From Favart s Soliman Second, ou les Trois Sultanes (1761) to Les Trois
Sultanes lázáré, 1912)“ von Isabelle Moindrot (427-464). Der geographischen Gliederung bleibt auch Act III: Central Europe" treu. Zuerst von Paris nach Wien: in „Ottoman Representation and Theatrical Alla Turca: Visiting an Un known Viennese Source of Turkish' Incidental Music" von Thomas Betzwieser (469-492) geht es um eine unveröffentlichte, zwischen 1742 und 1758 entstandene Intermediensamm lung mit Musiknoten-Beispielen; es folgt „.Turks' on the Late Eighteenth Century’s Stage: A Research Project Based on the Viennese Repertoire“ von Michael Hüttler (493-512) über die einschlägige data base des Don Juan Archivs; schließlich „The Second Turkish Siege of Vienna (1683) Reflected in Its First Centenary: Anniversary Plays' in the Pálily Theatre Library, Vienna“ von Matthias J. Pernerstorfer (513-542). Dann geht es von Wien nach Lemberg: „Mozarts Pupil and Friend: Franz Xaver Süssmayr’s Sinfonia Turchesca, Il Turco in Italia, and Soliman der Zweite“ von Етен Duda (545-552); und „Freemason, Mozarts Contemporary, and Theatre Director on the Edge: Franz Kratter’s Der Friede am Prnth (1799). Cataloguing the Komplex Mauerbach, Vienna“ von Gabmele C. Pfeiffer (553-598) über die Türken-Spiele einer Libretto-Sammlung im Don Juan Archiv. „Act IV: Mozart“ wendet sich mit „Mozart and ,Turkishness“‘ zunächst dem Türken bild bei Mozart zu. Zur „Türkenmusik“ schreiben Matthew Head (,,,Ιη the Orient of Vienna': Mozarts .Turkish' Music and the Theatrical Self", 603-614, zu Karnevalsmusik, „Die Entführung aus dem Serail“) und Marianne Tråven („Getting Emotional: Mozarts ‘Turkish’ Operas
and the Emotive Aspect ofSlavery", 615-630, eine musikwissenschaftliche Studie mit Noten); sodann folgt „Serail revisited" mit den Beiträgen „From Zaide to Die Entführung aus dem Serail·. Mozarts Turkish' Operas“ von Derek Weber (633-652) und „Mozarts .Orient' on Stage“ von Nadja Kayali (653-664). Ein weiterer Themenabschnitt „The Elegant Voyager to the City of the Sublime Porte“ mit drei Beiträgen erweitert dann 644 Sudost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen den Blickwinkel nach Osten hin. Zur Modekleidung und dem Theaterkostüm schreibt Annemarie Bönsch (.„Turkish1 and ,Exotic' References in the European Fashion of the Second Half of the Eighteenth Century", 667-694, mit Farbabb.); „European Influences on Eighteenth-century Ottoman Imperial Fashion“ untersucht Selin İpek (695-720, mit Farbabb.); und zu den Reiseumständen an den Bosporus anhand einer fiktiven Konstanti nopelfahrt Mozarts, die dieser nie unternommen hat, schreibt Käthe Springer-Dissmann, „Mozart Goes to Constantinople; the Real Conditions of a Fictitious Journey" (721-746). „Act V“ ist dann „Sultan Selim III“ selbst gewidmet und fokussiert in konzentrischen Kreisen auf die Person des Musen-Sultans. Dieser letzte Akt hebt mit einem allgemeinen Abschnitt „In the Ottoman Empire 1756-1808“ an, der aus zwei Beiträgen besteht; über die realen Verhältnisse in Konstantinopel schreibt Tülay Artan, ,A Composite Universe: Arts and Society in Istanbul at the End of the Eighteenth Century" (751-794), ein um fassender Artikel zur kulturellen Situation mit ausführlicher Bibliographie (785-794, zu Westeinflüssen in Dichtung, Musik, Malerei, Architektur, aber auch zu den Reaktionen auf die Reformen des Sultans in Mystizismus und Esoterik); der Beitrag von Caroline Herfert handelt vom Werk eines osmanisch-wienerischen Diplomaten auf dem Balkan („.German Poet and Turkish Diplomat': Murad Efendi, Ottoman Consul in Temeswar, and the Tragedy Selim der Dritte“, 795-820), in handschriftlicher Form verfasst von Franz von Werner in Timişoara 1871, das auf den k. u. k.
Provinzbühnen, 1872 aber auch am Burgtheater aufgefuhrt wurde und in abweichenden Versionen gleich dreimal in Druck ging (1872,1875, 1881, auch ins Holländische übersetzt). Sodann ist die spezifische Kreisziehung mit dem Abschnitt „Sultan Selim III: A Man of Tetters and Arts" bei der Person Selims III. angelangt. Ihm sind drei Beiträge gewidmet: „Selim III as Patron of the Arts" von Günsel Renda (823-838, mit farbigen Gemäldereproduktionen); „Selim III as Man of Letters and Art" von Mustafa Fatih Salgar (839-860, vor allem zur intonierten Dichtung und seinen eigenen Kompositionen, mit Musiknoten); und „The Play World of Selim III“ von Avşin Candan (861-872, zu Festivitäten, Geschichtenerzählern, meddah und Schattentheater, Tanzformen, Akrobaten und Kunstreitern, Kuriositäten und Dompteuren sowie zu den ersten Opemaufführungen imTopkapi Palast). Ein als „Epilogue" betitelter Abschnitt „The Hero in the Sultans Harem“ bringt als Paralipomena noch zwei Beträge: „Between Enlightenment and Orient: Oberon by Christoph Martin Wieland“ von Ulrike Schneider (877-902), und „From the Prince of Denmark in the Sultan’s Harem to Don Juan in the Royal Danish Chamber: The Forgotten Composer Friedrich Tudwig Aemilius Kunzen" von Hans-Peter Kellner (903-926). Ein umfang reicher Appendix beschließt den nicht nur von der thematischen Spannweite und der Güte der Beiträge, sondern auch von der Druckqualität her bemerkenswerten Band mit einer eindrucksvollen „Picture Gallery“ (929-946) und Indices zu Namen und Werken (948982) und Orten (983-996); schließlich den curricuև vitae der
Kongressteilnehmer (9971016). Der mit über 1 000 Seiten umfangreiche Band stellt eine vorbildliche Verlagsarbeit dar: Trotz der oft komplizierten Texteingabe ist er aufgrund der minutiösen Redaktion typographisch eine wahre Augenweide, was nicht nur auf die rot gedruckten Titel und die zahlreichen historischen Abbildungen, auf die sorgfältig redigierten englischen Texte und die eindrucksvolle, seriöse Gesamtaufmachung zurückzufuhren ist, sondern auch auf das Südost-Forschungen 72 (2013) 645
Literatur- und Theaterwissenschaft optisch ansprechende Layout der seitenweisen Textorganisation, die das Leserauge ästhetisch erfreut und nicht ermüden lässt. Turcica gloriosa. Athen, Wien Walter Puchner 1 Dieser ist bekannt durch sein Buch: Bertrand Michael Buchmann, Türkenlieder. Zu den Tür kenkriegen und besonders zur zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683. Wien, Köln, Weimar 1983. Walter Puchner, Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Zur Geschichte und Geographie einer geduldeten Tätigkeit. Wien, Berlin, Münster: LITVerlag 2012. VIII, 235 S„ ISBN 978-3-643-50447-0, €24,90 Der dem Andenken des türkischen Literaturhistorikers Metin And gewidmete, gefällig aufgemachte Band umfasst Prolog, Einleitung, 7 Kapitel, Zusammenfassung, fortlaufend angeordnete Abbildungen (mit Bildnachweis), Bibliographie und ein dreigeteiltes Register (Personen-, Titel-, Ortsregister). In der Einleitung (3-7) richtet Puchner nach Feststellung des grundsätzlichen islamischen Darstellungsverbots das Augenmerk besonders auf seine Entdeckung des griechischspra chigen Ordenstheaters der Jesuiten in der Ägäis (1600-1750) und die Dokumentation des griechischen Theaters in Konstantinopel im 19. Jh. Zusammen mit der Untersuchung des vorrevolutionären Theaters unter den Phanarioten in Bukarest und Jassy ergebe dies eine andere historische Dynamik als die in der Theatergeschichte des Osmanenreichs bisher bekannte, u. a. von And erforschte, die erst mit dem armenischen Theater in Konstantinopel um 1860 einsetzt. Doch könne auch die hier festgestellte Dynamik ohne Berücksichtigung der
Entwicklung am Nordufer des Schwarzen Meeres nicht adäquat erfasst werden. Mit Recht wird aufdas methodische Versagen der lediglich nationalstaatlichen Theatergeschichts schreibung in diesem ganzen, auch die Griechen betreffenden Raum hingewiesen sowie darauf, dass bis ca. 1900 Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis und Alexandria wichtigere Zentren des griechischen Theaters waren als Athen. Künftige Arbeiten müssten auf diese neuen Gesichtspunkte noch stärker eingehen. In Kapitel 1, „Ordenstheater der Gegenreformation und barockes Schulspiel (Konstan tinopel, Chios, Naxos)“ (9-30), wird das hauptsächlich jesuitische Schultheater von ca. 1580 (griechische Rezitationen im Kolleg des Hl. Athanasios zu Rom) bis etwa zur Mitte des 18. Jh. im Ägäisraum und in Konstantinopel behandelt. Aus Chios sind sieben religiöse Dramen des 17. und frühen 18. Jh. erhalten und zumeist von Puchner selbst publiziert, darunter auch solche orthodoxer Autoren wie des bedeutenden Michael Vestarchis (t 1662). Auf Naxos sahen sich sogar türkische Beamte die Aufführungen an. In Kapitel 2, „Klerikale und weltliche Dialogsatiren im phanariotischen Bereich“ (31֊ 40), weist Puchner auf 14 solcher griechischen Satiren aus der Zeit von 1692 bis 1820 (z. T. Prosa, z. T. in Versform) hin und skizziert deren Inhalt. Nur wenige davon sind anonym, die Verfasserschaft zweier ist umstritten. Acht von ihnen nehmen direkt Bezug auf Bukarest, 646 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen zwei auf Konstantinopel. Der bekannteste Autor war Georgios Sutsos (mit 4 Stücken). Der Verfasser charakterisiert diese Originalsatiren in Dramenform als „Pegelmesser für den sukzessiven Wiedergewinn einer gewissen Theaternähe im 18. Jahrhundert“ (40). Kapitel 3 handelt von der „Rezeption von Spätaufklärung, Rokoko, Sentimentalismus und Frühromantik in den Dramenübersetzungen des 18. Jahrhunderts“ (41-56). Auffüh rungen griechischer Übersetzungen französischer und italienischer Dramen drängten solche in den Originalsprachen langsam zurück; in phanariotischen Kreisen wurde freilich viel mehr übersetzt als aufgeführt. Druckorte außerhalb des Osmanenreichs waren Venedig und Wien, letzteres war von ca. 1780 bis 1820 ein wichtiger Umschlagplatz aufklärerischen Gedankenguts für den Südosten. Von den 14 griechischen Molière-Übersetzungen ab 1740 sind nur die spätesten, von „Tartuffe“ und „Avare“, gedruckt worden (Wien 1815, 1816). Im 18. Jh. wurden 11 Metastasio-Übertragungen ediert, ausschlaggebend für die Theaterpraxis im 19. Jh. sollten aber die vielen Übersetzungen von Komödien Goldonis werden. Kostas Kokkinakis übertrug und edierte 1801 in Wien gleich 4 Kotzebue-Stücke, die erste Theateraufführung auf dem griechischen Festland (Ambelakia 1803) brachte davon „Menschenhass und Reue“. 1813/1814 übersetzte Ioannis Papadopulos, derselbe, der 1818 in Jena die erste griechischsprachige Goethe-Übertragung („Iphigenie aufTauris“ in Prosa) veröffentlichte, in Bukarest noch Kotzebues „Quäker“. Um 1790 war Lessings „Phiiotas“ übersetzt worden. Kapitel 4 widmet sich dem
„Polit-Theater der nationalen Erhebung (Bukarest, Jassy, Odessa, Konstantinopel, Argos) und seineļr] Fortsetzung nach der Revolution (Hermupolis, Samos, Athen, patriotisches Drama)“ (57-81). Die Autonomie der phanariotischen Fürs tentümer förderte dort eine am aufklärerischen Bildungsideal orientierte neue Theaterent wicklung. Nach Aufführungen westlicher Wandertruppen ab Ende des 18. Jh. datieren die ersten griechischen Schülervorstellungen in Bukarest (Szenen aus Homer und den Tragikern) erst von 1816/1817. Ein nationalgriechisches Polittheater entstand: Man spielte Überset zungen Voltaires („La mort de César“, „Brutus“) und von Metastasios „Temistocle“, aber auch Originale von Iaköbos Rizos Nerulos und Athanasios Christopulos. 1821 wurde die Entwicklung unterbrochen. In Jassy gab es schon 1805 eine Vorstellung von Christopulos’ ,Achilleus“, 1809 von Aischylos’ „Persern“ („Perser“: Chiffre für Türken). 1814 bildeten sich Laientruppen an 3 Gymnasien. Auch Odessa mit seiner starken griechischen Kolonie und der Filiki Etaireia wurde zu einem Zentrum des nationalen Polittheaters (ab 1814 gab es dort Laienaufführungen der Übersetzung des „Temistocle“ sowie der anonymen Originale „Leonidas bei den Thermopylen“ und „Suliotes“) .1818 wurde dort die erste neugriechische Übertragung einer antiken Tragödie, Sophokles’ „Philoktet“, gespielt, die Nikolaos Pikkolos angefertigt hatte. Es folgten dessen Original „Tod des Demosthenes“ sowie das Manifest der Revolution, Georgios Lassanis’ „Hellas“. Mehrere Theaterleute aus Bukarest, Jassy und Odessa fallen 1821 bei den Kämpfen. In
Konstantinopel mussten die ab 1820 bezeugten Laienaufführungen geheim bleiben; dennoch zeigten Schüler der Griechenstadt Kydonies/ Ayvalık auch dort Ausschnitte antiker Tragödien, u. a. der „Perser“. Schon während des Aufstands begann sich das neutrale Hermupolis zum ersten Mittelpunkt des Theaters in Griechenland zu entwickeln; Puchner verzeichnet dort 4 vor 1830 aufgeführte patriotische Südost-Forschungen 72 (2013) 647
Literatur- und Theaterwissenschaft Originaltragödien. Für Samos kann er von 1830 bis 1834 Theateransätze nachweisen, danach emigrierten die dortigen Theateraktivisten ins griechische Königreich. Kapitel 5, das bei Weitem längste und am stärksten untergliederte Kapitel mit enormer Stofffülle, behandelt „Das lange 19. Jahrhundert der Sultansreformen“ (83-159). a) Konstantinopel: Nach dem Tanzimat (1839) traten italienische, französische, armeni sche und griechische professionelle Truppen in der Hauptstadt auf. Letztere kamen, erst mals 1858, zumeist aus Athen und benutzten Konstantinopel, wo sie oft eine volle Saison spielten, als wichtigste Station ausgedehnter Tourneen. Es entwickelte sich ein blühendes Theaterleben, das nach Puchner, der die griechische Presse der Stadt auswertet, dasjenige Athens in den Schatten stellte. Von der Originaldramatik der klassizistischen Romantik war das meiste in Konstantinopel vertreten. Auf patriotische Stücke musste man zwar weitgehend verzichten, doch konnten Alexandras Stamatiadis’ „Versklavtes Chios“ und 3 Tragödien von Za(m)belios gespielt werden. Es folgten Stücke von Dimitrios Vernardakis, u. a. „Maria Doxapatri“, und Spiridon Vasileiadis bedeutende „Galateia“ (alle Stücke wurden oft wiederholt). Übersetzte Modeautoren der Pièce bien faite waren vertreten, noch stärker Originalkomödien wie „Die Hochzeit des Kutrulis“ von Alexandras Rizos Rangavis, Dimi trios K. Vyzantios’ „Babylonia“ und Dimosthenis Misitzis’ „Schwindler“. Eine Besonderheit bildeten einaktige Komödien am Schluss der Vorstellung, meist Übersetzungen aus dem
Französischen, daneben das von Angelos Vlachos übertragene Kotzebue-Stückchen „Die Zerstreuten“. Originalproduktionen solcher Einakter erfreuten sich gleicher Beliebtheit, ihr Prototyp war Vlachos’ „Krämerstochter“. Ab 1889 hatte das Vaudeville/Kom(e)idyllion (provinzrealistische Singspiel) durchschlagenden Erfolg und hielt sich bis ins 20. Jh. - auch in Griechenland. Dessen Prototyp, Dimitrios Koramilas’ „Marulas Glück“, wurde bis 1900 59mal gespielt. Es gab auch konstantinopolitanische Lokalvaudevilles. Melodramen, etwa Spyridon Peresiadis’ „Golfo“, und realistische Dramatik erschienen zum Jahrhundertende; unter Letzterer waren auch Übersetzungen von Sudermanns „Die Ehre“ und „Heimat“ sowie Ibsens „Gespenstern“. Die Stadt wies außerdem ein blühendes Laienspielwesen der Griechen auf, das im 19. Jh. von je einem Dutzend Theatergruppen und Kulturvereinen getragen wurde. Es wurden 11 zentrale und über 20 Vorstadttheater bespielt. Die Politik der türkischen Zensur war uneinheitlich. b) Smyrna: Von dort stammte Konstantinos Oikonomos, dessen Übersetzung des „Geizi gen 1816in Wien herauskam. Von größter Bedeutung war die Stadt bis zum Exodus 1922 als Druckort von 194 Dramenübertragungen und -originalen. Der Druck der Letzteren begann 1833 mit „Hektors Tod“ des Chioten Argyrios Karavas, und viele ältere Werke erlebten Neuauflagen. Laienvorstellungen fanden ab 1845 statt; professionelle Ensembles, von denen Puchner mehrere ausführlich vorstellt, erschienen ab 1866 und brachten in etwa den Spielplan Konstantinopels. Um 1890 gewann auch hier das Kom(e)idyllion die Oberhand. Nach
dem Krieg von 1897 kamen neue Ensembles, u. a. Christomanos’ Ned Skini, am Anfang des 20. Jh. auch Athener Operettentruppen, die außer Verdi griech. Opern wie Spyridon Xyndas „Parlamentskandidaten“ spielten. 1909 hielten Operette und Revue, die in Smyrna sogar eigene Autoren hatten, Einzug. Die Blockade während des Weltkriegs förderte die Konsolidierung einheimischer Theaterkräfte, und die dreijährige griechische 648 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Herrschaft ab 1919 führte noch zu einer kurzen Blüte. Puchner nennt hier 10 Theater, das älteste war 1841 gegründet worden. c) Alexandria: Die Autonomie von der Hohen Pforte erleichterte in Ägypten die Entste hung und Entwicklung eines italienischen und griechischen Theaterlebens. Die älteste helle nische Gemeinde wurde 1843 in Alexandria gegründet, wo 1864 griechisches Berufstheater einsetzte. Puchner verzeichnet die Namen der Truppen und die Auftritte der ersten griechi schen Primadonnen dort (Pipinä Vonáséra, Aikaterini Veroni, Evangelia Paraskevopulu). Das Theater „Zizania“ wurde Mittelpunkt der Aufführungen, u. a. der,Antigone“-Übersetzung von Alexandras Rizos Rangavis, von Vernardakis’ „Merope“ und Za(m)belios’ „Georgios Kastriotis“. Patriotische Themen unterlagen hier keinerlei Zensur, und viele Griechen sahen den Besuch griechischer Vorstellungen als patriotische Pflicht an. Ab den 1990er Jahren erweiterten auch in Alexandria Kom(e)idyllia, Melodramen und romantische Zugstücke französischer Art die Repertoires; Ibsens „Gespenster“ markierten 1896 das Einsetzen der Moderne. Puchner führt nicht weniger als 12 Theater in Alexandria an. Im Gegensatz zu Konstantinopel blieb der ägyptische Hafen auch in der Zwischenkriegszeit - und bis zu Nassers Revolution (1952)— ein wichtiger Standort griechischen Theaters. 1939 wurde ein einheimisches griechisches Ensemble, sogar mit Schauspielschule, gegründet. d) Die Städte des Balkans: Hier steht Bukarest im Vordergrund. In den 11 griechischen Schulen der Stadt begann um 1830 wieder bescheidenes Laienspiel, aus dem
aber auch die ersten rumänischen Schauspieler hervorgehen sollten. Konstantinos К. Aristias führte Voltaires „Brutus“ und „Semiramis“ sowie Alfieris „Oreste“ auf Griechisch auf, was wei tere Übersetzungen hervorrief; fast alle rumänischen Dramenübertragungen erfolgten aus dem Griechischen. Nach der Vereinigung von Moldau und Walachei (1859) setzt auch die hellenische patriotische Dramatik wieder ein. Mit der Bildung Athener professioneller Truppen nach 1860 wurde Bukarest zur wichtigen Tourneestation. Paparrigopulos’ Satire „Gattenwahl“ und patriotische Dramen, u. a. „Suliotes“ und „Markos Botsaris“, standen jahrelang auf dem Spielplan. 1888 kam Aikaterini Veroni, 1891 Evangelia Paraskevopu lu, die 1895-1899 mit ihrer inzwischen eigenen Truppe große Erfolge errang. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. verfiel das griechische Theater in Rumänien, insbesondere aufgrund der nationalen Spannungen wegen der aromunischen Frage. Kürzer geht Puchner auf das griechische Drama in Brăila, Galati, Ismail und Constanţa sowie in Varna ein: Im Wesent lichen haben dieselben Ensembles wie in Bukarest auch diese Orte bespielt, am intensivsten Brăila. In Philippopel/Plovdiv mit seinem griechischen Bevölkerungsanteil von damals 30% gab es 1872/1873 professionelle Vorstellungen, ebenso in Adrianopel/Edirne. 1880 und 1881 erschienen zwei Truppen mit breit gefächertem, auch klassischem Repertoire in Ostrumeliens Hauptstadt. Zuerst 1884 spielte die Paraskevopulu dort, auch 1889 feierte sie dort Triumphe, u. a. mit „Galateia“; sogar Prinz Ferdinand von Bulgarien besuchte diese griechische
Vorstellung. In den Folgejahren erlebten die 3 Theater viele griechische Gastspiele, bis die nationalen Spannungen 1906 zur offiziellen Auflösung der hellenischen Gemeinde führten, was deren Theaterleben versiegen ließ. Thessalonikis Theatergeschichte vor 1912 ist noch unzureichend erforscht. 1858 bis 1860 bespielte ein griechisches Ensemble die Stadt (1860 auch Monastir/Bitola), 1870 zwei andere Truppen, die eine mit Pipinä Vonáséra als Protagonistin. 1875 spielten zwei Südost-Forschungen 72 (2013) 649
Literatur- und Theaterwissenschaft weitere Ensembles in neuen Sommertheatern am Kai. Ab 1880 wurde Saloniki in die über See gehenden Tourneen zwischen Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis usw. eingefügt. Außerdem war es Station eines engeren Spielnetzes, das die Landwege benutzte (zusammen mit Serres, Drama, Monastir, Melenikos/Melnik, Philippopel). Wie in Konstantinopel war in Saloniki das hellenophone Theater nur ein Teil eines kosmopolitisch-mehrsprachigen, wobei hier das sephardische eine besondere Rolle spielte. Erhebliches Gewicht hatte auch das Laienspiel griechischer Vereine und Schulen (schon 1873 mit dem „Hernani“). Nach der Angliederung an Griechenland 1912 behinderten die Folgen der Balkankriege und der Erste Weltkrieg ein intensiveres Theaterleben. Für Serres führt Puchner ein Gastspiel im Winter 1873/1874 an, für Drama und Komotini solche Besuche erst zu Beginn des 20. Jh. Griechisches Laienspiel gab es auch anderswo in Thrakien, in Thessalien erst nach der Annexion ab 1881 (in Larisa, Trikala, Karditsa, Volos). e) Kleinasiatische [genauer: pontische] Städte (außer Smyrna): Editionen von Dramen mit Themen des einheimischen Griechentums, z.T. in pontischem Dialekt, erschienen bereits seit 1860 (10 Autoren). Spielzentrum war Trapezunt; dort wurde 1895 ein griechi sches Theater erbaut, aber Amateurvorstellungen gab es spätestens seit 1876 (Antoniadis’ „Armatolen und Kleften“). Von 1899 bis 1914 sind für jedes Jahr Gastspiele namhafter Ensembles verzeichnet. In Kerasunt/Giresun setzte die Spieltätigkeit 1906 ein („Leonidas bei den Thermopylen“), in Amisos/Samsun
1908. Laienvorstellungen wurden zwischen 1896 und 1919 auch in Kotyora/Ordu, Kromna, Rizus/Rize und sogar im Hinterland (Daniacha, Santa) bis hin zum entlegenen Kars gegeben, wobei meist noch Männer die Frauenrollen spielten. Im Pontos griff die osmanische Zensur offenbar weniger ein als in Konstantinopel oder Smyrna. f) Kreta: Eine beachtenswerte Dilettantenbewegung, an der auch Elevtherios Venizelos beteiligt war, begann 1880 in Chania (u. a. mit „Doxapatris’ Kindern“ von Sophoklis Karydis, viel übersetztem Molière und Hugo sowie Komödien von I. N. Kungulis). Die Konsuln der Großmächte sahen sich die Vorstellungen an, 1892/1893 gab es „Kabale und Liebe“, den „Hernani“ (beides übersetzt) sowie die „Galateia“. In Heraklion sah Kazantzakis als Kind 1889 die von Berufsschauspielern aufgeführten „Räuber“; er selbst stellte im Gymnasium den Kreon aus „König Ödipus“ dar, und zwischen 1906 und 1908 verfasste er fünf avantgardistische Dramen. g) Zypern: Dramatische Werke von Zyprioten wurden ab 1869 geschrieben (vor 1877 gab es dort schon vier Autoren). Für 1870 ist Laienspiel in Lemesos/Limassol nachgewiesen (Michel Pichats „Leonidas“ in der Bearbeitung von Angelos Vlachos), etwas früher für Levkosia/Nicosia wahrscheinlich. In Larnaka trat 1875 die erste professionelle Truppe auf (u. a. mit dem „Versklavten Chios“). Nachdem die Insel 1878 britisches Protektorat geworden war, erlebte das griechische Laientheater eine Blüte. Ab 1881 wurden Larnaka, Lemesos und Levkosia in die Tourneeprogramme meist aus Alexandria kommender Truppen eingebunden. Kapitel 6 ist dem „Schattentheater und
Formen von Volkstheater“ gewidmet (161-169). Professionelle mobile Volkstheatervorstellungen betrafen in osmanischer Zeit vor allem das Schattentheater. Der älteste Bericht über z.T. griechische Aufführungen am Bukarester Hof datiert von 1781. Wichtig für den Übergang vom ithyphallischen Karagöz zum hellenophonen Karagiozis war aber die Kreierung neuer Dialekttypenfiguren um 1890, die die soziale 650 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Umwelt Griechenlands widerspiegelten. Nach der Erweiterung des Staatsgebietes 1880 erschien in Orten wie Amfilochia, Arta, Preveza und Metsovo eine Gruppe von Schatten spielern, die bedeutende Repertoirezusätze brachte. Diese „epirotische“ Tradition umfasste nun besonders das Stück,Alexander der Große und die verfluchte Schlange“, das griechische Sagen und Märchen um Alexander als Drachentöter, die Vita des Hl. Georg, aber auch das Element der vielgliedrigen „Schlange“ aus einem osmanischen Stück kombinierte - eine Adaptation an die griechische Volkskultur. Ein zweiter neuer Typus von Vorstellungen, die „heroischen“, schöpfte aus der Revolution von 1821. Während der Türkenherrschaft sind griechischsprachige Volksschauspielvorführungen v. a. aus Thrakien (Ortaköy) nachgewie sen, besonders „Der Bey“. Bekannter ist der „Kalogeros“-Ritus in Vizyi/Vize, um 1860, den Georgios Vizyinos beschrieben hat (mit türk, und bulgar. Parallelen). Aus dem Pontos führt Puchner das karnevaleske Gerichtsspiel „Momogeroi“ an, eine satirische Darstellung der Kadi-Willkür (Trapezunt, Santa, Stavrin, Matsuka). Kapitel 7 trägt den Titel „Die Bosporus-Metropole zwischen Sultansreich und kemalistischem Nationalstaat“ (171-174). Puchner gliedert in ihm das griechischsprachige Theater Konstantinopels von 1900 bis 1922 in 3 Phasen: 1900-1908 noch Belle Époque՛, 1908-1913 gab es nach kurzem, von der Aufhebung der Zensur getragenem Enthusiasmus einen Rück gang der Spieltätigkeit, teils durch die Folgen der Jungtürkischen Revolution, teils durch Theaterschließungen wegen schlimmer Brände
bedingt; 1914-1922 gab es einen weiteren Rückgang wegen erneuter Zensur, Dardanellenkrieg, Zuschauerspaltung in Royalisten und Venizelisten - mit leichter Belebung nach Ende des Ersten Weltkriegs. Es wird eine Übersicht aller griechischen Ensembles gegeben, die während dieser ganzen Zeit in Kon stantinopel zu sehen waren. 1912/1913 spielte man u. a. schon die „Salome“ von Wilde, danach klafft aber eine Lücke bis 1918, als z. B. eine Operettentruppe den „Walzertraum“ aufführte. Zum Schluss wird wieder der bedeutende Anteil der Amateurspielbewegung am hellenischen Theaterleben Konstantinopels betont, die selbst nach der Dezimierung der griechischen Bevölkerung (1923) nicht völlig zum Erliegen kam. Die etwas dunkel geratenen Abbildungen (179-193, Bildnachweis 194-196) zeigen 23 Fotos bzw. Postkarten von Theatertruppen und Einzeldarstellerinnen (Evangelis Tsortanidu, Marika Kotopuli, Aikaterini Veroni, Kyveli Adrianu; Dionysios Tavularis), Theatern, Plakaten und Theaterzetteln. Die reiche Bibliographie ( 197-207) führt mit 210 Titeln, darunter 50 von Puchner selbst, den Interessierten ebenso weiter wie der erschöpfende Anmerkungsapparat des Bandes. Die drei Register (209-235), dankenswert ausführlich, ermöglichen auch selektive Lektüre des äußerst detailreichen Buches. Puchner sieht sein Werk bescheiden als eine Art „Vorstudie“ an; der Rezensent betrachtet es durchaus schon als Grundlage eines Handbuchs. Für ein solches sollte aber besonders die Syntax überarbeitet werden. Im Hinblick auf das Ziel des Handbuchs möchte der Unterzeichnete auch die folgenden Korrekturvorschläge
verstanden wissen: S. 4: „griech. Kolonie in der Bosporus-Metropole [.] das größte ausländische Kontin gent“ - ein höherer Anteil der Griechen Konstantinopels war in der Türkei einheimisch. S. 17 und 93: „französ. Botschaft in Smyrna“ - hierbei handelte es sich um ein Konsulat. S.28 „(1533/1534 - nach 1700)“ - richtig ist: „1633/1634 - nach 1700“. S.38: „litteSüdost-Forschungen 72 (2013) 651
Literatur- und Theaterwissenschaft rature sentimentai“ — „sentimentale“. S. 46: „Georgios Nikolaos Soutsos“ - „Nikola(o)u“ (Vatersname). S. 47 „Orphée et Euridice“ — „Eurydice“. S. 53 u. ö.: „Authentische Akade mie“ - richtig ist „Fürstliche Akademie“. S. 57: „in den ersten beiden Jahrzehnten“ -
richtig: „im zweiten Jahrzehnt“. S. 59, Anm. 7: „gouvernment“ — „gouvernement“. S. 83, Anm. 1: „Bibliyografasi“ ֊ „Bibliyografisi“. S. 85 „hellenophonen Populationsgruppen“ - „griechi schen“. S.98: „smyrneische Idiom“ — richtig: „smyrnäische“ oder „smyrnaische“. S. 105: „M. Ali (1805-1849) [.]
Vizekönig“ — die Klammer sollte nach „Vizekönig“ stehen, da nur die Regierungszeit gemeint ist. S. 112 u. ö.: „Mittlerer Osten“ ֊ richtig: „Naher Osten“. S. 132 „1816/1817“ — „1916/1917“. S. 140 u. ö.: „Maryupol“ ֊ russ. „Mariupoľ“, ukr. „Marijupiľ“. S. 143 u. ö. „Taganrok“ - „Taganrog“. S. 144
„NovjiyTeatr“ — „Novyj“. S. 147: „Kišiniev“ - „Kišinev“ (fehlt im Register). S. 149: „Baki“ - aserisch „Baki“, russ. „Baku“. S. 157: „Winter 1899/90“ - „1899/1900“. S. 162, Anm. 7: „Historical Archiv“ - „Historical Archive“. S. 163 unten „Orta Oynu“ - „Orta Oyunu“ (anderswo richtig). Abbildungen:
Nr. 4 (und 2 x im Bildnachweis, S. 194): „Volkstheater К. I. Zumbalova“ richtig: „Zubalov“ (ohne -m-·. s. den Namen kyrillisch in Nr. 6; das -a ist hier russ. mask. Genitivendung). Nr. 7: ֊ letzte griechische Zeile ist zu tilgen. Nr. 18 (und Bildnachweis, S. 195): „Frontansicht des Theaters „Odeon“
in Konstantinopel“ — die Aufschrift der Postkarte ist deutlich als „Smyrnę — Théâtre de Smyrne“ erkennbar
(dieses Versehen und das bei Nr. 4 sind aus fremden Publikationen übernommen). S. 195 (zu Abb. Nr. 17): „Papagioannou“ - „Papa'ioann(o)u“. Personenregister, S.209: „Atsiz“ - richtig: ,Atsiz“; und S. 219: „Vladikavkas“ (ebenso S. 150): Vladikavkaz - gehört ins Ortsregister. Solche Kleinigkeiten mindern den Wert des bedeutenden Bandes jedoch nicht, der zum einen darin besteht, die weitgehend unbekannten Facetten seines Themas einem internatio nalen Publikum in einer der „großen“ europäischen Sprachen bekannt zu machen. (Gewisse Überschneidungen ließen sich bei der einen so weiten chronologisch-geographischen Rahmen füllenden Thematik kaum vermeiden.) Zum anderen kann man Puchners Werk aber auch als wichtigen Beitrag zur Überwindung der einseitig national (staatlich) en Thea terhistoriographie zugunsten einer kulturräumlichen begrüßen. Hamburg Günther S. Henrich Das rumänische Theater nach 1989. Seine Beziehungen zum deutschsprachigen Raum. Hgg. Alina Mazilu / Medena Weident / Irina Wolf. Berlin: Frank Timme Verlag 2011 (Forum: Rumänien, 8). 441 S„ 26 sw. Abb., ISBN 978-3-86596-290-4, €39,80 Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem spektakulären Ende des Ceauşescu-Regimes haben Theaternachrichten aus Rumänien hierzulande eher Seltenheitswert - im Unterschied zur Wahrnehmung aktueller Tendenzen in der rumänischen Literatur und im Filmschaffen. Der vorliegende Band ist das eindrucksvolle Ergebnis einer rumänisch-deutsch-österreichi schen Teamarbeit der Herausgeberinnen Alina Mazilu, Medena Weident und Irina Wolf. 652 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Der umfangreiche Band (441 S., davon 15 S. Bildteil) umfasst mehr als 40 Beiträge über wiegend rumänischer, auch moldauischer und deutsch-rumänischer Theaterwissenschaftler, Theaterkritiker und Theatermacher, die in 8 Interviews der Herausgeberinnen thematisch strukturiert und inhaltlich kommentiert werden. Das Buch lenkt den Blick auf eine span nende Theaterszene, die sich seit mehr als 20 Jahren lebhaft entwickelt und schöpferisch immer wieder neu definiert. Bis auf 4 wissenschaftlich-publizistisch bedeutende Vertreter der während des 2. Weltkriegs geborenen Forschergeneration (Elisabeta Pop, Nicolae Prelipceanu, George Banu, Ion Parhon) gehört die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren zur Generation der Ende der 1950er bis Anfang der 1980er Jahre Geborenen. George Banu skizziert im Überblick exemplarische Inszenierungen und Grundzüge der „Entwicklung des Rumänischen Theaters nach 1989“ (19-41) aus einer wechselnden Perspektive der Nähe und Ferne, Bukarest und Paris. Sein überraschendes Fazit: Die wich tigsten Regisseure Rumäniens haben ihre Karriere noch vor 1989 erfolgreich begonnen. Spielpläne seit 1989 dienen zwar als Indikatoren für einen politisch-konzeptionellen Um bruch, liefern aber auch den Beweis für ein Kontinuum verloren geglaubter Inspiration: „Was sich im Schatten der Zensur entwickelt hatte, erblühte plötzlich, denn die Keime waren schon da“ (20). So wurde die in sozialistischer Zeit weitgehend verdrängte bzw. ideo logisch instrumentalisierte klassische Dramatik wiederbelebt; die Orientierung an west- und außereuropäischen Bühnen setzte
wieder ein bis hin zum „Shakespeare-Festival“ (Bukarest/ Craiova) — nicht zuletzt auch dank der Rückkehr bedeutender Regisseure „der goldenen Generation“ wie Andrei Şerban (der Stücke von Sarah Kane in Klausenburg inszenierte), Lucian Pintilie, Liviu Ciulei, Radu Penciulescu, Vlad Mugur oder Lucian Giuchescu. Radikaler Sprachduktus wurde seit den 1990er Jahren an den rumänischen Bühnen als Offenbarung der Freiheit wahrgenommen. Es folgten, teils episodenhafte, lokale Neuanfange von der Gründung der ersten unabhängigen Theater-Kompagnie „ACT“ über UndergroundTheater wie das „Teatrul Luni de la Green Hours“ in Bukarest (das seit 1997 einen NonstopSpielplan anbietet und sich systematisch auf die Förderung junger Regisseure, Schauspieler und Dramatiker in Rumänien konzentriert) bis hin zur aktuellen Theaterszene, die auch von jungen Dramatikern und Regisseurn bestimmt wird. Unter dem Titel „Theater als Eingriff in den Alltag“ stellt Mihaela Michailov (109-114) sozialkritische Spielarten des rumänischen Gegenwartstheaters vor, die sich als „Theater des Unmittelbaren verstehen“, wie „dramAcum“, eine Performance-Gruppe, die Textwettbewerbe für Autoren unter 26 veranstaltet und gleichzeitig die Einbeziehung „kleiner Sprachen“ (wie Irisch, Makedonisch, Bulgarisch oder Serbisch) in das Theatergeschehen fördert, oder „tangaProject“, Kunst vor Ort, die Theatergeschehen auf die Straße hinausbringt. „Die Generation 2000 plus“ begreift sich in bewusstem Gegensatz zu den Vertretern der älteren Generation der 1970er und 1980er Jahre (vgl. Alexander Hausvater), denen Cristina Modreanu
(115-122) „eine Synchronisation mit dem Westen im Schnelldurchlauf“ (115) attestiert: Hier haben „die Räume des Aktuellen und die multimediale Versuchung“ (116) dramaturgischen Vorrang. Einen besonderen nationalen und internationalen Stellenwert besitzen die Festivals, die seit vielen Jahren regelmäßig in mehr als 10 Städten Rumäniens veranstaltet werden. Große Resonanz finden die Theaterfestivals in Hermannstadt/Sibiu (FITS, mit Teilnehmern aus 70 Ländern und insgesamt 350 Veranstaltungen an 66 Orten, begleitet von einer zweispraSüdost-Forschungen 72 (2013) 653
Literatur- und Theaterwissenschaft chigen Anthologie, Schwerpunkt: Zeitgenössische Dramatik) und das Nationale Festival in Bukarest, FNT, das — begleitet von einem kulturellen Rahmenprogramm — preisgekrönte Inszenierungen vorstellt (Daniela Magiaru, 61-65). Der Beitrag zum Thema „Theaterpublikationen nach 1989“ von Miruna Runcan (6774) gibt einen kritischen und detaillierten Überblick über den noch schwankenden Markt rumänischer Druck- und Online-Zeitschriften sowie Buchpublikationen zum Thema „Theater und Kultur“. Originelle Konzepte für den künstlerischen Einsatz des Bühnenbildes als Gegenentwurf zu ideologisch vorgegebener dramatischer Darstellung bis hin zur „Bühneninstallation als selbstständigem Kunstwerk“ (visual art) und zu Video-Installationen entwickelt Adrian Mihalache (87-96): Der Bühnenbildner wird Künstler und Interpret - folglich unmittelbarer „Mitgestalter der Inszenierung“. Weitere thematische Schwerpunkte setzen die Beiträge zu neuen Konzepten jüngerer Regisseure, die eigene Wege der künstlerischen Abgrenzung und Profilierung im gesamteuropäischen Theater suchen (Andrei Şerban, Silviu Purcărete, Mihaj Măniţiu, Alexandru Dabija, Radu Afrim oder Radu-Alexandru Nica). Unter dem Titel „Die Macht der Rebellen“ stellen Medena Weident und Irina Wolf dramaturgische Konzepte von Vertretern der jüngsten Generation als „Theater als Stellungnahme“ vor (215-223). Tendenzen und innovative Elemente einer „Neuen Dramatik“ werden in Kurzbeiträgen, z. T. Übersetzungen aus der Online-Kultur-Zeitschrift,Aurora“ präsentiert. Ştefan Peca lässt eine junge Generation rumänischer
Dramatiker Revue passieren (227-234), die - von den „etablierten Theatern“ kaum akzeptiert — oft spektakulären Publikumserfolg haben. Daniela Magiaru skizziert das dramatisch-poetische Universum von Matei Vişniec (235244), das die Grenzen zwischen Traum und Realität, Ästhetik und Politik, in Richtung eines neuen Absurden Theaters auflöst und sich dabei immer wieder auf die traumatische Realität der kommunistischen Zeit bezieht. Kritisch beleuchtet Alina Nelega, Schriftstellerin und Dramatikerin, in ihrem Beitrag („Der Dramatiker ist tot. Es lebe der dramatische Autor!“, 245-251) Phasenverschiebungen der Rezeption zeitgenössischer Inszenierungen der 1990er Jahre, die erst mit 20 Jahren Verspätung vom Publikum angenommen wurden. Einen wichtigen Beitrag dazu haben u. a. Stiftungen („Soros“) und Programme der Europäischen Union, geleistet, die z. B. das „Dramafest“ (ab 1997) erst ermöglichten, einen Textwettbe werb, der die aktuelle szenische Sprache Rumäniens, so Nelega, erst auf europäisches Niveau brachte. Die Dramaturgin selbst und ihre Theaterarbeit als „Detheatralisierung“ werden von Mirella Nedelcu-Patureanu porträtiert (253-262): „Wir können sagen“, bescheinigt ihr die Autorin, „dass eine ganze Generation, ihr Schreibstil, ihre Art Theater zu machen, sich in ihren bedrückend schmutzigen Farben auf dieser Brücke zwischen zwei Welten [.] wiederfindet“, in dem „von Osten nach Westen grenzüberschreitenden Theater“ (262). Herausragend ist auch die Position des sprachlichen Minderheitentheaters innerhalb der experimentellen Vielfalt der rumänischen Theaterlandschaft.
Traditionsreiches und inno vatives Theater wird am Ungarischen Staatstheater in Klausenburg/Cluj-Napoca/Kolozsvár und am Ungarischen Staatstheater „Cisky Gergely“ in Temeswar/Timişoara gespielt, dem ältesten nationalen Staatstheater Rumäniens, gegründet 1792. Das rumänische Nationalthe ater „Lucian Blaga“ wurde 1906 in Klausenburg gegründet. Über die Grenzen Rumäniens hinaus ist auch das dortige Ungarische Puppentheater „Puck“ bekannt, dessen Vorläufer 654 Siidost'Forschungen 72 (2013)
Rezensionen auf die Gründung eines zweisprachigen Puppentheaters 1949 durch die Klausenburger Regisseurin und Pantomimin Ildikó Kovács zurückgeht. Der Sammelband, der thematisch noch weiter ausgreift („Austausch mit dem Ausland“ Initiativen des Österreichischen Volkstheaters, Wien; Irina Wolf und die „Rezeption ös terreichischer Dramatik in Rumänien“; Eleonore Ringler-Pascu), ist eine Fundgrube für hierzulande unbekannte, z.T. kaum zugängliche Informationen und von großem Nutzen zur Orientierung in einer lebhaft expandierenden Kulturszene. Man wünscht dem Buch die Aufmerksamkeit, die ihm in hohem Maß gebührt. Berlin Renate Windisch-Middendorf Loukia Stephou, Die neugriechische Metaphrase von Stephanites und Ichnelates durch Theodosios Zygomalas. Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 2011 (Nueva Roma. Bibliotheca Graeca et Latina Aevi Posterioris, 35). XXV, 330 S., 11 Abb., ISBN 978-84-00-09402-7, €35,Manóles G. Barbunēs, Λαογραφικές παραστηρήσεις στο έργο „Τα κατά Στεφανίτην και Ιχνηλάτην“ [Volkskundliche Anmerkungen zu „Stephanites und Ichnelates“]. Xanthi: Spanidis 2012. 94 S„ 6 Abb., ISBN 978-960-6653-59-9, € 15,98 Die byzantinische Literatur hat interessanterweise nicht allzu viele Texte aus dem Orient übernommen; einer der wenigen ist der misogyne satirische Fürstenspiegel des arabischen „Kaliiah wa-Dimnah“ (Fabeln des Bidpay oder Pilpay), der Ibn-al-Muqaffa zugeschrieben wird und über das Persische auf das sanskritische „Paücatantra“ zurückgeht. Die hochsprach liche byzantinische Fassung, von Symeon Seth (11. Jh.) verfasst und wahrscheinlich auf
Bestellung des Kaisers Alexios I. Komnenos (1071-Ш8) vorgenommen, bekam den Titel „Stephanites und Ichnelates“ und wurde ihrerseits, neben den zahlreichen Übertragungen aus dem Sanskrit, in viele Sprachen, so ins Kirchenslawische, Lateinische und Italienische übersetzt. Daneben existieren jedoch auch die neugriechischen Metaphrasen von Theodosios Zygomalas (1584) und Dimitrios Prokopiu (1721).1 Beide hier anzuzeigenden Arbeiten beschäftigen sich mit den volkssprachlichen Über tragungen der nachbyzantinischen Zeit; wie die zahlreichen Handschriften nahelegen, bestand eine bedeutende Nachfrage nach diesem popularen Lesestoff. Die Arbeit von Loukia Stephou legt eine kritische Ausgabe des Zygomalas-Textes von 1584 vor, während diejenige von Manolis Vammis den folkloristischen Sachkommentar einer nicht zustande gekommenen kritischen Ausgabe der Prokopiu-Fassung von 1721 bildet. Die Monographie von Loukia Stephou geht auf ihre Dissertation am Institut für Grie chische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin zurück; ihr Doktorva ter Johannes Niehoff-Panagiotidis hat es sich nicht nehmen lassen, für die Drucklegung in der spanischen Reihe „Nueva Roma“, die bereits eine Fülle von byzantinischen und neugriechischen Texten der frühen Neuzeit vorgelegt hat, eine umfangreiche spanische „Introducción“ (XI-XXV) zu verfassen. Während die hochsprachliche Fassung mit ihren Südost-Forschungen 72 (2013) 635
Literatur- und Theaterwissenschaft vielen Handschriften bereits eine zureichende philologische Darstellung erfahren hat,2 liegt für die Zygomalas-Fassung keine kritische Ausgabe vor. Die nun vorliegende Ausgabe stützt sich auf 22 Handschriften (und 17 weitere Mikrofilme), die ausführlich im 2. Kapitel (2168) beschrieben sind und die sich aufgrund von textimmanenten Indizien in zwei Haupt gruppen teilen lassen; die stemmatischen Abhängigkeitsverhältnisse sind überaus komplex (68). In der Folge wird die Vernetzung des in der Patriarchatskanzlei tätigen Zygomalas mit Gelehrten seiner Zeit erhellt (Beziehungen zu Crusius, 69-76) und seine edierten und inedierten Schriften vorgestellt (77f). Ein weiteres Kapitel widmet sich der Terminologie der Intertextualität - den Differenzen von Übersetzung, Paraphrase und Metaphrase (79-85), die Zygomalas selbst zu indizieren scheint. Es folgt ein Abschnitt zu den Beziehungen der Fassungen des byzantinischen Textes untereinander (neben der von Seth gibt es noch die „Recensio Eugeniana“ des sizilianischen Griechen Eugenios Panormites alias Eugenios von Palermo aus der 2. Hälfte des 12. Jh.s) sowie ein Abschnitt zur Metaphrase von Zygomalas (87-142), der zu dem Ergebnis kommt, dass die Übertragung von 1584 eine durchaus schöpferische Eigenleistung von Zygomalas darstellt, der seine Autonomie in der freien Wiedergabe seines Vorbildes nicht verbirgt, aber gleichzeitig auch seine innere Verbindung mit der Vorlage nicht leugnet. Dies tut dann das Kapitel zur Sprache (143-168) im Detail kund. Die oszillierende Zwischenstellung zwischen hoch- und
volkssprachlichem Stilduktus wird dann noch in einem eigenen Kapitel analysiert, wo die in Frage stehende Metaphrase mit zwei anderen Werken von Zygomalas, der „Synopsis minor“ und den „Thematoepistolae“ (168-172), sowie mit zwei Fabeltexten (173-178) verglichen wird. Die umfangreiche und minuziöse Einleitung endet mit der Deskription der Editionspolitik („Zur vorliegenden Ausgabe“, 179-182). Es folgt die kritische Edition des Textes ( 182-287) mit lateinischem apparatus criticus, der insgesamt zwölf Handschriften vom 16. Jh. bis 1736 berücksichtigt und demgemäß einen nicht unbeträchtlichen Teil jeder einzelnen Seite ausmacht. In die satirische Narration des Fürstenspiegels und die 15 Dialoge mit dem Philosophen sind mehr als 100 Tierfabeln und „Mythen“ eingestreut, in jener gemischten und mäanderförmigen Struktur, die viele „Volksbücher“ als erfolgreiche populare Lesestoffe kennzeichnet. Es folgen noch das Lite raturverzeichnis und die Abbreviationen (289-311), die Abbildungen der Handschriften (313-320), eine Kurzfassung (321-323) und das English summary (325-328) sowie ein kurzer Index Verborum Notabilium (329-330). Den Band beschließt (ohne Seitenzählung) eine eindrucksvolle Liste der titulos publicados der „Collección Nueva Roma“. Der andere zu besprechende Band stellt eine Separatpublikation der volkskundlichen Kommentare zu einer geplanten kritischen Ausgabe der Redaktion des Arztphilosophen und Übersetzers Dimitrios Prokopiu (1721) dar, die der klassische Philologe Manolis Papathomopulos, der auch viele neugriechische Texte in kritischen Editionen vorgelegt hat,
ins Werk setzen wollte, doch eine heimtückische Krankheit hat ihm zu früh die Feder aus der Hand genommen und ließ die Edition unvollendet.3 Seinem Angedenken ist auch dieses Buch gewidmet. Dimitrios Prokopiu (alias Pamperis) stammte aus Moschopolis im heutigen Albanien und studierte in Konstantinopel. Während seines Aufenthalts am phanariotischen Hof in Bukarest entsandte ihn Nikolaos Mavrokordatos nach Padua, um dort Medizin zu studieren. Die charakteristische Gelehrtenbiographie der Zeit endet mit seiner Rückkehr 656 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen nach Bukarest, wo er am Phanariotenhof Leibarzt und Sekretär des Fürsten wird und seinen Sohn Konstantinos als Hauslehrer unterrichtet. Prokopiu hat auch einen Abriss des neugriechischen Schrifttums verfasst (1722 von J. A. Fabricius in Hamburg herausgegeben), die erste griechische Übersetzung von Fénélons „Les aventures de Télémaque“ vorgenom men (1715) und neben anderen Arbeiten auch das byzantinische Vorbild der Übersetzung von Symeon Seth ins gesprochene Griechisch der Zeit ins Werk gesetzt. Darüber gibt eine kurze Einleitung von Varvunis Auskunft. Die Kommentare selbst gehören ausschließlich der vergleichenden Erzählforschung an und beschäftigen sich nicht mit philologischen oder sprachkomparativen Themenstellungen, die sich wie von selbst stellen, wenn man die vorhin vorgestellte kritische Ausgabe der Fassung von Zygomalas ( 1584) ins Auge fasst - dies hätte eigentlich von Papathomopulos als erfahrenem Texteditor geleistet werden sollen. In der Fassung von Prokopiu beschränken sich die Tierfabeln und eingestreuten Märchenstoffe auf 77 (nach anderer Zählung). Varvunis ist wie immer bibliographisch auf dem letzten Stand, gehört doch die internationale Erzählforschung zu den am besten organisierten Zweigen der Volkskunde. Aus der Nummerierung der z. T. umfangreichen Kommentare ist nicht immer gleich zu ersehen, auf welches Fabulat sich die Anmerkungen beziehen, doch ergibt sich nun die Möglichkeit, da die Edition der Prokopiu-Fassung sich verzögern wird bzw. überhaupt ins Wasser fallen kann, die Kommentare auf die Zygomalas-Redaktion zu beziehen, handelt es
sich doch um zwei verschiedene Metaphrasen desselben byzantinischen Textes. Insofern sind die beiden Bände auch als gegenseitige Ergänzungen zu lesen. Athen,Wien Walter Puchner 1 Dazu Johannes Niehoff-Panagiotidis, Übersetzung und Rezeption. Die byzantinisch neugriechischen und spanischen Adaptionen von Kalilah wa-Dimnah. Wiesbaden 2003; vgl. auch meine Rezension in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 534-537. 2 Vittorio Puntoni, Stephanitēs kai Ichnēlatēs. Quattro recensioni della versione greca del Kitab Kalila wa Dimna [di Bidpai]. Firenze 1889; A. V. Rystenko, „Stefanit i Ichnilat“ po grečeskim spiskam Mjunchenskoj Korolevskoj Biblioteki [Bidpai], Odessa 1909; John Theophanes Papademetriou, Studies in the Manuscript Tradition of Stephanites kai Ichnelates. Urbana/IL 1960; Lars-Olof Sjöberg, Stephanites und Ichnelates. Überlieferungsgeschichte und Text. Stockholm u. a. 1962; Niehoff-Panagiotidis, Übersetzung und Rezeption. 3 Zur Zusammenarbeit von Varvunis mit Papathomopulos vgl. auch meine Anmerkungen in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 803f. Südost-Forschungen 72 (2013) 657
Rezensionen Topographisches, Sach- und Personenregister zu den Titeln der rezensierten Bücher Agrargeschichte 502 Albanien 357, 376, 395, 461, 470 Alexakis, Eleutherios P. 553 Antonescu, Ion (Marschall) 478 Archäologie (in Albanien) 395 Aromunen 386 Atatürk, Mustafa Kemal 383 Bakarie, Vladimir 512 Balkanlinguistik 390, 406, 611, 614 Belgrad 518 Bessarabien 428 Bergei, Hans 621 Leonid Iľič Brežnev 521 Bukarest 434 Bulgarien 390, 611 Bürgertum (Rumänien) 434 Bunaciu, Avram 374 Byron, George Gordon 618 Byzantinisches Reich 583, 625 Ceausescu, Nicolae 521 Chamen 363 Coler, Edith von 479 Dalmatien 487 Deutsches Reich (1871-1918) 447, 465 Deutsches Reich (1933-1945) 479, 481, 483, 487 Dobrudscha 475 Donau (Fluss) 422, 433 Ehe (Institution) 424 England siehe Großbritannien Erinnerungskultur 398, 406, 543, 546 Erster Weltkrieg 404, 461, 465, 469, 590 Ethnische Säuberung 404 Eugenik (in Südosteuropa) 404 Europa 380, 398, 546 Faschismus 383, 419 Filmgeschichte (Südosteuropa) 540 Südost-Forschungen 72 (2013) Finnland 516 Frankreich 437, 465 Fünfkirchen siehe Pécs Geschlechterbeziehungen (Südosteuropa) 534 Glagolica 390 Griechenland 366, 371, 387, 435, 456, 498, 523, 553, 554, 557, 559, 562, 565, 568, 570, 571, 580,618 Großbritannien 465 Habsburgerreich 453, 465, 590 Hermannstadt siehe Sibiu Hoxha, Enver 406 Istanbul (Konstantinopel) 449 Juden (in Rumänien) 483 Jugoslawien 371, 512, 516, 518, 523, 543 Karantanien 363 Karamanlis, Konstantinos 523 Karrer, Pavlos 606 Kemalismus 383 Kollektivierung (in Rumänien) 502 Kommunismus 356, 383, 419, 502, 530 Konstantinopel (Byzanz) 646 Korfir 636
Kosovo 470 Kote, Jorgji 376 Kreta 600, 639 Kriegsgräuel (Zweiter Weltkrieg) 404 Kriminalgeschichte 538 Kroatien 409 Kroatien (NDH) 487 Kulturpolitik (allgemein) 528, 540 Kyrill 390 Literaturgeschichte, neugriechische 646, 655 Literaturgeschichte, rumänische 632 Literaturgeschichte, serbische 406 659
Rezensionen Marulus, Marcus 614 Massenmedien (in Rumänien) 435 Mesolongi 618 Migration 550 Minderheit, deutsche (in Ungarn) 495 Minderheit, serbische (in Ungarn) 472 Minderheiten (in Südosteuropa) 433, 597 Moldau, Fürstentum 428 Moldau, Republik 359 Musikwissenschaft 583, 600, 603, 625 Naher Osten 380 Nationalismus 404 Nationsbildung 380, 398 Nomaden 422 Osmanisches Reich 447, 449, 458, 465, 469, 475, 642, 646 Österreich siehe Habsburgerreick Pannonien 363 Pécs 401 Pressewesen, griechischsprachiges 435 Puchner, Walter 603 Ragusa (Republik) 387 Rassismus 404 Religion in Südosteuropa 438 Roma 573, 586 Rumänien 374, 434, 435, 437, 442, 478, 483, 502, 578, 632, 652 Russland 428, 465, 481 Salzbuger Kirche 363 Sarajevo 414 Serbien 406, 438, 465, 472, 491, 550, 593 Sexualgeschichte 424 Sibiu 652 Siebenbürgen 578, 652 660 Sinti 573 Slawenmission 363 Somló, Felix 369 Sowjetunion 516 Sozialgeschichte Südosteuropas 380 Sozialismus 356, 383 Südosteuropa (allgemein) 380, 425, 528, 534, 538, 540 Terrorismus 538 Theaterwissenschaft 582, 603, 626, 630, 642, 646, 652 Tito, Josip Broz 523 Tsiganologie (allgemein) 573, 586 Türkei 383, 475, 630 Türken (Minderheit) 433, 475 Ungarn 369, 472, 495 „Unternehmen Barbarossa“ 481 Venedig 600 Vereinigte Staaten von Amerika 456 Vertreibung 495 Volkskunde, griechische 553, 554, 557, 559, 562, 565, 568, 570, 571, 580, 582, 600, 603, 610, 639, 655 Volkskunde, österreichische 590 Volkskunde, serbische 593 Vršac 626 Walachei, Fürstentum 424 Werschetz siehe Vršac Wirtschaftsgeschichte (Griechenland) 387 Wirtschaftsgeschichte (Südosteuropa) 425 Zwangsarbeit
487 Zweiter Weltkrieg 371, 404, 478, 479, 481, 483, 487 Zypern 475 Südost֊ Forsch ungen 72 (2013) |
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Geschichte: 1848/1878 bis 1989 auf diese einzugehen. Besonders durch den Vergleich von Finnland und Jugoslawien legt sie eine fundierte Studie zur Frühphase des Kalten Krieges in Europa aus der Perspektive zweier in den Cold War Studies eher wenig beachteten Länder vor. Gießen Jürgen Dinkel Nicole Münnich, Belgrad zwischen sozialistischem Herrschaftsanspruch und gesell schaftlichem Eigensinn. Die jugoslawische Hauptstadt als Entwurf und urhane Erfahrung. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2013 (Balkanologische Veröffentlichungen, 57). 444 S„ ISBN 978-3-447-06881-9, €74,Anfang 1962 entschloss sich die Belgrader Stadtverwaltung, alle von Menschen oder Tieren gezogenen Fuhrwerke auf den Straßen Belgrads zu verbieten. Gedacht war dies als Maßnahme, um ein Zeichen rückständiger bäuerlicher Lebenskultur aus der sozialis tischen Metropole zu verbannen. Leider hatten die Stadtväter nicht bedacht, dass es nicht genügend Lastwagen gab, die die Pferdefuhrwerke hätten ersetzen können. Der Beruf der Lastenträger erlebte eine nicht vorgesehene Konjunktur. Schließlich musste die Armee einspringen, indem sie temporär 600 ihrer Lastwagen für den Transport von Gütern nach und in Belgrad zur Verfügung stellte. Diese Episode, die Nicole Münnich in ihrer Ge sellschaftsgeschichte Belgrads schildert (359f.), repräsentiert eines der zentralen Themen dieser Arbeit: das wiederholte Scheitern — gemessen an den politischen Intentionen - von Modernisierungsprojekten in Belgrad, sei es, weil sich die Bevölkerung diesen entzog oder weil die politischen Visionen nicht mit den materiellen Möglichkeiten
korrespondierten. In den letzten Jahren erfreut sich die Sozial- und Kulturgeschichte Belgrads eines regen historiographischen Interesses. Dubravka Stojanovič und Nataša Mišković schilderten die unzureichende bzw. oberflächliche Modernisierung Belgrads im „langen“ 19. Jh.,1 Predrag Markovič stellte die besondere Position Belgrads zwischen Ost und West während des Kalten Krieges dar.2 Nicole Münnich greift in ihrer Studie, die 2010 als Dissertation an der Universität Leipzig verteidigt wurde, einige dieser Themen auf, entwirft aber einen Interpretationsansatz, der über Dichotomien - wie „Moderne“ und „Rückständigkeit“ hinausgeht. Die zentrale konzeptionelle Grundlage dafür ist das Lüdtkesche Paradigma des Eigen-Sinns: Die jeweils unterschiedlich motivierten Bedürfnisse, Erwartungen und Prakti ken der „einfachen“ Beigraderinnen und Belgrader sorgten für eine deutliche Modifikation des revolutionären Vektors der Stadtpolitik. Das am Beispiel Belgrad entwickelte Phänomen der „Rurbanisierung“ differenziert Münnich, indem sie dieses nicht als Trägheit der ländli chen Kultur der in die Stadt migrierten Bauern erklärt, sondern als eine durchaus rationale Anpassung an die spezifischen Bedingungen und Unzulänglichkeiten der Metropole (374). Mit diesem konzeptionellen Apparat plaziert sich die Arbeit zugleich im Kontext neuerer Interpretationen des Staatssozialismus (und leistet einen Beitrag zu diesen), die diesen nicht in binären Oppositionen, sondern in Begriffen der Aushandlung und der Herrschaft als soziale Praxis begreifen. Münnich möchte „sowohl den Alltag und die Lebensweise
[.] in 518 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen den Blick nehmen, diesen aber auch einbetten in einen mit strukturanalytischen Verfahren untersuchten Kontext“. Mithin zielt die Arbeit auf die „Schnittstelle von Individuum und gesellschaftlicher Struktur“ (27). Empirisch stützt sich die Autorin auf ein breites Spektrum von Quellen - von archivalischer Überlieferung über Erinnerungen und Presseberichte bis zu zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen (wobei die Qualität der jugoslawischen Soziologie dieser Zeit deutlich hervortritt). Die Autorin untersucht das Spannungsverhältnis zwischen politischen (Um-) Gestal tungsversuchen und popularen Strategien sowie die sich daraus ergebenden Belgrader Le bensrealitäten anhand von drei Themenfeldem: Stadtplanung, Wohnungsbau und Konsum. Alle drei Aspekte waren nicht nur zentral für die Strukturen und Formen des realen Lebens in der Stadt, sondern stellten Arenen starker politischer Intervention dar. Anhand dieser Probleme lassen sich nicht nur wesentliche Dimensionen der Entwicklung der Stadt und ihrer Gesellschaft behandeln, sondern auch weitergehende Fragen, die von der Autorin wiederholt mit gesamtjugoslawischen Prozessen in Verbindung gebracht werden; Belgrad wird nicht als isolierte Einheit behandelt. Denn so einmalig in vielerlei Hinsicht Belgrad war, so jugoslawisch war die Stadt gleichzeitig, was angesichts ihrer Hauptstadtfunktion und der damit einhergehenden symbolischen Aufladung nicht weiter verwundert. Der Untersuchungszeitraum konzentriert sich auf die 1960er Jahre — eine zwar pragmatisch (im Sinne der Bewältigung des empirischen
Materials) nachvollziehbare, konzeptionell aber nicht ganz befriedigende Entscheidung. Diese Jahre mögen aufgrund der relativ liberalen Politik in Jugoslawien sowie ihrer wirtschaftlichen Dynamik eine Periode darstellen, in der sich manche der hier untersuchten Probleme kristallisierten; aber diese Perspektive verstellt den Blick auf länger wirkende Entwicklungen. Wie würde z. B. das Urteil über die Adaptation der Migranten vom Dorf ausfallen, wenn nicht bloß die ersten Jahre nach ihrer Zuwanderung betrachtet werden würden, sondern zwei Jahrzehnte? Zudem unter stellt dieser Untersuchungszeitraum, dass die drei betrachteten Themenfelder eine analoge Temporalitat aufwiesen, was hinterfragt werden kann. In allen drei Kapiteln bietet die Autorin nicht nur eine Vielzahl von interessanten empirischen Daten - das Buch ist auch als historische Soziologie Belgrads in den 1960er Jahren zu lesen -, sondern eine Reihe von wichtigen Schlussfolgerungen. Dazu gehört die enge Verbindung der Kommunalpolitik und der internationalen Position Jugoslawiens. Des Weiteren zeigt sich wiederholt ein Missverhältnis zwischen ambitionierten städte baulichen Plänen und knappen Mitteln, wobei die weiterreichenden Pläne der Belgrader Kommunisten weniger auf einen radikalen Umbau des Stadtzentrums zielten als auf die Errichtung des Neustadtviertels Novi Beograd. Auf die architektonische Gestaltung nahmen die Parteiführer relativ wenig Einfluss, was ein Ausweis der stärkeren Ausdifferenzierung und relativen Autonomie unterschiedlicher gesellschaftlicher Funktionsräume in Jugoslawien im Vergleich zu
anderen staatssozialistischen Ländern ist. Darin manifestierte sich auch die Dezentralisierung des Landes. Zudem hatten es die Machthabenden mit einer eigensinnigen Bevölkerung zu tun: Als Repräsentationsräume der Macht gedachte Orte wie der zentrale Marx-Engels-Platz wurden von den Belgradern kurzerhand zum Parkplatz umfunktioniert. Das Kapitel über den Wohnbau liefert umfassende Informationen, wie in Jugoslawien Wohnungen errichtet und verteilt wurden (oder auch nicht). Die Autorin rekonstruiert Südost-Forschungen 72 (2013) 519
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 detailliert, „wie man in Belgrad zu einer Wohnung kam“ (so der Titel eines Unterkapitels, 192). Dass Belgrad bei der Versorgung der zahlreichen Migranten mit Wohnraum vom Dorf Schwierigkeiten hatte, ist weder verwunderlich noch systemspezifisch; durchaus besonders war aber das Entstehen großer Siedlungen mit illegal errichteten Häusern. Diese Gemein schaften konnten, unterstützt von der Presse, ihre Ansprüche regelmäßig gegen den Staat durchsetzen, nicht zuletzt weil sich letzterer ohnehin nicht in der Lage sah, die Ansprüche nach Wohnraum zu befriedigen. Hier räumte die Regierung bzw. die Stadtverwaltung letztlich dem Markt und der Privatinitiative weiten Raum ein, um die Defizite des Staates auszugleichen; die ökonomische Liberalisierung wurde somit durch Praktiken von „unten“ stark angetrieben. Ähnlich ist die Stoßrichtung des Kapitels über die Belgrader Konsum gewohnheiten: Die städtische Bevölkerung wollte vom Einkäufen auf den Bauernmärkten nicht ablassen, u. a. wegen ungebrochener Ernährungsgewohnheiten, und begeisterte sich nur zögerlich für die neu errichteten Supermärkte. Sie enttäuschte damit die Hoffnungen der Stadtväter, die in ersteren einen dem Stadtbild abträglichen Anachronismus und in letzteren ein Signum der angestrebten Moderne sahen. Letztlich fügte sich die Stadt dem Unvermeidlichen und setzte nicht mehr auf ein Verdrängen der Märkte, sondern auf deren Regulierung und Modernisierung. Was in diesen beiden Kapiteln allerdings zu kurz kommt, ist eine systematische Diskussion der sozialräumlich differenzierten Ungleichheit
sowie der Distinktionspraktiken unterschiedlicher Gruppen (wie zwischen den Alteingesessenen und den Zugewanderten), für die Münnich einige Indizien gibt, ohne diese Themen weiter zu verfolgen. Nicole Münnich hat eine umfassende, interessante und in vielen Aspekten wegweisende Studie zur Entwicklung einer in mancherlei Hinsicht paradigmatischen, in anderer einma ligen südosteuropäischen Stadt nach dem 2. Weltkrieg vorgelegt. Die Autorin rekonstruiert detailliert und überzeugend, wie es der städtischen Bevölkerung immer wieder gelang, sich ihre Stadt entgegen anderslautender politischer Ziele anzueignen, wie aber auch die Politik lernte und sich anpassungsfähig zeigte. Demgegenüber fallen die Schwächen des Buches kaum ins Gewicht: So verwundert die konsequente Vermeidung von Leerzeichen vor dem Prozentzeichen. Störender sind manche Exkurse, deren Relevanz sich nicht erschließt. Der „historische Abriss“ (Kapitel 2) wäre verzichtbar gewesen, ebenso die für die Fragestellungen des Buches wenig zielführenden allgemeinen Ausführungen über die unzureichende Gleich stellung der Frauen in Jugoslawien (Kapitel 5). Diese Einwände sind aber gegenüber dem empirischen und interpretatorischen Ertrag der Arbeit als geringfügig zu gewichten. Die Studie macht nicht nur neugierig, wie es nach den „langen“ Sechzigern weitergegangen ist, sondern legt auch die Erzählstränge aus, die für eine Fortsetzung aufgegriffen werden sollten. Regensburg Ulf Brunnbauer 1 Dubravka Stojanovič, Kaldrma i asfalt. Urbanizacija i evropeizacija Beograda, 1890-1914. Beograd 2008; Nataša MiŠKOVić, Basare und
Boulevards. Belgrad im 19. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2008. 2 Predrag Markovič, Beograd izmedju istoka i zapada. 1948-1965. Beograd 1996. 520 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Cezar Stanciu, Războiul nervilor. Dispute Ceauşescu-Brejnev 1965-1971 [Der Ner venkrieg. Die Ceauşescu-Breschnew-Dispute 1965-1971]. Târgovişte: Cetatea de Scaun 2011. 270 S., ISBN 978-606-537-077-7, RON 35,Nous évaluons la récente publication du volume indiqué ci-haut, qui a la structure suivante: «Sommaire», «Préface» (signé par le maître de conférences Silviu Miloiu), «Introduction» (nous citons de cette introduction: «Depuis tant de décennies la question fondamentale est la même: combien a été l’illusion et combien a été la réalité [.]. Le mythe d’un Ceauşescu libéral, réformateur, mythe alimenté par les succès de sa politique externe, sera liquidé définitivement après 1971, malgré le fait que la politique externe a évolué pour beaucoup d’années en continuation dans le même cadre ») ; puis les cinq chapitres du volume ; «Tableau chronologique» ; «Glossaire», «Index» ; «Abréviations» ; àia fin du volume l’auteur présente une bibliographie exhaustive. Nous trouvons aussi des indications bibliographiques dans les notes en bas des pages. L’utilisation de mémoires, d’interviews, d’archives, a offert à l’auteur la possibilité d’une vaste documentation, et une des qualités remarquables du livre est justement l’analyse évolutive des rapports entre l’Union soviétique et la Roumanie dans la période 1965-1971. Le livre n’a ni caractère critique, ni caractère approbatif ; pour son objectivité (ou neutra lité) le livre a les traits d’un vrai documentaire, malgré qu’il s’agisse d’une oeuvre vraiment scientifique, ce qui suppose évidemment des jugements d’appréciation
de la part de l’auteur. Les opinions de l’auteur se trouvent, d’une façon récapituladve, dans les « conclusions », contenues à la fin du cinquième chapitre; l’auteur écrit: «Au final, on peut dire que la poli tique de la dissidence dans le bloc communiste, politique que la Roumanie a pratiquée a été réelle et n’a pas été - pas du tout - une manifestation négligeable pour l’Union soviétique» (230). Dans un sens positif, il résulte clairement, tenant compte des documents du Comité central, que cette politique a été sincèrement en accord avec les intérêts de l’indépendance de la Roumanie, dans la mesure où le concept de l’indépendance a été vraiment utile dans les conditions de la politique interne et internationale. Le livre contient aussi une série d’illustrations (photographies) par exemple: Ceauşescu et Brejnev à Moscou ( 1966) ; le départ de Corneliu Mănescu en Italie dans une visite officielle (1966) ; Nicolae Ceauşescu, secrétaire général du Parti communiste roumain et Luigi Longo, secrétaire général du Parti communiste italien (16-17 août 1967) ; Nicolae Ceauşescu à son départ de Belgrade (4 juin 1968) salué par Iosip Broz Tito ; l’entrevue de Nicolae Ceauşescu avec Mao Tzedun (3 juin 1971) ; Nicolae Ceauşescu et Gheorghe Maurer (29 juin 1967). La limitation temporelle fixée par l’auteur à la période 1965-1971 lui a permis d’éviter n’importe quelle comparaison avec une autre période - par exemple la période 1971 - 1989, comparaison qui inévitablement aurait influencé le point de vue de l’auteur sur l’ensemble des événements qui, après 1989, ont changé la face de
l’Europe et aussi la configuration politique du monde entier. L’auteur a évité le piège d’analyser une certaine période avec le but de la comparer, d’une manière positive ou négative, avec une autre période, comme l’a fait Voltaire dans son œuvre « Le siècle de Louis XIV », dans laquelle Voltaire a mis en évidence ce qui était négatif - à son avis - dans la politique de Louis XIV pour mettre davantage l’accent sur ce qui était positif dans la politique de Louis XV, roi contemporain de l’écrivain. Südost-Forschungen 72 (2013) 521
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 Ce qui s’ensuit - des analyses détaillées de l’auteur concernant chaque phase de la période 1965-1971 — est l’idée que la politique de la Roumanie a été la continuation de la traditionnelle politique de balancement (parmi les exemples illustratifs, ceux de Michel le Brave et de Constantin Brâncoveanu) entre les grands pouvoirs, avec l’intention de relâcher l’influence et même la domination d’un seul grand pouvoir sur l’État roumain; cette politique de balancement a été favorisée par l’apparition, à un moment donné, de l’antagonisme sino-soviétique.1 L’auteur ne pouvait éviter l’omission de quelques informations, étant donnée la richesse du matériel: par exemple, il n’a pas mentionné l’expression du président américain John son concernant « les chiens de la guerre » qu’on ne doit pas déchaîner, allusion qui a été interprétée comme une référence a une éventuelle occupation de la Roumanie par l’Union Soviétique (après l’invasion de la Tchécoslovaquie). Voilà quelques-unes des opinions exprimées par l’auteur: « Ceauşescu ne pouvait affirmer son indépendance que si Moscou se trouvait en difficulté» (144); en relation avec le discours public de Ceauşescu immédiatement après l’invasion de la Tchécoslovaquie, l’auteur écrit: «[.] le plus long et le plus brillant jour de savie [.]. Ce jour a été pour lui un moment de grand courage» (153). Il faut mentionner que l’auteur fait référence aux situations dans lesquelles Constantin Pârvulescu a organisé des manifestations, beaucoup de temps avant sa fameuse prise de position verbale contre la réélection
de Nicolae Ceauşescu, dans le sens d’une dissidence et d’une affiliation concomitante à la politique prosoviétique; ainsi, à l’occa sion d’une Plenaire du Comité central, Constantin Pârvulescu a déclaré que seulement dû à l’aide des autres Etats socialistes « nous avons développé notre économie socialiste, économie que nous pouvons agrandir muldlatéralement » (173); à cette occasion Nicolae Ceauşescu a combattu les affirmations de Constantin Pârvulescu et en fin de compte Constantin Pârvulescu représenta un cas isolé et conséquemment inoffensif (ce détail doit être retenu parce qu’il est la preuve d’une continuité de l’attitude politique de Constantin Pârvulescu et nous fournit l’explication pour la manifestation ultérieure de Constantin Pârvulescu lors de l’opposition expresse à la réélection de Nicolae Ceauşescu). Par la vaste bibliographie utilisée, par l’objectivité dans la présentation de la période analysée, par l’absence d’erreur dans le texte imprimé, le volume sera un repère bibliogra phique qu’on ne pourra pas négliger. Des courtes références en relation avec le changement d’attitude de Ceauşescu dans l’année 1971 sont présentes dans le volume (228: «Le procès de dégénération néo-staliniste est devenu irréversible en 1974»); dans le 5eme chapitre intitulé «Le revers de la médaille» sont mentionnées les diverses théories explicatives du changement de Ceauşescu (Dennis Deletant, Florin Constantiniu, Vladimir Tismàneanu, Robert King) et l’explication de l’auteur est la suivante: « [.] malgré que la visite en Asie ne peut pas être sous-estimée, les rations des
décisions prises par Nicolae Ceauşescu ont été surtout internes, tenant compte de la faiblesse du parti causée par la libéralisation et la pression exercée par Moscou » (230). Mediaş 522 Betinio Diamant Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 1 Concernam cette politique de balancement: Lucreţiu Pătrăşcanu, après son retour de Moscou, où il avait signé l’armistice, a affirmé en face de Iuliu Maniu que la politique roumaine de « balance ment » ne pourra être suivie en continuation et jusqu’à la mort de Staline, le maintien cette politique n’a pas été possible; le premier signe d’un changement a été la révolte de Berlin. Dans l’opinion de Molotov (Molotov remembers. Inside Kremlin Politics. Conversations with Felix Chuev. Chicago 1993) la mort de Staline ne fut pas naturelle (326: „I too am of the opinion that Stalin did not die a natural death. He wasn’t seriously ill. He was working steadily [.]“). Η τιτοϊκή Γιουγκοσλαβία και η μεταπολιτευτική Ελλάδα του Καραμανλή (1974-1979). Έγγρα φα από τα γιουγκοσλαβικά αρχεία [Tito-Jugoslawien und das postdiktatorische Griechenland Karamanlis’ ( 1974-1979). Dokumente aus den jugoslawischen Archiven]. Hg. Spyridon Sfetas. Thessaloniki: University Studio Press 2012. 300 S., ISBN 978960-12-2075-8, €18,Die vom Balkan-Zeithistoriker Spyridon Sfetas zusammengestellte Quellenedition besteht aus 33 ins Griechische übersetzten Dokumenten aus dem „Arhiv Jugoslavije“. Dabei handelt sich mehrheitlich um Akten aus dem 2009 von Seiten des „Muzej Istorije Jugoslavije“ an das „Arhiv Jugoslavije“ abgetretenen,Arhiv Josipa Broza Tita“.1 Diese Archivalien, die aller Wahrscheinlichkeit nach nun im Aktenfonds „Lični Fond Josipa Broza Tita“ (Nummer 838) gelagert sind, werden in der Quellensammlung Sfetas durch mehrere Schriftstücke aus dem Aktenfonds „Kabinet Predsednika Republike“
(Nummer 837) ergänzt.2 Ihr Studium gewährt uns interessante Einblicke in die griechisch-jugoslawischen und zyprisch-jugoslawischen Beziehungen der 1970er Jahre. Die Zeitspanne der Dokumente erstreckt sich insbesondere auf die Jahre 1974-1979, als das Verhältnis zwischen Athen und Belgrad nach dem Zusam menbruch der griechischen Militärdiktatur und der Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland einen deutlichen Aufschwung verzeichnete - trotz der weiterhin bestehenden Differenzen in der Makedonischen Frage. Eingeleitet wurde die griechische Annäherung zu Jugoslawien durch den ersten postdiktatorischen Premierminister Griechenlands Konstan tinos Karamanlis, der am 24.7.1974 infolge der türkischen Invasion auf Zypern von dem verzweifelten Militär als „Retter in der Not“ aus seinem Pariser Exil zurückgeholt und mit der Regierungsverantwortung beauftragt wurde. Zu diesem Zeitpunkt war Karamanlis 68 Jahre alt und hatte bereits die Regierungsgeschäfte Griechenlands acht Jahre lang von 1955 bis 1963 durchgehend geleitet. Seit dieser Zeit pflegte er trotz ideologischer Unterschiede ein gutes persönliches Verhältnis zu Tito. Nachdem der konservative Politiker aus dem ma kedonischen Nordgriechenland den demokratischen Transitionsprozess mit sicherer Hand gesteuert und zweimal die Wahlen mit seiner neu gegründeten Partei „Neue Demokratie“ (1974, 1977) gewonnen hatte, wechselte er 1980 auf den Posten des Staatspräsidenten. Dessen Politik der guten nachbarschaftlichen Beziehungen zu Jugoslawien (und Bulgarien) als Grundpfeiler der griechischen Balkan-Politik wurde von seinen
Nachfolgern in den 1980er Jahren, dem konservativen Georgios Rallis (1980-1981) und dem Sozialdemokraten Andreas Papandreu (1981-1989), konsequent fortgesetzt. Südost-Forschungen 72 (2013) 523
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 Սա den sich in den jugoslawischen Archivalien der hier zu besprechenden Quellenedition widerspiegelnden Annäherungsprozess zwischen Athen und Belgrad in den Jahren 19741979 richtig einschätzen zu können, muss die Vorgeschichte der griechisch-jugoslawischen Beziehungen berücksichtigt werden. Die Einleitung des Herausgebers mit den wichtigsten Erkenntnissen aus dem zusammengestellten Archivmaterial ist in dieser Hinsicht nur zum Teil zufriedenstellend. Denn Sfetas beginnt seinen Rückblick auf die Entwicklung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen erst mit dem Staatsstreich des 2. April 1967 durch die von Georgios Papadopulos angeführten Obristen und den negativen Auswirkungen, die dieser auf das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten hatte. Es wäre dennoch sinnvoll gewesen, den zeitlichen Bogen der Vorgeschichte bis in die frühe Phase des Kal ten Krieges zu spannen, um dem Leser gewisse Kontinuitäten und Brüche in der Belgrader GriechenlandPolitik sowie in der Athener Jugoslawien- und Makedonien-Politik deutlicher vor Augen zu fuhren. Sfetas wäre aufjeden Fall eine kompetente historische Darstellung des wechselhaften Verhältnisses zwischen Athen und Belgrad seit Ende des Zweiten Weltkriegs zuzutrauen. Denn in den letzten 15 Jahren hat er eine Fülle von Publikationen zum Griechischen Bürgerkrieg, zur Makedonischen Frage und nicht zuletzt zur griechisch-jugoslawischen Beziehungsgeschichte veröffentlicht - darunter auch weitere Quelleneditionen mit bul garischen und jugoslawischen Archivalien.3 Seine progriechische Grundeinstellung in der
Makedonischen Frage ist zwar in all seinen Schriften schwer zu übersehen. Dennoch bleiben die auf aufwendige Archivrecherchen zurückgreifenden und daher faktenreichen Studien des langjährigen Mitarbeiters des Thessaloniker „Institute for Balkan Studies“ er kenntnisreiche Beiträge für die Südosteuropaforschung. Der anschließende kurze Rückblick auf die Entwicklung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zwischen dem Ende des Griechischen Bürgerkriegs im Spätsommer 1949 und dem besagten Obristen-Putsch von 1967, der in der vorliegenden Quellenedition vermisst wird, basiert größtenteils auf eben diesen Vorarbeiten von Sfetas. Das Verhältnis Athens zu Belgrad war zu Beginn des Kalten Krieges aufgrund der star ken jugoslawischen Einmischung in den Griechischen Bürgerkrieg stark belastet. In Athen zeigte man sich nach Ende des Bürgerkriegs auf Druck der USA bereit, die diplomatischen Beziehungen zum moskaufeindlichen Jugoslawien wieder aufzunehmen, vorausgesetzt Belgrad würde seinen Anspruch auf Anerkennung einer in Nordgriechenland lebenden makedonischen Minderheit aufgeben. Die politische Ausgangslage für eine griechisch jugoslawische Annäherung war günstig. Schon ab Mitte 1948, als Jugoslawien aus dem Kominform ausgeschlossen wurde, hatte die Belgrader Führung ihren ehrgeizigen Plan, ein Großmakedonien innerhalb der jugoslawischen Föderation zu realisieren, aufgegeben. Nach wiederholten angloamerikanischen Aufforderungen gab Tito ab Ende 1950 seine rhetorische Aggressivität gegenüber Griechenland auf. Die strittige Minderheitenfrage wurde vorerst auf Eis gelegt. Dem
Belgrader Kurswechsel musste auch die politische Führung in Skopje folgen. Das Totschweigen des Makedoniendisputs sowie das gemeinsame Empfinden, durch den Warschauer Pakt bedroht zu werden, waren die entscheidenden Parameter für die ra sante Verbesserung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zwischen 1950 und 1960. Nach dem Tod Stalins 1953 fand allerdings eine durch viele Schwankungen gekennzeich nete Annäherung zwischen Moskau und Belgrad statt, die in der 1. Hälfte der 1960er Jahre 524 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen ihren Höhepunkt erreichte. Diese Entwicklung gab Jugoslawien den erforderlichen Rück halt, die fast ein Jahrzehnt lang totgeschwiegene Thematik der Existenz einer makedonischen Minderheit in Nordgriechenland erneut in den Vordergrund der griechisch-jugoslawischen Beziehungen zu stellen. Folge dieses aufflammenden Interesses Jugoslawiens für die Make donier Nordgriechenlands war eine Krise zwischen Athen und Belgrad, die von Dezember 1961 bis Dezember 1962 anhielt. Sie wurde erst durch das „Gentlemens Agreement“, das vom griechischen Außenminister Evangelos Averof und seinem jugoslawischen Kollegen Koča Popovič am 2.12.1962 geschlossen wurde, beendet. Darin wurde ein Schweigepakt in Bezug auf die Makedonische Frage beschlossen, in dem beide Parteien vereinbarten, sich — zumindest öffentlich — nicht gegenseitig mit diesem Thema zu konfrontieren. Bel grad wurde darüber hinaus von griechischer Seite aufgefordert, die Angriffslust Skopjes gegen Griechenland zu bändigen. 1963 verfolgte dann Belgrad bereits wieder eine Politik guter Beziehungen zu Griechenland, die nicht durch die makedonische Minderheitenfrage gefährdet werden sollte. Das Thema musste aus der Sicht jugoslawischer Diplomaten auf so vorsichtige Art und Weise angeschnitten werden, dass in Athen bezüglich der Sicherheit der griechischen Grenzen keine Ängste hervorgerufen werden sollten. Der Staatsstreich des 2.4.1967 führte zu einer Verschlechterung der griechisch jugoslawischen Beziehungen. Hauptgrund dafür war erneut die Makedonische Frage. Eine der ersten außenpolitischen Maßnahmen der griechischen
Junta war die Kündigung einer 1965 von der liberalen Regierung Georgios Papandreous mit Belgrad geschlossenen Verein barung zum freien „grenzüberschreitendenVerkehr“ innerhalb einer 30 km breiten Zone auf beiden Seiten der griechisch-jugoslawischen Grenze. Der Grund dafür lag in der Befürchtung des Regimes, dass das Abkommen die Propaganda makedonischer Nationalisten in den siawophonen Dörfern der Präfektur Florina begünstigen könnte. Die griechisch-jugoslawischen Beziehungen gerieten daraufhin bis Ende 1969 in einen Stillstand. Dies änderte sich in den Jahren 1970/1971, als die Obristen im Zuge ihrer Isolierung von Westeuropa eine Annä herung sowohl an den Ostblock als auch an die blockfreien Staaten suchten. Jugoslawien auf der anderen Seite, sah sich nach der Niederschlagung des Prager Aufstands 1968 durch die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten erneut stark bedroht und war dementsprechend bereitwilliger, engeren Kontakt zur ultrarechten Junta aufzunehmen. Trotz der kurzfristigen Annäherung war es abermals das makedonische Minderheiten-Problem, das das Verhältnis zwischen Athen und Belgrad auf den Prüfstand stellte. Die wiederholten jugoslawischen Bemühungen, in die bilateralen Beziehungen auch die Sozialistische Republik Makedonien einzuschleusen, riefen auf griechischer Seite großen Unmut hervor. Der Fall des Obristen-Regimes im Sommer 1974 brachte in Griechenland die „alte“ politische Klasse wieder an die Macht. Die türkische Invasion auf Zypern und die dadurch erfolgte Teilung der Insel führten zu einem radikalen Kurswechsel in der griechischen Si
cherheitspolitik. Nicht mehr die sog. „Gefahr aus dem Norden“, sondern die aus dem Osten bestimmte das Athener Verteidigungsdogma. Dementsprechend leitete die politische Klasse des Landes unter der Führung Karamanlis einen Annäherungsprozess zu den nördlichen Nachbarstaaten ein, auf den sowohl Sofia als auch Belgrad positiv reagierten. Aus den in den Quellenedition Sfetas beinhalteten Archivalien geht hervor, dass Ka ramanlis und Tito ein vertrauliches Verhältnis pflegten, das eine wichtige Grundlage für Südost-Forschungen 72 (2013) 525
Geschichte: 1848/1878 bis 1989 die Intensivierung der griechisch-jugoslawischen Beziehungen ab 1974 darstellte. Auf der anderen Seite spielte dabei politischer Pragmatismus eine wichtige Rolle. Das jugoslawische Engagement bei der UNO zur Entschärfhng des Zypern-Konflikts unter Berücksichtigung der zentralen griechischen Anliegen (Abzug der türkischen Besatzungstruppen, Rückkehr der griechisch-zyprischen Flüchtlinge in ihre Heimatorte) war nicht ganz uneigennützig. Belgrad versprach sich aus der Unterstützung zentraler griechischer Positionen in der Zypern-Frage ein größeres Entgegenkommen Athens in einer Reihe offener Fragen in den bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern. In der Tat kam die Regierung Karamanlis mehreren Belgrader Forderungen nach: Jugoslawien erhielt privilegierte Freihafenrechte in Thessaloniki, nachdem ein entsprechender 50 Jahre alter Vertrag aus dem Jahr 1923 abgelaufen war, ein Abkommen zum Ausbau der Wasserkräfte der Grenzflüsse wurde abgeschlossen und ein Programm der bilateralen Zusammenarbeit auf den Gebieten von Bildung und Kultur vereinbart. Zur Zufriedenheit Belgrads und v. a. Skopjes wurden als Projektpartner auch Einrichtungen der Sozialistischen Republik Makedonien akzeptiert. Das war allerdings auch das einzig nennenswerte Zugeständnis der griechischen Seite in der Makedonischen Frage. In Jugoslawien sah man die enger werdenden Beziehungen zu Athen als einen willkomme nen Anlass, um Griechenland erneut mit der Frage der Anerkennung einer makedonischen Minderheit und deren Rechten zu konfrontieren. Allerdings war der Belgrader Druck
zur Revision der Athener Haltung in der Minderheitenfrage nicht groß, sodass die ältere grie chische Position der „nicht existierenden Minderheit“ unverändert blieb. Bezeichnend dafür ist ein Ausschnitt aus den im Mai 1976 zwischen Tito und Karamanlis stattgefundenem Gesprächen, deren Protokoll Sfetas in seine Quellenedition aufnahm: „TITO: Ich werde ehrlich zu Ihnen sein. Sie wissen, es existiert weiterhin das Problem der Anerkennung der Rechte nationaler Minderheiten. [.] Sie wissen, Herr Präsident, wir kamen nicht hierher [nach Athen], um die Frage der Anerkennung der Rechte der nationalen Minderheit zu stellen, sondern um jene Aspekte zu unterstützen und weiterzuentwickeln, die uns ver binden. Es ist keineswegs unsere Absicht, neue Probleme zu verursachen. Sie haben auch ohne dieses [die Minderheitenfrage] genügend Probleme. In unserem Land haben wir die nationale Frage völlig gelöst; alle Nationen und alle ethnischen Gruppen genießen bei uns dieselben Rechte. Dementsprechend können wir unsere Grundposition nicht ändern. Wir sind der festen Überzeugung, dass die Anerkennung der Rechte nationaler Minderheiten einen Staat nicht schwächen, sondern ihn stärken kann. Karamanlis: „Herr Präsident, hier geht es nicht um irgendwelche Ängste, sondern um unterschiedliche Betrachtungsweisen dieses Thema. Aus unserer Sicht hat der Begriff,Makedonien* ausschließlich eine geogra phische Bedeutung“ (190f.). Die Quellensammlung Sfetas trägt v. a. der weiteren Erkundung der griechisch-jugosla wisch-makedonischen Beziehungen im Südosteuropa des Kalten Krieges bei. Darüber hinaus
finden sich darin interessante Informationen zur jugoslawischen Vermittlerrolle zwischen Nikosia, Athen und Ankara zur Beilegung des Zypern-Konflikts. Außerdem wird die Pu blikation durch einen Anhang ergänzt. Dieser beinhaltet ein Gesprächsprotokoll zwischen dem griechischen Außenminister Dimitrios Bitsios und seinem jugoslawischen Kollegen Miloš Minićaus aus dem Jahr 1976 in serbokroatischer Sprache sowie mehrere bulgarische 526 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Akten in Originalsprache zur Zypern-Krise von 1974, die aus einem angeblichen „Archiv“ Todor Zivkovs stammen sollen. In Letzterem wird das große Interesse Bulgariens an der Schwächung der südosteuropäischen Nato-Flanke durch die Zypern-Krise dokumentiert. Der Anhang macht noch einmal die Hauptschwäche der sonst spannenden Quellen edition ersichtlich, die in der wenig gründlichen Arbeitsweise des Herausgebers liegt. Denn Sfetas unterlässt es konsequent, vollständige und/oder korrekte Angaben zur Herkunft der Archivalien seiner Sammlung zu liefern. Der am Originalmaterial interessierte Leser wird feststellen, dass es ein ,Archiv Josipa Broza Tita“ als eigenständige Behörde genauso wenig wie ein ,Archiv Todor Živkov“ gibt. In diesem Zusammenhang ist auch zu bemängeln, dass Sfetas in der Einleitung darauf verzichtet, den im Untertitel verwendeten Begriff „jugo slawische Archive“ weiter zu präzisieren. Deudich werden diese Mängel auch im Fall des besagten Bitsios-Minić-Protokolls im Anhang, zu dessen Herkunft keinerlei Informationen angeführt werden - vermutlich stammt auch dieses aus dem besagten Aktenfonds „Kabinet Predsednika Republike“ (Nummer 837) des „Archiv Jugoslavije“. Sfetas hat vor allem griechischen Historikern, die des Serbokroatischen nicht mächtig sind, mit dieser Quellenedition einen großen Dienst erwiesen. Die besagten Einwände gegen die wenig sorgfältige Betreuung dieser Veröffendichung schmälern jedoch den Gesamteindruck. Wien Adamantios Skordos 1 Vgl. Preuzet Archiv Josipa Broza Tita od Muzeja Istorije Jugoslavije, unter Archiv Jugoslavije,
http://www.arhivyu.gov.rs/system/sr-cyrillic/home/newsplus/viewsingle/_params/newsplus_news_ id/42657.html , 30.7.2013. 2 Vgl. Lista fondova uz perioda nakon 1945 godine — sortirano po azbučnom redu, unter Archiv Jugoslavije, http://www.arhivyu.gov.rs/active/sr-cyrillic/home/glavna_navigacija/arhivska_gradja/ fondovi_i_zbirke/fondovi_iz_perioda_nakon_l945_godine/fondovi_nakon_l 945.html , 30.7.2013. 3 Vgl. Spiridon Sfetas, Στη Σκιά του Μακεδονικού. Η κρίση Αθήνας-Βελιγραδίου στη δεκαετία του 1960. Thessaloniki 2007; ders. (Hg.), Ο ακήρυχτος πόλεμός για το Μακεδονικό. ΒουλγαρίαΓιουγκοσλαβία 1968-1989. Thessaloniki 2010; Basilēs Kontēs/ Spiridon Sfetas (Hgg.), Εμφύλιος Πόλεμος. Εγγραφα από τα γιουγκοσλαβικά και βουλγαρικά αρχεία. Thessaloniki 1999. Südost-Forschungen 72 (2013) 527
Rezensionen Geschichte: seit 1990 Ivan ČOLOVIĆ, Kulturterror auf dem Balkan. Essays zur Politischen Anthropologie. Osnabrück: fibre-Verlag 2011. 255 S„ ISBN 978-3-938400-71-5, € 24֊ Welchen Wert für die Debatte über die gegenwärtige Kulturpolitik auf dem Balkan hat ein Buch, das aus Texten besteht, die überwiegend ein paar Jahre vor dem Erscheinungs datum schon einmal veröffentlicht wurden? Colovié beantwortet diese Frage im Vorwort seines Buches, wenn er darin kurz die Entstehungsgeschichte erläutert: Es sei sein „polni sches Buch“, da er es auf Anregung von Andrzej Stasiuk und Monika Sznajderman, beide Mitarbeiter eines polnischen Verlags, zusammengestellt hat. Vieles, was Colovié über den Balkan geschrieben hat, treffe deren Meinung nach auch auf Polen zu. „Der Virus der anti demokratischen Ansteckung“ (Adam Michnik in einer Kurzrezension auf dem Buchrücken der polnischen Ausgabe) verbreite sich auch in anderen postkommunistischen Ländern und nicht nur auf dem Balkan. Somit sind Colovics Thesen nicht nur auf dem Balkan von Belang. Das Buch ist erstmals im Jahr 2007 in Polen erschienen, bemerkenswerterweise erst ein Jahr später im serbischen Original und 2011 schließlich von seinem Sohn Nikola Colovié ins Deutsche übersetzt worden. Diese Rezension behandelt die deutsche Überset zung der serbischen Ausgabe. Die Entstehungsgeschichte des Werkes deutet also an, dass es Colovié um mehr geht, als sich im hohen Alter durch diese Veröffentlichung selbst zu beweihräuchern. Letzterer Eindruck entsteht im Geleitwort des Buches, in dem die Kulturanthropologin Dagmar Burkhart
sämtliche seiner Werke und bisherigen Leistungen heraushebt. Natürlich pran gert Colovié durch das erneute, gebündelte Erscheinen der Texte in diesem Werk wieder einmal die Kultur Serbiens und des Balkans „als Zünder des Hasses und Krieges“ an und warnt - vielleicht auch vor dem aktuellen Hintergrund der EU-Beitrittskandidaturen südosteuropäischer Länder — eindringlich davor, durch eine Rückkehr zum Nationalismus das demokratische Projekt in Serbien zu gefährden. Es soll aber wohl auch den NichtBalkanländern dabei behilflich sein, nicht in das gleiche Fahrwasser zu geraten, in dem sich Serbien nach Colovics Meinung kulturpolitisch seit geraumer Zeit befindet. Der Anspruch des Buches dürfte demnach nicht mehr sein, die Kulturpolitik in Serbien vom Nationalismus wegzulenken. Das hat Colovié mit vielen seiner Essays schon früher versucht. Ob es aber sinnvoll ist, Colovics Texte wie Blaupausen über die Kulturdiskussion in Polen zu legen, darf bezweifelt werden. Zumal fragwürdig ist, ob diese Debatte in Polen überhaupt stattfindet. Adam Michniks Warnung in der Kurzrezension auf dem Buchrücken der polnischen Ausgabe erweckt eher den Eindruck, als wolle man sie in Polen künstlich anstoßen. Diese Zweifel ausgeklammert, ist das Buch dennoch lesenswert, da die polemische Art des Autors dem Leser einen guten Einblick in die Auseinandersetzungen in Serbien gibt. Interessant ist vor allem, dass nicht nur die Thematik selbst dem Leser aufgezeigt wird, sondern auch wie die Debatte vonstatten geht. Die Gliederung des Buches hat den Rezensenten nicht immer überzeugt. Es lassen sich
verschiedene Cluster - namendich Sprache, Räume und Musik - erkennen, die Beiträge eines Clusters sind jedoch leider manchmal zwischen zwei Beiträgen eines anderen Themengebie tes angeordnet. Auch die Qualität der Essays ist nicht immer auf gleichem Niveau. Nach 528 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Inhalten geordnet, würde der Beitrag „Der eigene Herr auf eigenem Grund und Boden“ gut zu „Der Mythos vom geistigen Raum der Nation“ passen, da auch dieser unter dem Begriff der Räume zu fassen ist. So steht er im Buch leider zwischen zwei Beiträgen, die sich mit Musikkultur befassen. Auch der sehr gute Beitrag „Kultur, Nation, Territorium“ würde dann nicht in der unscheinbaren Mitte des Buches verschwinden. Er könnte so an der Stelle nach dem zähen Essay über die Gusla zusammen mit dem Text über das Kloster Hilandar einen gelungenen Höhepunkt am Ende des Buches markieren. Den Einstieg in das große Themenfeld der Kulturpolitik macht der Essay „Im Namen der Kultur. Wenn sich die Politik auf die Kultur beruft“. Darin stellt Čolović die These in den Vordergrund, dass die Kultur auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien den politischen Machthabern bzw. dem „aggressiven, ethnischen Nationalismus“ zur Legitimation diene. Die Kultur wird von der Politik zweckentfremdet. Hier wird auch sofort Grundlegendes klar, was sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht: Kultur in diesem Raum sei immer etwas Negatives, sobald einzelne Kulturelemente von Politikern für ihre Zwecke missbraucht werden. Es herrsche auf dem Balkan ein anderes Kulturverständnis als in westlichen, demokratischen Staaten, in denen die politische Führung durch eine Verfassung und Wahlen legitimiert sei und nicht andersweidg gerechtfertigt werden müsse. Paradox an Colovics These ist aber gerade, dass auch die Balkanstaaten Demokratien sind, er dessen politische Akteure aber oftmals als Machthaber,
und nicht als Politiker diskreditiert. Man muss sich an diesem Punkt auch die Frage stellen, ob der Autor hier nicht einfach den Westen idealisiert. Beispielhaft dafür könnte man den „Kulturkampf“ um die Homoehe erwähnen. Hat so ein Kampf, wie er momentan beispielsweise in Kroatien geführt wird, nicht auch vor nicht allzu langer Zeit in demokratischen Ländern stattgefunden? Im Text „Kultur, Nation, Territorium“ wird die Kritik am nationalistischen Kulturmo dell deutlicher als im Rest des Werkes. Er behandelt die Phase der „Deserbisierung“ nach Milosevic und die Grundangst der serbischen Nationalisten, das Verschwinden des eigenen Volkes. Der Autor schreibt vom Wandel des „echten“ Krieges in einen Kulturkrieg in Ser bien nach 1999, denn laut den Nationalisten diente der Nato-Einsatz der Vernichtung des serbischen Volksgeistes. Seither gelte es für sie, die kranke serbische Seele zu heilen, mit allen im Buch beschriebenen Kulturpraktiken. „Im Kloster Hilandar. Nationalismus als Religion“, dem gelungensten Essay (dieser ist leider nicht in der polnischen Ausgabe abgedruckt, da er in der serbischen Ausgabe seine Erstveröffentlichung hatte), wird der Missbrauch dieses serbisch-nationalen Gedächtnisortes anhand von Pilgerfahrten der Fußballmannschaft Partizan Belgrad und Politikern aufge zeigt. Der Autor erkennt in diesen Reisen ein erneutes Wiederaufleben des Nationalkults in Serbien und eine Gefährdung der Demokratie. Diese Kernaussage kann stellvertretend für alle anderen im Buch befindlichen Essays stehen, denn ob es sich nun um ein Moster, Musikinstrument, Mythen,
Abstammung oder Sprache handelt, veranstalten die Politiker auf all diesen Feldern ihren „Kulturterror“. Exemplarisch dafür wird am Rande die „Pilgerfahrt“ von Slobodan Milosevic geschildert: Entgegen aller Regeln reiste dieser per Hubschrauber an und landete direkt vor dem Moster. Den Mostervorsteher begrüßte er mit „Guten Tag“ (nach einer anderen Version mit „Hallo Genosse Mostervorsteher“, wieder nach einer ande ren mit „Hallo Priester“). Vor seinem Besuch hatten sich allerdings schon etliche Mönche Südost-Forschungen 72 (2013) 529
Geschichte: seit 1990 vom Kloster entfernt und danach eine zusätzliche Fastenzeit eingeführt. Sie weihten auch jede Stelle, auf die der Präsident seinen Fuß gesetzt hatte und züchteten an der Stelle, an der der Helikopter gelandet ist, von da an keine Tomaten mehr. Die Politiker benutzen Kultur also als Ressource zum Machterhalt und treten sie zu allem Überfluss noch mit Füßen. Die beiden letzten Beiträge sind gesondert zu betrachten und bestehen aus einem Inter view mit Katarina Luketič aus der Zagreber Zeitung „Zarez“ und einem Nachtrag aus der Belgrader Zeitung „Danas“. Sie sind ebenfalls nicht in der polnischen Ausgabe zu finden. Im Nachtrag kritisieren der Präsident des Zentralrats der Bosniaken, Krkić, und der He rausgeber der Kritischen Ausgabe von Medjedovićs Epik, Colaković, die Darstellung des Guslaspielers Avdo Medjedović als Fleischer in Colovics Beitrag über die Gusla. Colović zitiert darin die Selbstaussage des Guslaspielers, dass er ein Fleischer sei. Krkić und Colaković missfallt diese Aussage, scheinbar ist für sie der rohe Beruf des Fleischers nicht kompatibel mit der „Hochkultur“ des Guslaspiels. Colovics Antwort, die er beiden im Nachtrag gibt, dekuvriert vor allem das einseitige Denken vieler balkanischer Eliten. Es wird aber auch der schwere Stand des Autors in Serbien deutlich; wie andere Angehörige des Belgrader Kreises muss er sich mit seinen Aussagen und Warnungen wie in einer Wagenburg fühlen: Von allen Seiten umzingelt, muss er sich mit Pfeil und Bogen den zahlenmäßig überlegenen Gegnern widersetzen. Ob seine Wagenburg aber immer noch von so
vielen Nationalisten wie vor dreizehn Jahren - der älteste Essay im Buch wurde im Jahr 2000 veröffentlicht belagert wird, daran hat der Rezensent vor dem Hintergrund der Demokratie und des EU-Kandidatenstatus Serbiens seine Zweifel. Wahrscheinlich gehen den Nationalisten doch langsam die Pfeile aus. Regensburg Benjamin Kürzinger Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommunismus. Hgg. Hans-Joachim Veen / Peter März / Franz-Josef Schlichting. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2010 (Eu ropäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, 15). 183 S„ ISBN 978-3-412-20597-3, € 19,90 Der vorliegende Sammelband „Die Folgen der Revolution. 20 Jahre nach dem Kommu nismus“ geht auf ein 2009 in Weimar abgehaltenes internationales Symposium der Stiftung Ettersberg mit dem gleichen Titel zurück. In ihm setzen sich elf Autoren mit der Frage auseinander, was nach dem Ende des Realsozialismus aus den Erwartungen der Beteiligten geworden ist: Es wird nicht mehr gefragt „Was war?“, sondern „Was hat sich entwickelt?“ (8). Der Stiftungsvorsitzende und Mitherausgeber Hans-Joachim Veen begründet in seiner knappen Einführung den gewählten Ansatz: „Schaut man auf die letzten 20 Jahre zurück, ist unübersehbar, dass die Zeitläufe seither von einem raschen Wandel [. ] gekennzeichnet sind, in dem die Analysen von gestern die neue Wirklichkeit oft kaum mehr treffen“ (11). Demgemäß suchten die Forscher auf der gemeinsam mit der Bayerischen Landeszentrale 530 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen fur politische Bildungsarbeit und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen veranstalteten Tagung eine Art Zwischenbilanz des nachkommunistischen Europa zu ziehen. Der Sammelband ist in zwei Teile gegliedert. Während der 1. (titellose) Teil die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungslinien untersucht, widmet sich der 2. Teil „Von der Staatswirtschaff zur Marktwirtschaft“ den ökonomischen Gegebenheiten der ehemaligen DDR, Polens, Rumäniens und Ungarns. Die Aufsätze bieten ein aufschlussreiches Panorama des politischen, zivilgesellschaftli chen und ökonomischen Entwicklungsstandes im ehemaligen Ostblock. Deutlich wird dies gleich im ersten Beitrag, in dem Hans-Peter Schwarz einen Gesamtüberblick über die politischen Transformationsprozesse nach 1989 gibt ( 13-30). Er schreibt das Gelingen der sogenannten 3. Demokratisierungswelle der historischen Erfahrung des Westens zu. Um ein potentielles Machtvakuum in Ost- und Ostmitteleuropa zu vermeiden, entschie den sich die westlichen Staaten und multilateralen Institutionen (EU, Nato) bewusst für die Schaffüng von Mechanismen zur Unterstützung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung. Schwarz macht klar, dass diese erneute „Verwestlichung“ für nicht mehr und nicht weniger als „die Korrektur einer Getrenntenrwicklung“ angesehen wurde (27). Am Beispiel Russlands exemplifiziert er, dass die politische Evolution nicht überall gelungen ist. Als eine Art „halbeuropäisches Land“ (28) trenne sich Russland - nach dem Verlust seines Satellitenbereichs - wieder vom Schicksal Europas. Dieser Einschätzung
schließt sich Gerhard Mangott in seinem Beitrag über Russlands „gesperrten Weg“ an ( 101 -120). Die demokratischen Reformen wurden schon nach wenigen Jahren abgebrochen. 1993 zementierte die neu verabschiedete Verfassung die Einrichtung eines autoritären Machtzentrums. Die Etablierung dieses Machtzentrums veranlasst den Autor, das heutige Russland in direkte Verbindung mit den zaristischen und kommunis tischen Vorgängerregimen zu bringen und es als „Putins autoritären Polizeistaat“ (112) zu bewerten. Dabei folgt der Autor dem Ansatz derjenigen Forscher, die Russlands Entwicklung als abweichend von westlichen Normen betrachten. Auch wenn dieser These im Grundsatz zuzustimmen sein mag, hätte eine kritische Reflexion den Beitrag bereichert. Neben den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen hätte noch ein weiterer Aspekt thematisiert werden können: Ein Kurzüberblick über die Osteuropapolitik Russlands (als dem einzigen Nicht-EU-Staat, der im Sammelband vorkommt) wäre wünschenswert gewesen. Besonders lesenswert macht den Sammelband, dass einige der Aufsätze durch ihre Quellenauswahl (Zeitungen, Meinungsumfragen, öffentliche Debatten) und Herangehens weise den Transformationsprozessen einen persönlichen Charakter verleihen. Krzysztof Ruchniewicz beispielsweise liefert in seinem Beitrag zu Polen sowohl einen anschaulichen Einblick in die wissenschaftliche Forschungsdiskussion als auch in die Selbsteinschätzung der Beteiligten (45-60). Er erhebt keinen Anspruch auf ein „sogenanntes objektives Bild, das wahr und vollständig“ ist und erlaubt sich subjektive Bewertungen, z. B.
über die Jahrestagsdebatten 2009, „als gehe es um einen Live-Bericht über den großen politischen Kampf um die Geschichte“ (47). Ruchniewicz zeichnet das Bild einer sich modernisierenden und polarisierenden Gesellschaft, in der die Trennlinien entlang der Haltung zu Toleranz, Reichtum, den Akten der ehemaligen Staatssicherheit usw. verlaufen. Südost-Forschungen 72 (2013) 531
Geschichte: seit 1990 Mária Schmidts Beschreibung Ungarns (61 -72) ist durchweg düster: kein Elitenwechsel, keine Reprivatisierung, keine moralische Wiedergutmachung, Verflechtung von Staats und Privatinteressen, Korruption, Hoffnungslosigkeit. Wer ist dafür verantwortlich? Zum großen Teil meinungsbildende Intellektuelle, die nicht daran interessiert waren, dass die Systemveränderung zu einer echten Zäsur wurde, so die Autorin (66). Während Ruchniewicz Polen als wichtigen Staat innerhalb der Europäischen Union bezeichnet, der sich von den unvorteilhaften geopolitischen Bedingungen der letzten Jahrhunderte befreit habe, vertritt Schmidt in ihrer Analyse eine andere Ansicht. Anhand des Beispiels des russisch-ukrainischen Gaskonflikts 2008, in dem weder die EU noch Deutschland im Interesse der osteuropäischen Länder auftraten, urteilt die Autorin, dass sich die Region heute zwischen der deutschen und der russischen Interessensphäre befinde. Dieser Einschätzung schließt sie eine politische Botschaft an: „Ungarn und ganz Mittelosteuropa muss erkennen, dass die Region nur auf sich selbst zählen kann“ (71). Auch wenn dies als ein Plädoyer für eine ostmitteleuropäische Zusammenarbeit und gemeinsame Identität daherkommt, wirkt Schmidts Urteil dennoch unreflektiert und wenig nuanciert. So schließt sich ihrer ermutigend klingenden Einschät zung „So groß unsere Probleme auch sind, wir stehen dennoch nicht schlechter da als die als entwickelt geltenden westeuropäischen Länder“ (71) eine abwertende Kritik des Westens an (das Unterrichtswesen liege in Trümmern, das Familienleben
erscheine ausgehöhlt, im Mittelpunkt der Lebensplanung stehe der Wunsch, nicht zu altern usw.). Jan Sokol bietet in seinem Überblick über Tschechien (73-82) „die Sicht eines enga gierten Teilnehmers, der die Entwicklungen mehr miterlebt als beobachtet hat“ (73) und gönnt dem Leser dabei auch eine längere Darstellung der Zwischenkriegszeit. Als größtes Problem im heutigen Tschechien nennt er die Politisierung des Staatsdienstes, wodurch jeder Regierungswechsel immer auch die Beamten der Ministerien beträfe. Sein Urteil (Stand 2009) zum wirtschaftlichen Leben, zum Umweltschutz und zum Lebensstandard fällt dagegen positiv aus. Andrei Marga thematisiert die verspätete Entwicklung Rumäniens (83-100) und sucht nach politischen Alternativen zu „einer Sozialdemokratie, die 2004 oligarchisch wurde, zu einem Liberalismus, der von 2005 bis 2009 nur auf Eigennutz bedacht war, und zum autoritären Populismus“ (89). Marga beschreibt 8 konkrete Herausforderungen, vor denen die rumänische Demokratie stehe. Sie reichen von der klaren Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Interessen bis hin zu einer verbesserten Gesetzgebung. Gerade das Beispiel Rumäniens verdeutlicht die vorteilhafte Position der sogenannten neuen Bundesländer in Deutschland, die Eckhard Jesse beschreibt (31-44). Er schluss folgert in seiner Analyse der Parteien und politischen Kultur in Ostdeutschland, dass die neuen Bundesländer zwanzig Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung „überwiegend demokratisch konsolidiert“ seien (42). Dies gelte trotz der geringeren politischen Aktivität und des
„Legitimationsproblems“: die Zustimmungsquote zur „Demokratie, die wir in der Bundesrepublik haben“ (eine nicht unkomplizierte Formulierung, die die Antwort vorher bestimmen mag, so der Autor), liegt im Osten Deutschlands seit 1990 nur bei etwa 40 %. Das Parteiensystem und die Verfassungsinstitutionen wurden von den alten Bundesländern auf die neuen übertragen. Ungeachtet vieler Parallelen zwischen Ost- und Westdeutschland gibt es, wie Jesse verdeutlicht, auch einige ostdeutsche Spezifika. Besonders bemerkbar sei, 532 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen dass die ostdeutschen Wähler stärker zu Parteien neigen, die Gleichheit in den program matischen Vordergrund rücken. Außerdem hätten es die PDS bzw. Die Linke erfolgreich verstanden, den Ost-West-Konflikt zu kultivieren und so ihre Wählerschaft zu vermehren. Der Beitrag Rüdiger Pohls über die ökonomische Transformation Ostdeutschlands (121-128) leitet den 2.Teil des Sammelbandes ein. Das wohl größte Problem für den Osten liegt laut Pohl - angesichts des negativen demografischen Trends — in der Sicherung des Personalbedarfs. Des Weiteren ruft er die Politiker dazu auf, neu über den ,Aufbau Ost“ nachzudenken und den Blick von Ostdeutschland auf Gesamtdeutschland zu lenken. Dieser Perspektivwechsel sei notwendig, weil sich die Wirtschaft in Ost und West inzwischen im Gleichschritt bewege. Witold Małachowski weist in seinem statistischen Überblick auf Polens wirtschaft lichen Aufstieg hin (129-140). Das Bruttoinlandsprodukt war im Jahr 2008 gegenüber 1989 um 78% gestiegen. Das Bruttosozialprodukt bzw. Bruttonationaleinkommen blieb dennoch niedrig (bei 40 % des Durchschnitts aller EU-Mitglieds- und Kandidatenländer). Die Bilanz von Nutzen und Kosten der Transformation fällt laut Autor eindeutig positiv aus. Einen gründlichen Überblick über Rumäniens ökonomische Transformation bietet Stefan Sorin Mureşan (141-162). Durch eine Gewinn- und Verlustrechnung verdeutlicht er, was in Rumänien seit 1989 bewirkt wurde und wo das Land aktuell steht. Als wichtigste wirtschaftliche Vorgänge hebt er Privatisierung und Reprivatisierung hervor. Er vertritt die These, dass die
Tatsache, dass Rumänien kein klares Wirtschaftsmodell übernommen habe, die soziale Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert habe. László Csaba unterscheidet in seiner Analyse der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklungstrends der letzten 20 Jahre (163-174) zwischen vier Ländergruppen, die aus dem Systemwandel hervorgegangen sind. Ungarns Talfahrt vom Spitzenreiter in der Transformationsphase zu einem der schwächsten Transformationsländer Europas beschreibt er als eine Folge des „verlorenen Jahrzehnts“ (174), das von politischen Fehleinschätzungen eingeleitet wurde. Die Autoren haben insgesamt einen lesenswerten Sammelband vorgelegt, in dem trotz augenfälliger Gemeinsamkeiten bei jedem Land ein eigenes Profil erkennbar wird. Erwar tungsgemäß gibt es häufig Wiederholungen und Überschneidungen, die aber bei so eng verwandten Themen nicht immer zu vermeiden sind. Was fehlt, ist eine gesamtosteuropäi sche Perspektive, die über die Grenzen der einzelnen Beiträge hinausgeht. Dass vier Länder mit jeweils zwei Beiträgen vertreten sind, reduziert die Zahl der Fallbeispiele und trägt zur besseren Übersichtlichkeit bei, hinterlässt jedoch auch den Eindruck der Beliebigkeit bei der Auswahl. Gleichwohl ist der Band eine erhellende und gewinnbringende Lektüre, die zum Weiterdenken anregt. Regensburg Südost-Forschungen 72 (2013) Kadri Kehayova 533
Geschichte: seit 1990 Gendering Post Socialist Transition. Studies of Changing Gender Perspectives. Hgg. Krassimira Daskalova/Caroline Hornstein Tomić/Karl Kaser/Filip Radunović. Münster, Berlin, Wien: LIT Verlag 2012 (ERSTE Foundation Series, 1). 323 S., ISBN 978-364-390-229-0, €34,90 Der von der österreichischen ERSTE Stiftung herausgegebene vorliegende Sammelband widmet sich, wie der Titel ohne Umschweife anzeigt, sozialwissenschaftlichen Genderanalysen in postsozialistischen Gesellschaften und setzt seinen Fokus auf die soziokulturelle Seite der politischen und ökonomischen Systemveränderungen. Im Vorwort der Stiftungs mitarbeiter wird gleichzeitig der offene Charakter des Buches hervorgehoben, das keinen epistemologischen Rahmen setze und auch keine Wissensvorgaben von Seiten der Stiftung zu erfüllen habe. Auf die Frage, warum dieses Thema an dieser Stelle angeschnitten wird, gehen sie zwar nicht ein, verweisen aber auf die Problematik und grenzen sich gegen den hier nur durchscheinenden Vorwurf der epistemologischen Kolonialisierung der postso zialistischen Wissenschaften ab. Dass eine Kritik an der Stiftungspolitik den Hintergrund für dieses Statement darstellen könnte, scheint hingegen nicht auf. Diese wurde nämlich in Bezug auf die im Vorwort erwähnte und mit dem Buchprojekt verknüpfte vorausgegangene Ausstellung „Gender Checks. Femininity and Masculinity in the Art of Eastern Europe“ (November 2009 bis Februar 2010 im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig in Wien) von der beteiligten Konzeptkünstlerin und Theoretikerin Marina Gržinić geäußert.1 Sie wies darin
auf die im Ausstellungskonzept präsente episte mologische Verengung auf einen westlichen Blick hin (obwohl die Kuratorin die serbische Kunsthistorikerin Bojana Pejić war), der mit der Förderung von Kunst und Wissenschaften durch Stiftungen wie der ERSTE Foundation vor allem westliche ökonomische Interessen (in diesem Fall eines österreichischen Finanzinvestors) in der Region durchsetze. Einer ihrer Kritikpunkte war das auf EU-Ebene etablierte Genderkonzept, das sich als Teil eines westlichen Kulturparadigmas auch in der Ausstellung widergespiegelt habe. Unter die sen Umständen werde „Gender“ Teil einer „neoliberal govermentality“, das die Tendenz habe Geschlecht als Handlungsparadigma zu entpolitisieren. Indem es, so Gržinić, seine antagonistische Entsprechung in den als nationalistisch und homophob wahrgenommenen Gesellschaften der EU-Grenzregionen finde, kolonialisiere es über eine „genderizadon“ die angrenzenden, in die EU drängenden Gesellschaften. Gender werde in diesem Rahmen zu einem Governance-Konzept, das die Verknüpfung mit politischen Kategorienbildungen verhindere. Die gesellschaftliche Funktion soziologischen Geschlechterwissens steht schließ lich auch im vorliegenden Band zur Verhandlung. Denn es macht sowohl Gesellschaft in Kategorien fassbar und damit Probleme politisch artikulierbar und rational argumentierbar als auch Herrschaftsstrukturen reproduzierbar. Nicht nur erstere, sondern auch Letztere zu fassen, liegt schließlich auch im Interesse feministischer Forschungsansätze. Dass Gender als Untersuchungsparadigma, trotz seiner feministischen Ursprünge,
nicht mehr klar zu verorten ist, zeigt sich nach Ansicht der Rezensentin auch an der fehlenden Begriffsbestimmung durch die Herausgeber dieses Bandes. Ihr Ausgangspunkt ist die Frage nach den für die Geschlechter unterschiedlichen Folgen, die von der sozialen und ökonomischen Umbruchsituation im Postsozialismus zu verzeichnen seien. Sie unterteilen die Beiträge in drei große Themenblöcke, die sich allerdings nicht im Aufbau des Buches 534 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen spiegeln. Zunächst wird der Verlust und der Gewinn von Freiheit im Kontext von Retraditionalisierung/Repatriarchalisiemng genannt; die Repräsentation von Geschlecht in Politik und Medien, ein klassisches Untersuchungsfeld der Geschlechtergeschichte, wird als zweiter Themenschwerpunkt aufgeführt. Drittens bilden soziale Exklusion und kul turelle Marginalisierung als Folge der Transformationsprozesse einen weiteren wichtigen Analysefokus der Beiträge. Der Beitrag „Gender Relations in Albania (1967-2009)“ (35-63) vom Forscherkollektiv um Fatmira Musaja, Fatmira Rama und Enriketa Pandelejmoni beruft sich auf den Mangel an Geschlechterstudien zu Albanien und rechtfertigt damit ihren Versuch einer umfassenden soziologischen Untersuchung der Geschlechterverhältnisse in Albanien seit 1967. Gerade für die sozialistische Periode wurden erstmals kürzlich erst freigegebene Dokumente aus dem Archiv des Zentralkomitees der Albanischen Arbeiterpartei in die Analyse mit einbezogen. Die hier veröffentlichten Ergebnisse überraschen meist nicht, da sie den Entwicklungen der anderen sozialistischen und postsozialistischen Länder ähneln. Doch gerade da Albanien in gewisser Weise eine Art Black Box in den Gender Studies darstellt, zumal das Land während des Sozialismus weitgehend isoliert war, ist die hier geleistete Benennung der Diskriminierungen verschärfenden Effekte des sozialistischen Systems besonders von Interesse. Auch der bulgarische Beitrag „Gender Identities in Transition: The Role of Popular Cul ture and the Media in Bulgaria after 1989“ von Milena Kirova und Kornelia
Slavova (65-92) gibt die ersten Ergebnisse eines größeren Projekts wider, in dem Stereotypisierun gen und Rollenbilder in den Medien, der Werbung, der Mode, der Literatur und im Film untersucht wurden. Weitere Untersuchungen widmeten sich dem Umgang der Medien mit sexuellen Minderheiten sowie mit der Produktion von Hyper-Männlichkeit in der bulgarischen Pop-Kultur und ihrer Verbindung zwischen Sport und Kriminalität. Kritisch anzumerken ist bei der präsentierten Fülle, dass die theoretischen Ausgangsüberlegungen weitgehend unterbeleuchtet bleiben, was sowohl den Genderbegriff als auch die Wahrneh mung bzw. Theoretisierung sozialer Differenzierung anbelangt. Der Aufsatz „Gender Experience of Homelessness in Croatia“ von Lynette SikićMićanović (95-116) fokussiert mit der Obdachlosigkeit ein konkretes soziales Problem. Die Autorin kritisiert das Schweigen, mit dem in den letzten 20 Jahren das Thema der Obdachlosigkeit sowohl von der Politik als auch von der Soziologie bedacht wurde und dass Frauen zusätzlich aus dem Wahrnehmungsraster helen. In der Analyse der anonymisierten Interviews zeigt sich schließlich die weibliche Gewalterfahrung als zentrales Risiko für Verletzungsoffenheit und Armutsgefährdung von Frauen, die sie in die Abhängigkeit von gewaltförmigen Beziehungen bringe und so schließlich Obdachlosigkeit als einer der letzten Auswege aus Gewalt und Missbrauch für die Frauen werde. Die Autorin stellt abschließend heraus, dass die Gründe für Obdachlosigkeit stets in einem vielschichtigen Mangel an Ressourcen und Kapital zu suchen seien, die im Zusammenspiel mit einer
Entrechtungs erfahrung es dem betroffenen Menschen schwer machten, die Situation aus eigener Kraft zu verändern. Der Staat habe, u. a. aufgrund der Wahrnehmung der Obdachlosigkeit als männliches Problem, kaum Antworten auf die Notlage dieser Frauen zu bieten. Südost-Forschungen 72 (2013) 535
Geschichte: seit 1990 Das ungarische Forscherkollektiv um Judit Acsády geht in seinem Beitrag „(De) Valuing Care. Traditional and Alternative Patterns in the Social Construction of Care in Hungary After the Transition“ (119-149) davon aus, dass anhand der Umstände, unter denen „Care Work“ stattfinde, sowie der sozialen Konstruktion von Fürsorge, auch Aussagen über die Geschlechterverhältnisse in einer Gesellschaft zu treffen seien. Gerade in der Forschung zur veränderten Geschlechterrolle in den postsozialistischen Gesellschaften, die aufden materiel len Wohlstand und auf individuelle Freiheiten eingeengt werde, fehle allerdings dieser gesell schaftliche Aspekt. Schließlich wirke sich in Ungarn die postsozialistische Simation besonders stark auf die Vergeschlechdichung von „Care Work“ als weiblicher Arbeit aus. Erstaunlicher weise zeigen die Interviews mit Beschäftigten (weiblichen und männlichen) einen wesentlich flexibleren Geschlechterbegriff, als ihn die ungarische Gesellschaft mehrheitlich vertritt. Slavčo Dimitrov und Katerina Kolozova befassen sich in „Sexualities in Transition: Discourses, Power, and Sexual Minorities in Transitional Macedonia“ (151-181) mit der von Diskriminierung bis hin zu Gewalt bestimmten Situation der LGBT-Community in Makedonien. Die schwierige Nationalstaatsbildung stelle die eine, Transition und Kapitalis mus die andere Seite der sozialen Ursachen dafür dar, dass die männliche Identität, die sich ebenfalls durch die ökonomische Krisensituation bedroht sehe, zur Bastion für eine starke nationale Identität geworden sei. Homosexualität sei
unter diesen Umständen, zumal die männliche Homosexualität erst im Jahr 1996 entkriminalisiert wurde, noch immer weit weg von gesellschaftlicher Akzeptanz. Die Untersuchung selbst widmete sich schließlich den Erfahrungen der LGBT-Community und ihrer Entwicklung einer politischen Identität. Die Autoren stellen schließlich fest, dass die neuen Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher politischer Aktivität, auch eine Ausweitung der homosexuellen Identitäten hin zu LGBTQ einen positiven Effekt auf die Möglichkeiten habe, unterschiedliche politische Strategien anzuwenden und in Makedonien tatsächlich Gehör zu finden. Die Auseinandersetzung mit der im Sozialismus vergessenen feministischen Tradition in Rumänien und ihre Erneuerung unter den Bedingungen der Transition ist das Thema des Forschungsberichtes von Alice Iancu, Oana Bălută, Alina Dragolea und Bogdan Florian „Womens Social Exclusion and Feminisms: Living in Parallel Worlds? The Roma nian Case“ (183-215), der auf den Ergebnissen eines von der ERSTE Stiftung geförderten Projektes aufbaut. Sie beginnen ihren Beitrag mit einer Unterscheidung dreier feministischer Pfade, die während der Transition eingeschlagen wurden: 1. die Wiederentdeckung der ru mänischen feministischen Tradition, 2. den, wie sie es nennen, „contextualizing feminism“, der sich um empirische Forschungen bemühe, und 3. den „room-service“ des EU-Gendermainstreaming, der letztlich an den rumänischen Realitäten vorbeigehe. Auch zur weiteren Argumentation dieser Autorinnen ist anzumerken, dass man die üblichen, meist westlich geprägten Erklärungen für die
postsozialistische Situation nicht einfach zu übernehmen gedenkt. In diesem Sinne ist auch der von ihnen gebrauchte Begriff „Staatsfeminismus“ für die EU-Maßnahmen ein konsequentes Aufbrechen kolonialisierender westlicher Praxis. Marina Blagojević begründet das Forschungsinteresse ihres sehr dichten Beitrags „Single Parents in the Western Balkans: Between Emotions and Market“ (217-247) mit der mangelnden Aufmerksamkeit, sowohl von Forschung als auch von der Politik, die dem Phänomen der Alleinerziehenden in den drei untersuchten Ländern des westlichen Balkans 536 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bislang beschieden war. Festzustellen sei, dass gerade Alleinerziehende (75-80% davon Frauen) besonders von Armut bedroht seien. Hand in Hand gehe dabei die Transformation von Familie mit der gesellschaftlichen Transformation. Widersprüchlichkeiten seien eben falls Teil dieses Prozesses, denn während das Familienleben generell eine Modernisierung durchlaufe, würden die Bedingungen der ökonomischen und politischen Transformation gleichzeitig auch zu einer Retraditionalisierung beitragen. Mangels institutioneller Unter stützung, so schließt die Autorin allerdings, sei nicht die Geschlechterdimension, sondern die der Fürsorge für ihre Kinder, die sowohl alleinerziehenden Vätern als auch Müttern am Herzen liege, das zentrale Problem für die Eltern (246). Der slowakische Beitrag von Zora Bútorová, Jarmila Filadelfiová und Oľga Gyárfašová, „Towards Gender Equality in Slovakia? Women in Civic and Political Life“ (249-281), beschreibt sowohl die Entwicklung des Feminismus als auch die der weiblichen Gleichberechtigung und politischen Partizipation in der Slowakei. Die Transformationszeit stellt sich hier sowohl als Chance für politisches Handeln als auch als Ursache für ihre Be schränkungen dar. Die Autorinnen gehen insbesondere auf das Problem der NGOisierung von Frauenorganisationen ein. Unreflektiert dabei bleibt, dass es sich hierbei nicht nur um ein postsozialistisches Phänomen handelt und auch nicht auf Frauenorganisationen zu beschränken ist. Insbesondere an dieser Stelle hätten die Autorinnen auch über die Erklä rungsmuster der Transitologie hinausgehen
müssen. Aber zu Recht thematisieren sie die Problematik politischer und sozialer Aktivität, die durch EU-Förderungen immer zeitlich und auf etablierte Institutionen begrenzt ist und damit die vielen, durch die Förderung einer vielseitigen zivilgesellschaftlichen Kultur entstandenen Initiativen benachteiligt. Tatiana Zhurzhenko ist mit „Mothering the Nation. Demographie Politics, Gender, and Parenting in Ukraine“ (283-302) die einzige der Beiträgerinnen, die dem politik wissenschaftlichen Feld zuzuordnen ist. Sie geht daher mit ihrer Beschreibung und Kontextualisierung ukrainischer nationalistischer Diskurse, in denen die Frau als Gebärerin eine zentrale Rolle spielt, auch sogleich in medias res. Demographiediskurse werden hier als Staatsdiskurse identifiziert, denn die Fertilität der Frauen sei nicht nur ein Argument der politischen Rechten. Indem das Schicksal des Nationalstaates auf allen politischen Seiten der Familie zugeschrieben wird, werde über den weiblichen Körper symbolisch der „kollektive Körper [der Nation] reproduziert“ (286). In der Ukraine sei gleichzeitig eine widersprüchliche Situation zu finden, die aus der Familie nun ein Klassenproblem werden ließ: arme, kinderreiche Familien seien als Last für den Wohlfahrtsstaat unerwünscht, mit telständische Familien verkörpern und reproduzieren zugleich die gewünschte Norm des „responsible parenting“ (287). Letztlich zeige sich anhand der Familienpolitik vor allem der Unwille der politischen Akteure, für die sozialen Probleme des Staates Verantwortung zu übernehmen — eine Tendenz staatlicher Politik, die sicherlich
in den postsozialistischen Ländern aufgrund des Herunterfahrens sozialistischer Staatlichkeit auf das Nötigste leichter umzusetzen ist, aber auch im westlichen Europa festgestellt werden kann. Das Ziel des Bandes, neue empirische Untersuchung zum Thema in den postsozia listischen Ländern Südost- und Zentraleuropas zusammenzutragen, wird ohne Zweifel mit aktuellen und problemorientierten Themen erfüllt, was sich auch an den zahlreichen Methodenreflexionen zeigt. Zentrales Verdienst des Buches ist es, durchaus dazu beigetraSüdost-Forschungen 72 (2013) 537
Geschichte: seit 1990 gen zu haben, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den einzelnen Ländern die Deutungshoheit über die soziale Realität des Postsozialismus zurückgeholt haben. Gleichzeitig hätte gerade dieses Buch eine Möglichkeit geboten, auch eine Diskussion um europäische sozialwissenschaftliche Diskurse anzuregen. Im wissenschaftlichen Dialog, in dem auch die eigene westliche Position thematisiert wird, hätten sowohl das Paradigma „Gender“ als auch jenes des „Postsozialismus“ mehr reflektiert werden können. Als positiv hervorzuheben ist aus einer feministischen Perspektive, dass durch die Thematisierung von Feminismen und von feministischen Zugängen, wie sie in vielen der Beiträge zu finden ist, eine vollkommene Neutralisierung des Genderbegriffs vermieden wird. Hamburg Brigita Malenica 1 Marina GrŽinić, Analysis of the Exhibition „Gender Check - Femininity and Masculinity in the Art of Eastern Europe“, Museum of Modem Art (MUMOK), Vienna, November 2009/February 2010. 12/2009, unter http://eipcp.net/policies/gtzinic/en/print , 22.1.2013. Anna-Maria Getos, Politische Gewalt auf dem Balkan. Schwerpunkt Terrorismus und Hasskriminalität. Konzepte, Entwicklungen und Analysen. Berlin: Duncker Humblot 2012 (Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und interna tionales Strafrecht. Reihe K: Kriminologische Forschungsberichte, 155). XXII, 330 S., ISBN 978-3-428-13808-1, €35֊ Bei der anzuzeigenden Veröffentlichung handelt es sich um eine disziplinübergreifende Studie, die mit der Methode der „dichten Beschreibung“ (Geertz) auf Fallanalysen
aufbaut. Sie besteht aus 5 Kapiteln sowie einem einleitenden Teil und Anhang nebst Literaturverzeich nis. Die Kapitel heißen: 1) Konzeptuelle Ausgangsüberlegungen; 2) Forschungshypothesen; 3) Forschungsstand; 4) Dichte Beschreibung politischer Gewalt auf dem Balkan; 5) Fazit. Bei den Fallanalysen handelt es sich um aktenkundige Fälle, bei denen das Verfahren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung teils noch im Gange, teils bereits abgeschlossen war. Die Autorin hat mit mehreren Angeklagten bzw. Tätern Interviews durchfuhren können, die die empirische Basis der Studie ausmachen. Aus der einleitenden Übersicht des Forschungsstan des geht hervor, dass die empirische Terrorismusforschung nur ein schmales Segment der sonst überbordenden Publikationen zum Phänomen der Hassgewalt und des Terrorismus bildet. Allerdings hat man den Eindruck, dass die Autorin in immer neuen Anläufen im Wissenschaftsbetrieb dieses wirklich weiten Forschungsfeldes Fuß zu fassen versucht. Es gibt sehr viele interessante Grafiken, Statistiken und Tabellen, deren Relevanz für das The ma man jedoch auch nach mehrmaligem Lesen nicht recht begreift. Für die Rezensentin war der Nexus zwischen der Terrorismusforschung und jener über Hasskriminalität nicht ersichtlich. Zwar treffen die beiden „Hergangsweisen“ in den beschriebenen Fallbeispielen zusammen, aber die Zusammenhänge lassen sich dadurch noch nicht erkennen. Die Relevanz der Ergebnisse des ausufernden Forschungsfeldes für die „Mikroebene“ leuchtet jedenfalls 538 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen nicht auf Anhieb ein. Dass die Autorin ihre Systematik aus dieser Forschung gewonnen hat, erkennt man, aber man wünschte sich eine genauere Beschreibung der Vorgehensweise, die die methodische Verknüpfung klarer ersichtlich machen würde. Dennoch kann man auf einige Ergebnisse verweisen, die für die Forschung auf dem Gebiet Südosteuropas gewinnbringend sein könnten. Da ist zum Beispiel die Unterschei dung zwischen hasskriminellen und terroristischen Gewalttaten oder die Bedeutung von Vergeltung und Rache bei den Gewaltakten in einer Nachkriegsgesellschaft bzw. die ver ständlich ausgearbeiteten Gründe der Differenz zwischen dem ethnisch-nationalistischen und anderen Typen des Terrorismus (59). Klar wird auch die starke Kontextgebundenheit der Gewalt: es sei die „Besonderheit der Hasskriminalität auf dem Balkan“, dass sie sich aus dem „Gewaltkontext“ ergibt (78). Im Zusammenhang mit diversen statistischen Auswertungen terroristischer Zwischenfälle auf dem Balkan zwischen 1969 und 2005 zieht die Autorin den ֊ für den Leser nachvoll ziehbaren - Schluss, „dass die registrierten Vorfälle in direktem Zusammenhang mit den ethnischen Konflikten im ehemaligen Jugoslawien Zusammenhängen“ (125). Dementsprechend ist auch nachvollziehbar, dass die Autorin bei der Konfliktanalyse eine multidisziplinäre Zugangsweise unterschiedlicher soziologischer Forschungsrichtungen wählt und jene theoretischen Ansätze, die die „Konfliktursachen in der menschlichen Natur zu begründen“ (ebd.) versuchen, zurückweist. Der kriminologische Teil der Studie hat mit der Darlegung und Analyse
aktenkundiger Fälle bzw. dem empirischen Erschließen der Problematik durch Interviews mit den Tätern zu tun. Die meisten dieser Fälle sind in der Wiedergabe so stark anonymisiert, dass NichtKriminologen kaum verstehen können, worum es eigentlich geht und deshalb der Argumen tationslinie nur schwer zu folgen vermögen. Die abgeschlossenen Fälle mit rechtskräftigen Urteilen wurden nicht anonymisiert, so auch der recht bekannte Fall der pogromartigen Ausschreitungen in Kosovo 2004, der eingehend geschildert wird. Es kommen dabei wichtige Einzelheiten zu Tage, die für das Verständnis des Geschehens entscheidend sind. Bei den Ergebnissen der Studie überwiegen Negativbefunde: „Die dichte Beschreibung der terroristischen und hasskriminellen Fälle ergab im Vergleich, dass sich auf der Mikro-Ebene die Gewalt der beiden Kriminalitätsphänomene äußerst unterschiedlich manifestiert“ (287). Hinsichtlich der Opferprofile stellt die Autorin fest, dass bei den Verbrechen „die Viktimisierung“ nicht „wegen irgendeiner individuellen, persönlichen oder spezifischen Cha rakteristik der einzelnen Opfer“ (4) erfolgte, aber wenn es um die Täter geht, räumt sie ein: „Die analysierten terroristischen Täter lassen keinerlei allgemeingültige Rückschlüsse zu, was deren genaues persönliches Profil betrifft“ (287). Weiterhin stellt sie fest: „Was die hasskri minellen Täter betrifft, so sind die Angaben aus den Fallanalysen nicht verallgemeinerbar, so dass die Analyse der Sekundärdaten aufgrund mangelnder diesbezüglicher Angaben keinerlei Aussagen zu den Tätereigenschaffen (Alter, Berufstätigkeit usw.),
kriminogenen Prädispositionen, Motiven oder Täterperspektiven erlaubt“ (288). Zum Schluss wird konzidiert, dass die Erhebung von Daten durch empirische Feldfor schung wegen der schwer zugänglichen Einzelfälle wenig fruchtbar ist bzw. „der empirische Gehalt der aktuellen Terrorismusforschung [.] karg ausfällt“ (300). Südost-Forschungen 72 (2013) 539
Geschichte: seit 1990 Die Lektüre dieser Studie ist recht mühsam, dennoch könnte sie für gezielte Fragen im Bereich der Gewaltforschung auf dem Balkan hilfreich sein. Frankfurt/M. Dunja Melčić Iconic Tums. Nation and Religion in Eastern European Cinema since 1989. Hgg. Li bya Berezhnaya/Christian Schmitt. Leiden, Boston: Brill 2013 (Central and Eastern Europe. Regional Perspectives in Global Context, 3). 256 S., ISBN 978-90-04-25277-6, €101,Das verstärkte Interesse am sogenannten „osteuropäischen“ Film innerhalb der letzten Jahre belegt, dass die komplexen Interdependenzen dieses Mediums mit den regionalen und politischen Bedingtheiten ein bislang noch unzureichend erforschtes Feld darstellen. Gerade hier bedarf es einer Gemeinschaftsarbeit von Filmwissenschaftlern und Historikern, um das Dreiecksverhältnis von Film, Politik und Geschichte freizulegen. Eingebettet in ein dichtes Produktionsnetzwerk, an dem unterschiedliche Akteure und Institutionen Be teiligung finden, nimmt das Medium Film von Anbeginn die Rolle eines Doppelagenten an: Einerseits gilt es als sensibler Seismograph gesellschaftlicher Befindlichkeit, der gerade durch seine politisch verstandene Ästhetik Repräsentationsordnungen spiegeln oder kon terkarieren kann; andererseits erkannte man ihm bereits früh das Machtpotenzial zu, durch zirkulierende (Film-) Bilder auf Prozesse der Identitätsbildung einzuwirken. An eben dieser Schnittstelle setzen auch die beiden Herausgeber Liliya Berezhnaya und Christian Schmitt in dem vorliegenden Sammelband an. Initiiert durch die gleichnamige Konferenz, die 2010 von dem
Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der Universität Münster veranstaltet wurde, gehen sie in der Publikation der Frage nach, wie nationale und religiöse Zugehörigkeit im „osteuropäischen“ Kino insbesondere seit dem historischen (wie auch symbolischen) Wendepunkt 1989 verhandelt werden. Vor dem Hintergrund neuer Staatenbildungsprozesse und der ideologischen Ablösung vom Kommunismus liegt der Fokus auf dem beobachteten Anstieg nationalistischer Tendenzen und der verstärkten Instrumentalisierung bzw. dem Bedeutungszuwachs der Religion. Dreh- und Angelpunkt stellen dabei die bereits in den Geschichtswissenschaften eingehend untersuchten Doppel prozesse einer „Sakralisierung der Nation“ sowie einer „Nationalisierung der Religion“ dar, die hier im Spiegel des fiktionalen und dokumentarischen Films beleuchtet werden sollen. Die insgesamt elf Beiträge der Filmwissenschaftler und Historiker verteilen sich auf drei Kapitel. Während es im l.Teil unter „Institutional Powers“ um die strukturalen Ver flechtungen von Orthodoxer Kirche und Staat in Russland geht (mit einer Ausnahme von John-Paul Himkas Untersuchung zum ukrainischen Kino), folgen in den weiteren beiden Kapiteln zu „Sacred and Profane Images“ sowie „Conflict, Trauma, and Memory“ Einblicke in den ungarischen, polnischen, tschechischen und postjugoslawischen Film. Dem Hauptteil vorangestellt ist zuvorderst Hans-Joachim Schlegels ausführlicher Überblick „Religion and Politics in Soviet and Eastern Cinema: A Historical Survey“ (33-63), 540 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen in dem er aus seiner ausgewiesenen Expertise im Gebiet der osteuropäischen Filmwissen schaft schöpft. Anhand des Ausgangsbeispiels von István Szőts Film „Emberek a havason (Men on the Mountain)“ aus dem Jahr 1942, der zugleich von Faschisten als „Kommu nistische Propaganda“ sowie „Religiöse Agitation“ von Seiten der Kommunisten verurteilt wurde, stellt Schlegel schnell die Denkfigur dieser paradoxalen Verflechtung heraus: religiöse Motive wurden von beiden totalitären Regimen als Gefahrenpotenzial betrachtet. Gerade die Rückbesinnung auf die positive Wirkungsmacht der Orthodoxen Kirche unter Stalin dient Schlegel als Ausweis für die struktúráié Nähe zwischen Totalitarismus und orthodoxem Ritualglauben sowie ihrer Ikonographie. Schlegel spannt hier - durchaus im Sinne einer thematischen Einführung — einen großen zeitlichen Bogen von der Avantgardezeit bis hin zum spiritualistischen Film der 1990er Jahre. In einem film- und medienwissenschaftlichen Sinne fruchtbar werden seine Ausführungen insbesondere dann, wenn - wie bei Eisenstein und Vertov geschehen - das religiöse Element einer semiotischen Analyse unterzogen und in eine ästhetische Qualität umgewandelt wird. Ebenso aufschlussreich, wenn auch nur angerissen, ist die Diskussion um jene vielbeschworene transzendentale Spiritualität in den Werken Tarkovsky’s oder des Ungarns BélaTarr. Hier wird deutlich, dass sich die Erfahrung des Religiösen durchaus nicht in der bloßen Evokation religiöser Motive erschöpft, sondern eingeht in die Bildwirkung und -gestaltung. Unter dem 1. Kapitel „Institutional Powers“ wird
Schlegels Vorwegnahme institutioneller Verflechtung schließlich anhand konkreter Fallbeispiele aus der gegenwärtigen Kinopro duktion vertieft. So analysiert unter anderem Natascha Drůbek in ihrem Aufsatz „Russian Film Premiers in 2010/11“ (81-98) anhand zweier konziser Fallstudien die Produktions beziehungen zwischen der russischen Filmindustrie und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Am Beispiel zweier Historienfilme „Pop“ (The Priest) von Vladimir Khotinenko und Nikita Mikhalkovs „Utomlennye solncem“ (Burnt by the Sun) stellt Drůbek sowohl die zeitli che Nähe des Premierendatums mit religiösen Feiertagen als auch die Distributionswege der Filme heraus. Damit gelingt es ihr aufzuzeigen, welchen strukturalen Schritten eine Sakralisierung der nationalen Geschichtsschreibung und -erinnerung in diesem Fall folgt und welche Rolle das Kino im Zuge einer Wiederentdeckung der orthodoxen Identität in Russland spielt. Einen ähnlichen Weg schlägt Liliya Berezhnaya ein, die in „Longing for the Empire: State and Orthodox Church in Russian Religious Films“ (99-120) umgekehrt der Frage nachgeht, inwiefern sich im Genre des Doku-Dramas ein erneuter „imperialer“ und „religiöser“ Turn im russischen Kino auf die historischen und politischen Debatten niederschlägt. Unter dem 2. Kapitel „Sacred and Profane Images“ wird der bisherige Schwerpunkt von Russland verschoben und auf mittel- bzw. südosteuropäische Filmkontexte ausgeweitet. Der Aufsatz von Jan Čulik „The Godless Czechs? Cinema, Religion, and Czech National Identity“ (159-182) beginnt in vielversprechender Abgrenzung zu den
vorangegangenen Texten mit einer Betonung der atheistischen Glaubenshaltung in der tschechischen Be völkerung. Culik verdeutlicht zwar anhand einer reichhaltigen Dichte an filmhistorischem Material die stete kritische Verhandlung religiöser Topoi im tschechischen Film; doch wählt er anstelle einer gezielten Fokussierung einen phänomenologischen Ritt durch die (anti)religiöse, spiritualistische, esoterische und letztlich sogar jüdische Motivgeschichte von den 1950ern bis heute. Die Erwähnung von über 60 Filmtiteln auf knapp 21 Seiten Südost-Forschungen 72 (2013) 541
Geschichte: seit 1990 verunmöglichen letztlich eine differenzierte Erörterung derselben, so dass die Auslassung der strukturalen und ästhetischen Qualität der genannten Filmbeispiele leider zu keinem bleibenden Erkenntniswert fuhrt. Einen erfrischend anderen Ansatz verfolgt Christian Schmitt mit seinem Beitrag „Beyond the Surface, Beneath the Skin“ (183-199), in dem er sich dem ungarischen Experimental-Filmemacher Györgi Pälfi zuwendet. Als Film- und Medienwissenschaftler stellt er zuvorderst die dringlichste und kritischste Frage, vor deren konkreter Beantwor tung sich der Band bislang gescheut hat: „What is a ,religious film'?“ (183). Ausgehend von Paul Schraders Definition des Transzendentalen Stik geht es Schmitt jenseits religiöser Topoi gezielt um die medialen Möglichkeiten des Knos, Immanenz und Transzendenz in Beziehung zu setzen, um das Heilige zu „repräsentieren“. Anhand der beiden Filme Hukkle und Taxidermia untersucht er die transzendentalen Elemente innerhalb einer surrealistischen Ästhetik und stellt die Bedeutsamkeit der Form heraus, mithilfe derer das (Film-) Wunder erst in Erscheinung treten kann. Aus dem letzten Teil des Bandes sei schließlich noch Mirosław Przylipiaks Aufsatz „Memory, National Identity, and the Cross“ (217-236) hervorgehoben, in dem anhand zweier Dokumentarfilme der Regisseurin Ewa Stankiewicz aufschlussreich die gesellschaft liche Spaltung infolge der Verarbeitung der Flugzeugkatastrophe von Smolensk beschrieben wird, bei der unter anderem der Präsident Lech Kaczyński ums Leben kam. Indem Przylipiak die beiden gegenläufigen Diskurse -
den religiös-nationalen und den antiklerikal säkularen - als kennzeichnend für die gegenwärtige Situation Polens herausstellt, gelingt ihm die Skizzierung einer ambivalenten Gesellschaftsrealität, die mit dieser Problematik auch nicht zwangsläufig eine „osteuropäische“ sein muss. Was die Beiträge dieser Publikation insgesamt auszeichnet, ist, dass sie sich dem kom plexen Thema Nation and Religion in Eastern European Cinema stellen und es in der Tat mit (film)historisch fundiertem Anschauungsmaterial füllen. Die einzig zu bemängelnde Schwachstelle ist nur eben jene Verfehlung des eigentlichen Titels: die Behandlung des sog. Iconic bzw. Pictorial Turn, der von den Herausgebern zwar eingangs erwähnt wird, sich als aufschlussreiche Analysekategorie in den Texten (bis auf Schmitt) jedoch kaum widerspie gelt. Anstelle eines Turns wird vielmehr eine historische Kontinuität der national-religiösen Aushandlungsprozesse im Film nachgezeichnet. Zudem verkennt die Konzentration auf religiöse Motive, Narrative und Topoi die ambivalente Rolle des Bildes selbst - das Icon hat den religiösen Kontext schon längst verlassen und bedient sich standessen seiner Semantik. Diskussionswürdig wären daher auch die Funktionsweisen einer selbstbezüglichen und profanisierten Bildsakralität sowie die Rolle des autonomisierten Icon als Machtdispositiv gewesen, das nicht nur instrumentalisierter Spielball offizieller Geschichtsnarrative ist, sondern als eigenständiger Agent Prozesse beobachten, aufdecken und kommentieren kann. So bleibt denn trotz der Expertise der hier versammelten Mikrostudien leider
der Eindruck zurück, das Medium Film liefere bislang lediglich den Vorwand, um das zu diskutieren, was man unter dem „problembehafteten“ Zusammenhang von Nation und Religion im „Eastern European Cinema“ ohnehin zu finden beabsichtigt hat. München 542 Patricia Vidovič Südost- Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Todor Kuljić, Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postju goslawischen Raum. Ins Deutsche übertragen von Margit Jugo unter Mitarbeit von Sonja Vogel. Vorwort von Ulf Brunnbauer. Berlin: Verbrecher Verlag 2010. 220 S., ISBN 978-3-940426-25-3, €28,Die kollektive Erinnerung und der Umgang mit der eigenen Nation in den postjugosla wischen Gesellschaften muss de-emotionalisiert werden. Das ist die zentrale Forderung Todor Kuljićs in seiner 2010 verfassten Gesamtschau über die postjugoslawische Erinne rungskultur. Er zeigt darin auf, dass die derzeit stattfindende Nationalisierung der Nachfol gestaaten weder ein notwendiger, noch ein natürlicher Prozess ist und eine Überwindung der gegenseitigen Ressentiments nicht durch gemeinsames Vergessen, sondern nur durch gemeinsames Erinnern geschehen kann. In seinem Buch analysiert und kritisiert der an der philosophischen Fakultät in Belgrad lehrende Soziologe Kuljić die geschichtspolitischen Bestrebungen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens: Angetrieben von verbissen ethnozentristischen Überzeugungen würde in den neu entstandenen Nationalstaaten die Geschichte neu- oder umgeschrieben — häufig ins ge naue Gegenteil. Damit wolle man ein Narrativ der Nationalhegemonie schaffen, aus der sich die Existenzberechtigung der als ethnisch homogen verstandenen Staaten ableiten lässt. Der Verfasser versucht durch eine vergleichende Gegenüberstellung der Nachfolgestaaten sowohl aus der Eigen- als auch aus der „Feindperspektive“, eine einseitige Darstellung zu vermeiden und zugleich seine eigene
nichtnationalistische Haltung zum Thema deutlich zu machen. Kuljićs Text, dem Untertitel nach ein Essay, gliedert sich in drei große Kapitel mit mehreren Unterkapiteln, die zwar inhaltlich Zusammenhängen, sich aber stilistisch stark unterscheiden. Dass die Kapitel außerdem mehr oder weniger unverbunden nebenein anderstehen, macht es dem Leser zunächst schwer, eine klare Argumentationslinie und Zielsetzung der Abhandlung zu erkennen, wie man es von einem Essay erwartet. Das Buch besteht jedoch zu großen Teilen — wie man aus einer editorischen Notiz am Ende erfahren kann — aus älteren Veröffentlichungen, die hier zusammengestellt und ergänzt wurden. Es wäre für den Leser von Vorteil gewesen, entweder die übernommenen Texte auch als solche erkennbar zu machen oder aber den Text straffer und kohärenter zu komponieren und damit die vielen inhaltlichen Wiederholungen zu vermeiden. Bemerkenswerterweise ist das Buch bisher nur in der - äußerst gelungenen - deutschsprachigen Übersetzung erschienen. Nicht nur durch das wohlwollende Vorwort von Ulf Brunnbauer, sondern auch in mehreren inhaltlichen Passagen nimmt das Buch daher Bezug auf den Diskurs der deutschsprachigen Südosteuropaforschung und richtet sich mit Beispielen und Erläute rungen an ein deutschsprachiges Publikum. Widersprüchlich erscheint hier aber, dass in dem etwas eigenwillig geordneten Literaturverzeichnis nur die serbischen Übersetzungen der für die theoretische Verankerung des Textes zentralen Standardwerke von Hobsbawm, Habermas, Kolstø und Nietzsche aufgeführt sind. Beginnend mit einer Einführung in das
Themenfeld der Erinnerungskultur veranschau licht der Verfasser im ersten Kapitel die Konzepte der „kollektiven Erinnerung“ (nach Aleida und Jan Assmann) und der „Erfindung von Traditionen“ (nach Eric Hobsbawm). Diesen zufolge können Feiertage und Erinnerungsorte von der jeweils herrschenden Gruppe willkürlich gewählt werden, um durch sie eine konventionelle Erzählung einer ErinneSüdost-Forschungen 72 (2013) 543
Geschichte: seit 1990 rungsgemeinschaft zu schaffen. Ritualisiertes Gedenken an Feiertagen setze so quasi eine „Stunde Null“ der Geburt einer Nation fest und periodisiere die historischen Ereignisse retrospektiv. Denkmäler dienen in diesem Sinne der Rechtfertigung territorialer Ansprüche einer autochthonen Nation und liefern als scheinbar unverrückbare Kennzeichnungen „Be weise“ eines historisch begründeten Nationsmythos. Hier folgt er im Groben dem Begriff des „lieu de mémoire“ nach Pierre Nora. Diese theoretischen Ausführungen bezieht Kuljić zunächst auch auf die Geschichtsschreibungen und Erinnerungsorte anderer Nationen. Es scheint ihm am Herzen zu liegen, dem Leser ins Gedächtnis zu rufen, dass die vermeintlich „balkan-spezifische Problematik“ gar nicht so spezifisch ist, sondern Geschichtsrevisionismus überall mit der Schaffung von Nationalstaaten einhergeht. Darauffolgend führt er die in der Geschichtsschreibung im postjugoslawischen Raum immer wiederkehrenden Metaphern und „Mythen“ (nach Pål Kolstø) ein, die von allen Seiten zur Herleitung ethnisch homogener Nationalhegemonien aus der Antike oder dem frühen Mittelalter (anschaulich dargestellt am Beispiel Makedoniens) beschworen werden. Besonders ausführlich geht er auf den „Grenzwächtermythos“ ein und zeigt anhand dessen auch auf, welche Auswirkungen die positiven wie negativen Zuschreibungen von außen (v. a. westeuropäischer Mächte) dabei spielten. Bei dieser Aufreihung der jeweiligen Nationalmythen der postjugoslawischen Staaten kommt der Kosovo auffallend zu kurz — wie er auch in anderen Teilen des Buches
zumeist nur in seiner Rolle für den serbischen Nationalismus auftaucht. Im zweiten Kapitel widmet sich der Verfasser der Erinnerung der sozialistischen Zeit nach dem Zerfall Jugoslawiens und macht deutlich, wie nach den entscheidenden historischen „Bruchstellen“ 1945 und 1989 eine extreme Umdeutung der Geschichte unternommen wur de. In diesem Kapitel zeigt er durch die unermüdliche Benennung der historiographischen „Verfasser“ in Gestalt der neuen, nationalistischen Regierungen besonders klar, wie es in so kurzer Zeit zum Wandel von der sozialistisch begründeten antifaschistischen Ideologie zu einem allseits herrschenden Nationalgeist kommen konnte. Anhand der rhetorischen Figur des Antiantifaschismus leitet er her, wie ähnlich — nur zeitversetzt - die Nationalisierungs prozesse in Kroatien und Serbien verliefen. Mit vielen Beispielen macht er das „Handwerk der Geschichtsumschreibung“ anschaulich. So beschreibt er den „Krieg um Straßennamen“: Innerhalb kürzester Zeit wurden Straßen mehrmals neu benannt, sodass in der Bevölkerung häufig zeitgleich mehrere Bezeichnungen für ein- und dieselbe Straße kursieren. So wurden in Serbien die Städte weitestgehend „ent-Tito-isiert“ und für alle Marschall-Tito-Boulevards neue, nichtkommunistische Bezeichnungen gefunden. Denn die Symbolfigur Tito nimmt natürlich eine wichtige Stellung in der Erinnerungskultur der Nachfolgestaaten ein. Dabei unterscheiden sich die Nationalstaaten stark darin, ob sie ihn und seine historische Rolle rückblickend auf- oder abwerten. In Makedonien und Bosnien-Herzegowina wird er als positive Vaterfigur in
die nationalistische Narration eingebettet, was aber nicht bedeutet, dass man sich dort nicht gleichermaßen ideell vom sozialistischen Jugoslawien distanzie ren würde. Im Vergleich zu anderen Gedanken im Buch wirkt es fast unreflektiert, dass Kuljić in diesem Abschnitt wenig Kritisches über das sozialistische Jugoslawien erwähnt. So multiperspektivisch er auch sonst im Buch schreibt, im Tito-Kapitel lässt der kritische Marxist Kuljić seine Sympathie mit dem sozialistischen Jugoslawien klar erkennen, dessen Dämonisierung durch die nationalistischen Regierungen er als vollkommen unberechtigt 544 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen darstellt. Die Bezeichnung Titos als den „geschickten Staatsmann, der Fehler machte“ ist hier nicht ganz glücklich formuliert. Der darauffolgende thematische Aspekt ist aber wieder scharfsinnig analysiert und ausgewogen dargestellt. Die Diskrepanz zwischen der nationalistischen Verteufelung des multiethnischen Jugoslawien durch die politischen Eliten einerseits und der populären jugonostalgischen Erinnerung wird in der Regel als Widerspruch wahrgenommen. Kuljić aber zeigt, dass diese zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, aber doch eng miteinander verflochten sind. Beide Seiten gehen auf ähnliche Weise selektiv mit der Ver gangenheit um, und so können eben auch solche widersprüchlichen Vergangenheitsbilder in einem Gedächtniskollektiv neben- und miteinander existieren. Denn die Vergangenheit wird nicht durch die Ereignisse an sich zur Geschichte einer Nation oder Erinnerungsge meinschaft, sondern erst durch die retrospektive Bedeutungssetzung und Bewertung der Geschehnisse in der Gegenwart. Diese wiederum ist stets (politisch) motiviert von einem angestrebten zukünftigen Gesellschaftszustand. Dass dieses „Ineinanderwirken von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notwendig ist für die Bildung eines historischen Bewusstseins“, ist der Kerngedanke der ersten beiden Kapitel. Dieser ist kein neuer im Diskurs der Geschichtspolititk. In Kombination mit den vielen und ausführlichen Beispielen macht der Autor damit aber seinen eigenen Standpunkt klar, wie „unnatürlich“ die stattfindende Nationalisierung der Geschichtsschreibung im postjugoslawischen Raum
sei. Darin postuliert Kuljić eine nach seinen Vorstellungen sinn volle und zukunftsförderliche Geschichtspolitik im Bezug auf die Verbrechen der Jugosla wienkriege. Er fordert von allen Bürgerkriegsparteien ein Eingeständnis der eigenen Schuld und die Anerkennung der Opfer der anderen. Hier verdichtet er die von ihm schon vorher mehrfach angeführten Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis und dem Opfertopos. Er zieht Parallelen zum 68er Generationenkonflikt in Deutschland, in dem das Schweigen über das Dritte Reich gebrochen wurde. Ähnliche Impulse müssten gegeben werden, um in den exjugoslawischen Ländern einen Perspektivenwechsel in der kollektiven Erinnerung herbeizuführen und sich damit der diktierten Erinnerungspolitik zu widersetzen. Dabei stellt er die Situation Serbiens als besonders problematisch dar: „Es ist nicht zu erwarten, dass es in Serbien in absehbarer Zeit zu einer Konfrontation mit den begangenen Verbrechen kommen wird“, schreibt Kuljić und nimmt insbesondere die Geschichtswissenschaft und die Studenten in die Pflicht, eine solche kritische Erinnerungskultur zur Vergangenheitsbewäldgung anzustoßen. Ein Ansatz, wie solche Anstöße über die Elite hinaus auch andere Teile der Bevölkerung erreichen können, fehlt aber weitestgehend in seinen Überlegungen. Kuljić fordert zwar die Schaffung eines länderübergreifenden „Museums der Schande des ehemaligen Jugoslawien“. Eine solch institutionalisierte Form von Erinnerungskultur ist jedoch stets abhängig von der Politik. Gibt es auch Wege, auf denen die politische Elite zu umschiffen wäre? Die vielen bereits
bestehenden kulturellen Bewegungen lässt der Autor außer Acht. Neben gemischten Kunst- und Musikfestivals hat sich auch (wieder) eine sehr produktive länderübergreifende Spielfilmszene entfaltet, die die vielen parallelen Probleme aller Gesellschaften in den postjugoslawischen Staaten thematisiert und so auch zur Aufar beitung der Vergangenheit beitragen kann. Südost-Forschungen 72 (2013) 545
Geschichte: seit 1990 Das Buch hat verdientermaßen ein breites und positives Medienecho bekommen, was wahrscheinlich auch der Tatsache zu verdanken ist, dass es als Neuerscheinung auf der Leipziger Buchmesse 2011 präsentiert wurde, als das Gastland Serbien im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Kuljić wird der Komplexität des Themas gerecht, indem er die Problematik facettenreich beleuchtet und dabei stets einen angenehm unpolemischen Ton beibehält. Es bleibt zu wünschen, dass Todor Kuljić dieses Buch auch in Serbien veröffentlichen wird, um damit den dortigen geschichtswissenschaftlichen Diskurs weiter richtungsweisend zu bereichern. Regensburg Marlene Week Perspektiven einer europäischen Erinnerungsgemeinschaft. Nationale Narrative und transnationale Dynamiken seit 1989. Hgg. Wolfgang Stephan Kissel / Ulrike Liebert. Münster, Berlin, Wien: LIT Verlag 2010. 245 S„ ISBN 978-3-643-10964-4, €19,90 Erinnerungskulturen, Gedächtnisorte, Erinnerungslandschaften. Der inflationäre Anstieg dieser und anderer Neologismen im Dunstkreis des Phänomens „Erinnern“ zeugt von dessen als immens wahrgenommener Bedeutung für fast alle kultur- und gesellschaftswissenschaft lichen Fächer. Dass die Publikationen zu Erinnerungskulturen nicht nur nicht abebben, sondern sogar politisch unterstützt werden, beweist auch der vorliegende Sammelband. Dieser ging aus einem europäischen Forschungsprojekt hervor und wurde schließlich am EU-geförderten Jean Monnet Centrum für Europastudien der Universität Bremen durch die dort lehrenden Professoren Wolfgang Stephan Kissel und Ulrike Liebert herausgegeben. Der
in der Einleitung (9-29) formulierte Anspruch der Herausgeber, der oft postulierten, aber kaum empirisch belegbaren „europäischen Erinnerungsgemeinschaft“ auf die Schliche zu kommen, ist zweifelsfrei ambitioniert. Die Autoren des Bandes setzen sich kritisch mit der Ausgangsthese auseinander, dass Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit notwendig zur Herausbildung einer kohärenten Identität seien, die wiederum der EU zur vollständigen Legitimierung noch fehle. Indem sich die Autoren unterschiedlicher geo graphischer und wissenschaftlicher Herkunftsgebiete in ihren einzelnen Beiträgen mit der Vielfalt noch virulenter nationaler Narrative beschäftigen, die innerhalb und am Rande der EU existieren, zeigen sie gleich zwei Probleme auf: Zum einen erinnert man sich in verschie denen Kollektiven teilweise unterschiedlich an die gleichen Begebenheiten, was oft parallel zur Ost-West-Trennung verläuft und die Tauglichkeit des Holocaust als gesamteuropäischen Gründungsmythos in Frage stellt. Zum anderen geht fast jede Nation und gesellschaftliche Gruppe unterschiedlich mit schwierigen, konfliktträchtigen oder gegenläufigen Erinne rungen um. Damit wären laut den Herausgebern die Grenzen einer „von oben“ gewollten Homogenisierung der Erinnerungspraxis zum Zwecke der Identitätsstiftung Umrissen. Solch ein Unterfangen würde momentan zu viele, noch zu gegenläufige Erinnerungen einer teleologischen Geschichtsschreibung von der EU als Endziel opfern. Wie zwischen den 546 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen opponierenden Erzählungen dennoch vermittelt werden kann, soll anhand sich seit 1989 vorsichtig entwickelnder transnationaler Dynamiken, die ihre Energie vor allem aus den institutionellen und normativen Grundlagen der EU zogen, aufgezeigt werden. Dieses einleitend zugrunde gelegte Schema schlägt sich auch im Aufbau des Bandes nieder, der in drei Komplexe zu je vier Beiträgen gegliedert ist und so einen interessanten Bogen vorgibt. Beginnend mit den Erinnerungskulturen und -konflikten im „neuen Osten“ der EU, über eine Reflexion des Umgangs mit Vergangenheit im „alten Westen“ mündet dieser schließlich im Aufgreifen der Anfangsthese, nämlich der Bedeutung, die rechtsstaatlichen Institutionen beim Umgang mit Erinnerungskonflikten und somit für eine europäische Identität zukommt. Der 1. Komplex, „Alte und neue Konstellationen im Osten der EU“, soll zeigen, wie durch den Wegfall des jahrzehntelang verordneten Schweigens neue und alte Erinne rungskonflikte aufbrechen und auch die Beziehungen der postsozialistischen Staaten mit ihren (west)europäischen Nachbarn beeinflussen. Diesem Anspruch wird der Aufsatz von Wolfgang Stephan Kissel gerecht (31-46). Der auf Kulturgeschichte Ost- und Ost mitteleuropas spezialisierte Historiker setzt die postsozialistischen Erinnerungskulturen in einen direkten Zusammenhang mit der EU-Erinnerungspolitik und stellt fest, dass es hinsichtlich der Erinnerung nahezu einen „Wettbewerb“ zwischen Holocaust im Westen und Gulag im Osten gibt. Dieser müsse ausbalanciert werden, indem auch im Westen des Stalinismus gedacht und im Osten die
eigene Rolle im 2. Weltkrieg neu bewertet wird. Wie konfliktträchtig diese Neubewertung sein kann, zeigt der polnische Germanist und Philosoph Karol Sauerland in einem sprunghaften, zu viel Vorwissen voraussetzenden Beitrag über die polnische Erinnerungskultur (47-58), in der jüdisches und polnisches Leid gegeneinander ausgespielt wurden. Bereits die russische Politikwissenschaftlerin Michalina Caleva lässt allerdings die angekündigte In-Bezug-Setzung von Ost und West vermissen (59-70). Zwar zeigt sie, wie die Nichtaufarbeitung des stalinistischen Erbes auch im Russland von heute zu immer totalitäreren Machtstrukturen führt. Statt aber die Rückwirkungen auf die russischen Beziehungen zur EU und den eurasischen Nachbarn zu analysieren, stellt sie lieber fest, dass eine Art Entnazifizierungsprogramm hermüsse, das sie auch sofort bereitstellt - und zwar das angeblich alternativlose ihrer eigenen Partei Jabloko. Dass sie zu viele stichpunktartige Aufzählungen benutzt, worunter Ausdruck und auch Interpunktion leiden, trägt nicht zu einem positiven Gesamtbild ihres Artikels bei. Auch Yvonne Pörzgen (71-89) gelingt es zwar, anhand literarischer Werke aus der exjugoslawischen Region verschiedenste, miteinander konkurrierende und dennoch gleichermaßen erfolglose Iden titätskonstruktionen aufzuzeigen, sie versäumt es aber, eine über den behandelten Raum hinausgehende Perspektive zu geben. Der 2. Komplex, „Transnationale Erinnerungsdynamiken in Westeuropa“, schickt sich an zu beweisen, wie die neuen Dynamiken im Osten der EU auch die vermeintlich zur Ruhe gekommenen
Erinnerungskulturen im Westen wieder aufwühlen. Dass Änderungen von Erinnerungspolitiken und somit -kulturen immer auch von Zusammenhängen au ßerhalb der betroffenen Gesellschaft abhängen, zeigt der amerikanische Germanist David Bathrick anhand von Film- und Literaturanalysen (91-104). So dominierte in Deutschland immer entweder nur die Erinnerung an das eigene Leid oder an die eigene Schuld, ein Südost-Forschungen 72 (2013) 547
Geschichte: seit 1990 vereinender Diskurs zwischen beiden schien hingegen nicht möglich ֊ bis zur veränderten Mächte- und Interessenskonstellation im Europa nach 1989. Wie schon in Polen und Deutschland finden sich auch in Frankreich verschiedene Erinnerungen an die eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg, die bis zu ihrer gegenseitigen Anerkennung und Integration ebenso zähe und langwierige Prozesse durchliefen. Helga Bories-Sawala, spezialisiert auf die Sozialgeschichte Frankreichs, zeigt daran auch die immense Bedeutung des zeitlichen Abstandes für die Neubewertung einer schwierigen Erinnerung (105-126). Letztere spielt auch für den Beitrag der niederländischen Menschenrechtsexpertin Anja Mihr über die späte Aufarbeitung des Franco-Regimes in Spanien eine Rolle (127-144). Zwar wiederholt sie sich häufig, sie bringt aber auch die wichtige Frage nach dem besseren Umgang mit Vergangenheit ins Spiel — durch tätiges Erinnern oder heilendes Vergessen? In Spanien erwies sich ein erstes Abwarten als richtig. Hier konnten die Wunden der Vergangenheit erst aufgearbeitet werden, als mehr als eine Generation nach Franco das demokratische System konsolidiert hatten und die Grundlagen vorhanden waren, um bei der Aufarbeitung rechtsstaatlich vorzugehen und keine neuen Gewalttaten zu provozieren. Ob Reden besser ist als Schweigen und wie man einen ehrlichen, differenzierten Dialog jenseits von leeren Entschuldigungsfloskeln erreichen kann, fragt der Soziologe Zdzisław Krasnodębski in einer nicht westeuropaspezifischen, sondern theoretisch verfassten Abhandlung (145-159). Obwohl der
versprochene Einfluss des „neuen Ostens“ auf den „alten Westen“ also nur im 1. Kapitel des Komplexes eingelöst wurde, beleuchten die Beiträge immerhin zentrale, wiederkehrende Probleme beim Umgang mit Erinnerungskonflikten. Ob demokratische Institutionen eher Voraussetzung oder Resultat umfassender Vergan genheitsbewältigung sind und wirklich neue Formen der zivilen Versöhnung ermöglichen, soll im 3. Komplex, „Demokratie und Recht als Voraussetzung für Versöhnung“, anhand der transitional justice in Mittelost- und Südosteuropa erörtert werden. Am Beispiel der Öffnung der Stasi-Akten im Übergangsprozess der DDR kommt Walter Süss (161182) zu dem Schluss, dass gerade nach umfassenden Menschenrechtsverletzungen die Benennung von Unrecht unumgänglich sei. Dies sieht er auch durch die beunruhigenden Folgen der Nichtaufarbeitung in Russland belegt, die Galeva bereits anriss. Während die DDR nach Süß’ Auffassung durch die Eingliederung in die bestehende BRD erleichterte Bedingungen vorfand, tun sich andere postsozialistischen Länder laut dem ungarischen Rechtswissenschaftler Gábor Halmai erheblich schwerer (183-200). Er beklagt, dass die rechtliche Aufarbeitung in den Ländern Ostmitteleuropas nur schleppend vorangeht wobei er Mihrs Erkenntnisse aus Spanien umdreht und behauptet, die unvollständige Aufarbeitung der Vergangenheit behindere demokratisch konsolidierte Institutionen. Dass seine Untersuchungsländer dennoch nicht in ein autoritäres System zurückfallen, dafür zeichne die EU verantwortlich. Ungewollt liefert die Politikwissenschaftlerin Ulrike Liebert im abschließenden
Beitrag (227-242) Argumente für diese bei Halmai noch recht dogmatisch anmutende These. Ihrer Meinung nach sind Demokratie und Recht ideale, wenn nicht notwendige Prämissen für die zivile Beilegung von Erinnerungskonflikten. Denn eine Gesellschaft, deren Identität durch demokratische Werte geprägt ist, gehe auch mit Konflikten anders um. Mithilfe rechtsstaatlicher Institutionen, die auf demokratischen Normen beruhen, könnten diese Konflikte so effektiv und zivil beigelegt werden, dass wiederum die Verfahren selbst identitär werden. Dementsprechend sei eine europäische 548 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Identität, die auf politisch-demokratischen Zugehörigkeiten beruht, am besten geeignet, Differenzen integrativ auszusöhnen. Dass das normative, internationale Recht neue For men der Vergangenheitsbewältigung eröffnet, zeigen Charlotte Thingholm und Janna Wolff anhand der völkerrechtlichen Anerkennung von Vergewaltigungen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Am Ende des 3. Komplexes bleibt beim Leser der Eindruck, dass eine dezentrale Ge schichtsbearbeitung nach universalen demokratischen Prinzipien die wahre Perspektive der europäischen Erinnerungsgemeinschaft sei. Es handle sich nämlich bei Europa, wie u. a. Krasnodębski vermutet, um keine tatsächlich erfahrene Erlebnis-, sondern um eine Diskursgemeinschaft. Es können und müssen nicht alle dasselbe erlebt haben, und es gibt auch nicht die eine (erst recht nicht deutsche) Blaupause, nach der alle Erinnerungskonflikte abgehandelt werden können. Aber durch das diskursiv weitergegebene Wissen über die Geschichten, Kulturen und Erinnerungskonflikte der anderen sowie über die gemeinsamen, universellen Werte könnten zwischenstaatliche Konflikte von Vornherein entschärft werden. Diese Erkenntnis wird jedoch größtenteils allein aus Einleitung und Schluss ersichtlich, die qualitativ recht unterschiedlichen Kapitel dazwischen sind oft nur Illustrationen der uneinheitlichen Erinnerungslandschaft Europas, die hinter dem Anspruch der Herausgeber Zurückbleiben. So wird zum Beispiel in der Einleitung angedeutet, die einzelnen Autoren würden sich jeweils kritisch auf die von der EU oktroyierte Vergemeinschaftung der Erin
nerungen beziehen. Dies kann man in den meisten Beiträgen aber nur mit gutem Willen und dann höchstens zwischen den Zeilen finden. Auch die versprochene transnationale Komponente muss sich der Leser oft selbst hinzudenken. Der gut angedachte Bogen in der Gliederung spiegelt sich im tatsächlichen Inhalt der Beiträge nur bedingt wider. Die teils zu detailversessenen Beiträge rekurrieren nur begrenzt auf die von den Herausgebern gestellten europäischen Fragen und größeren Zusammenhänge. Liebert malt das Europa der EU in leicht idealisierten Farben und ignoriert dabei leider einige Erkenntnisse ihrer Mitautoren: So bezeichnet sie den Holocaust undifferenziert als „Gründungsmythos“ und übersieht dabei, dass Deutschland nur aus ganz bestimmten Interessenlagen und Macht konstellationen heraus solch eine europäisierte Identität ausgebildet hat, die sie als Vorschlag für alle EU-Nationen einbringt. Man muss ihr aber zugute halten, dass sie in diesem Band die einzige ist, die wirkliche Perspektiven einer EU-Erinnerungsgemeinschaft aufzeigt. Insgesamt handelt es sich also eher um eine Darstellung verschiedener europäischer Erinnerungskulturen, eine Bestandsaufnahme des Status quo in Ost und West, mit vor sichtigen ersten Schritten in Richtung Zukunft im dritten Teil des Buches. Obwohl kein explizites Ziel des Bandes, ist die Behandlung zentraler Aspekte der Erinnerungsforschung durch verschiedene Disziplinen positiv zu erwähnen. Auch die Frage nach Grenzen und Chancen neuartiger, ziviler Formen der Aufarbeitung dank rechtsstaatlicher Verfahren ist m.E. in der bisherigen
Erinnerungsforschung tatsächlich als originell herauszuheben. Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema aus einer wirklich neuen Perspektive fehlen al lerdings der kohärente Europabezug sowie mehr theoretisierende Beiträge im Stil Lieberts und Krasnodębskis. Regensburg Südost-Forschungen 72 (2013) Birte Richardt 549
Geschichte: seit 1990 Demokratie in unsicheren Räumen - demokratische Erwartungen, soziale Realität und Migration in Serbien. Hgg. Dieter Segert / Heinz Fassmann. Wien, Koln, Weimar: Böhlau Verlag2012 (Der Donauraum, 1). 116 S„ ІЗТаЬ., ISBN 978-3-205-79479-0,€9,60 Das von Dieter Segert und Heinz Fassmann herausgegebene 1. Heft des Jahres 2012 von „Der Donauraum“ basiert auf den Ergebnissen des interdisziplinären Forschungspro jektes mit dem Titel „Demokratie in unsicheren sozialen Räumen. Zum Zusammenhang von Migration und Demokratie in Serbien“, das zwischen 2010 und 2012 vom Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Kooperation mit der an der Universität Wien angesiedelten Forschungsplattform „Wiener Osteuropaforum“ und dem Institut für Sozialwissenschaften Belgrad (Institut Društvenih Nauka) durchgeführt worden war. In diesem Forschungsprojekt sollte das „soziale Umfeld“ (8) der Demokratie in Serbien untersucht werden, wobei der Fokus auf die,„Analyse der Wirkung der sozialen Ergebnisse der Transformation auf die Unterstützung der Demokratie“ (18) im Lande gelegt wurde. Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass auch die Emigrations- und Remigrationsbewegungen aus bzw. nach Serbien sowie deren Auswirkungen auf die De mokratie und das politische System in den Blick genommen wurden, zumal diese in der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung vielfach vernachlässigt werden. Die ersten Beiträge des Heftes fassen die Einstellungen und Erwartungen der befragten Serben und Serbinnen an die Demokratie in Serbien zusammen, während sich die nach
folgenden Beiträge mit den Auswirkungen von Migration auf die Demokratie auseinan dersetzen. Bevor den Lesern die Ergebnisse des Forschungsprojektes präsentiert werden, ziehen Segert und Fassmann in ihrem einleitenden Kapitel eine Bilanz der sozioökonomischen Entwicklung in Südosteuropa. Hierfür wählen sie die Transformationsprozesse nach 1989/1990 als Referenzpunkt, um einen Vergleich zwischen den Ländern Ost- und Südosteuropas zu ziehen. Dabei konstatieren die Autoren, dass „die schlechte soziale Lage und der fehlende oder zu langsame wirtschaftliche Aufschwung, die hohe Arbeitslosigkeit und die mangelnde Funktionsfähigkeit der sozialen Sicherungssysteme“ (13) in der Re gion als Gründe für jene Ambivalenz zu werten seien, die die Einstellung der Menschen gegenüber der Demokratie kennzeichnet. Die Beziehung zwischen sozioökonomischer Situation und Demokratieverständnis ist somit eine wesentliche; wünschenswert wäre in diesem Zusammenhang jedoch auch ein Verweis auf die politischen Ereignisse gewesen, die den (post)jugoslawischen Raum in den 1990er Jahren so folgenreich geprägt haben. In der Tat zeichnen die im Rahmen des Forschungsprojektes durchgefuhrte Meinungsum frage und die Fokusgruppenstudie ein ausgesprochen pessimistisches Bild der Einschätzung und Unterstützung von Demokratie seitens der serbischen Bevölkerung. Zwar mag die negative Einstellung der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien, ihren Vertretern und den politischen Institutionen im Lande nur wenige überraschen, die umfangreichen Ergebnisse zeigen dafür umso einprägsamer, wie komplex und
vielschichtig das Verhältnis der Menschen zu Staat und Politik ist. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes und ihre Publikation im vorliegenden Heft stellen somit einen höchst erfreulichen Umstand dar, leisten sie doch einen wesentlichen Beitrag zu den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen der Transition Serbiens. 550 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen In ihrem Text „Was erwarten die Serben von der Demokratie? Interpretation der Resultate einer empirischen Analyse“ (21-44) fasst Jovanka Matic, die als Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften in Belgrad am Forschungsprojekt beteiligt war, die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung zum „sozialen Umfeld“ von Demokratie zusammen und hält fest, dass die schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Umstände, die von den Befragten in Form von Enttäuschung, Unzufriedenheit und Perspektivenlosigkeit artikuliert wurden, „ungünstig für die Verbreitung der universalen Werte demokratischer Ordnungen“ (26) seien. So wären die Erwartungen der Menschen an eine Verbesserung ihrer Lebensbedin gungen, die sie an den Aufbau der Demokratie geknüpft hätten, nicht erfüllt worden (33). Dies habe zu einer tiefgehenden Skepsis gegenüber dem demokratischen Modell und einer geringen Bereitschaft zum zivilgesellschaftlichen Engagement gerührt, sodass Matic Serbien eine „tiefe Legitimitätskrise des politischen Systems“ (41) bescheinigt. Die Verantwortung hierfür sieht Matic abschließend bei den Versäumnissen der politischen Elite seit dem Regimewechsel im Jahr 2000 sowie der externen Akteure - ein Aspekt, der zentral für das Verständnis der festgestellten ambivalenten Beziehung der Serben zur Demokratie ist, an dieser Stelle aber nur kurz angerissen und nicht näher beschrieben wird. Eine nähere Kontextualisierung der Untersuchung erfolgt im Beitrag „Öffentliche und veröffentlichte Meinungen zur Demokratie in Serbien - Diskursive Kontinuitäten und Brüche 2000 bis 2010“ (45-64) von
Silvia Nadjivan, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa tätig ist. Darin analysiert Nadjivan den Diskurs zu den politischen und sozialen Transformationsprozessen seit 2000, wobei sie sich auf diverse quantitative und qualitative Untersuchungen stützt, die von verschiedenen Forschern ab 2001 in Serbien durchgeführt worden waren. Nadjivans zentrales Argument ist, dass der Diskurs zur Demokratie in Serbien nach den politischen Umbrüchen des Jahres 2000 normativ aufgeladen war, „so dass nach dem Regimewechsel an die neue Regierung sehr viele und teilweise auch erhöhte Erwartungen gerichtet wurden“ (45). Mit ihrer Darstellung der Entwicklung des Diskurses gelingt es Nadjivan auf fundierte Weise herauszuarbeiten, wie die Erwartungen der Menschen an einen schnellen Wirtschaftsaufschwung, Wohlstand und EU-Integration diskursiv mit der Legitimität der Regierung und der Bewertung von Demokratie verbunden waren, weshalb sich die Nichterfüllung dieser folglich negativ auf die politische Partizipation und Demokratie auswirkten. Zudem zeigt Nadjivan auf, dass das Ausbleiben einer öffentlichen Aufarbeitung des Milošević-Regimes und der kriegerischen Ereignisse der 1990er Jahre durch den Diskurs rund um den wirtschaftlichen Aufschwung verdeckt blieb. Damit stellt sie gleichzeitig eine Erklärung dafür bereit, wie die Vertreter des alten Regimes sich nicht nur ihrer historischen Verantwortung entziehen, sondern auch die allgemeine Unzufriedenheit über die soziale und wirtschaftliche Lage im Lande dazu nutzen konnten, um 2012 wieder an die Macht
zu gelangen. Die nachfolgenden Beiträge widmen sich der zweiten im Forschungsprojekt formulierten Fragestellung nach den Konsequenzen von Migration für die Demokratie in Serbien. Die Grundlage hierfür bildet eine statistische Erhebung der soziodemographischen Merkmale von Remigranten sowie potentiellen Emigranten, die im Beitrag „Migrationserfahrungen und Migrationspotenzial in Serbien - Demografische Strukturen und regionale Differenzie rungen“ (65-81) von Heinz Fassmann anschaulich dargestellt sind. Dabei wird zunächst Südost-Forschungen 72 (2013) 551
Geschichte: seit 1990 der niedrige Anteil serbischer Remigranten deutlich, womit die serbische Migration viel mehr einen „Endgültigkeitscharakter“ (68) besäße. Gemeinsam mit der geringen Anzahl an Auslandsaufenthalten der Remigranten würde dies, so Fassmann, „gegen die häufig propagierte transnationale Mobilität“ (71) sprechen. Die Einbeziehung der Überlegungen und Erwartungen in die Erhebung, die potentielle Emigranten an einen Auslandsaufenthalt formulieren, belegen zudem das hohe Ausmaß an Unzufriedenheit der Menschen mit den sozioökonomischen Gegebenheiten. Trotz der ausgeprägten Bereitschaft zur Abwanderung zeigt der Beitrag jedoch auch bereits mögliche positive Auswirkungen der Migration für Serbien auf. So würde mit einem Auslandsaufenthalt nicht nur finanzielles Kapital, sondern auch eine „moralische, politische und kulturelle Modernisierung“ (79) Serbiens verbunden. Das Potendal von Migration für die Demokratie in Serbien nehmen Katarina Kujačić und Dieter Segert in ihrem Beitrag „Migration als Ressource für Demokratie? - Ergebnisse einer empirischen Analyse und die Präzisierung der Forschungsfrage“ (83-103) näher in den Blick. Die Fokussierung auf die politischen Auswirkungen von Migration verstehen die Autoren dabei als Aufforderung an die politikwissenschaftliche Demokratieforschung, die den Zusammenhängen zwischen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozessen bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat (102). Dabei müsse das Verständnis von Demokratie erweitert werden, denn für eine politische Handlungsmacht und eine aktive Gestaltung der Demokratie
wäre laut Segert auch eine soziale Absicherung der Bürger not wendig. So weisen die Ergebnisse der durchgeführten Umfrage und Fokusgruppenstudie darauf hin, dass Remigranten mit ihren Erfahrungen als „Übersetzer zwischen den betref fenden Kulturen“ (101) agieren und als solche „besser in der Lage sind, das Potenzial der sich entwickelnden Demokratie in Serbien zu erkennen“ (91). Auch wenn Nedad Memić, der Chefredakteur des österreichischen „Ethno-Magazins“ (115) „Kosmo“, das „Potenzial der Balkan-Diaspora für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung“ (112) ihrer Herkunftsländer im abschließenden Beitrag „Serbische und exjugoslawische Migran ten in Österreich und ihr politisches Potenzial“ (105-112) wieder relativiert und dieses als „ungenutzt“ (ebd.) und auf die beträchtlichen Geldrückflüsse reduziert beschreibt, stellen die hier formulierten Fragen zum Verhältnis von Demokratie und Migration eine höchst begrüßenswerte Erweiterung der Transformationsforschung dar. Der vorliegende Band liefert damit nicht nur grundlegende Daten zum Verständnis und hinsichtlich der Erwar tungen der Menschen an die Demokratie in Serbien, sondern bietet zugleich Perspektiven für zukünftige Forschungen, die etwa auch andere Formen von Mobilität - so zum Beispiel neue Kommunikationstechnologien oder Besuche von Emigranten in ihren Herkunftslän dern - und deren Auswirkung auf die Demokratie in den Blick nehmen. Wien 552 Sabrina Kopf Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Kunstgeschichte, Volkskunde Eleutherios P. AlexakéS, Εθνογραφικό ημερολόγιο [Ethnographisches Tagebuch]. Bd. 1։ Ηπειρος (1981-1983) [Epirus (1981-1983)], Bd. 2: Ορεινή Στερεά Ελλάδα (1984-1991) [In den Bergen von Kontinentalgriechenland (1984-1991)]. Athen: Dodone 2007,2010. 271 u. 565 S., zahir. Abb. u. Kt., ISBN 978-960-385-472-2 u. 978-960-385-602-3, €21,30 u. 31,95 Eleutherios P. Alexakés, Κέα Κυκλάδων. Εθνογραφγικό ημερολόγιο [Auf der Kykladeninsel Kea. Ethnographisches Tagebuch], Bd. 1 (1986-1988), Bd. 2 (1989-1991). Athen: Dodonę 2011, 2012. 490 u. 443 S., zahir. Abb. u. Kt., ISBN 978-960-385-636-8 u. 978-960-385-637-5, €31,95 u. 25,56 Der Redaktor und ehemalige Direktor des Forschungszentrums für Griechische Volks kunde an der Akademie Athen, nun schon in Ruhestand getreten, ist durch seine zahlrei chen Veröffentlichungen sozialanthropologischer Natur zu Familien- und Clanstrukturen in Mani (1980, 1998), zum Brautkauf (1984), zur Hochzeitsfahne (1990), zu Symbolen, Familienstrukturen und Kommunitäten im Balkanraum (2001, 2006), zu den Arvaniten im Raum Attika (1996),1 zu den Vlachen von Metzitie (2009) usw. auch einem interna tionalen Leserpublikum bekannt geworden.2 Vor etlichen Jahren hat er begonnen, seine Feldforschungsaufzeichnungen in Tagebuchform zu veröffentlichen. Der 1. Band dieser persönlichen Notizen hat ein gewisses begrenztes Echo ausgelöst,3 da diese z.T. trockenen, z. T. reflexiven Notizen zwar einen Usus der internationalen Ethnologie und Sozialanthro pologie darstellen, in der griechischen Volkskunde jedoch eher selten sind. Eine
gewisse Monotonie haftet den akribischen Angaben zur Zeit des Erwachens und Schlafengehens, zu Einkehrmöglichkeiten und Preisverhältnissen beim Übernachten, Verkehrsverbindun gen und Autobusfahrten sicherlich an, auf der anderen Seite lassen die mit Karten und Fotografien versehenen Wanderungen den Leser gleichsam mitgehen. Der 2. Band der Forschungsfahrten ins Bergland von Kontinentalgriechenland ist ganz ähnlich aufgebaut und enthält insgesamt acht solcher dreiwöchigen professionellen Sommerreisen. Wesentlich anders sehen die beiden Bände zur Kykladeninsel Kea bei Attika aus, wo das Ziel der Untersuchung nicht die großräumige und flächendeckende Untersuchung patrilinearer erweiterter Familienformen gewesen ist (neben den Sammelvorgaben für Feldforschungen der Akademie Athen), sondern eine insgesamt sechsjährige fokussierte Feldforschung von insgesamt etwa sechs Monaten Gesamtdauer auf einem beschränkten Raum. Nach Maßgabe der Tatsache, dass die Familienstrukturen auf den Kykladeninseln nur noch Reste einer patrilinearen Erbfolge aufweisen, steht hier im Zentrum des Interesses die parallele geschlechterspezifische Erbfolge von Söhnen und Töchtern, die sich in der Namensgebung nach dem Großvater bzw. der Großmutter äußert, sowie die matrilokalen Ehepraktiken durch die Mitgift der Tochter (Haus bzw. Wohnung als Aussteuer). Vor allem im 2. Band dieser case study dominieren allerdings neben den Heiligenfesten, Schweine schlachtungen, Schulfeiern usw. die politisch-aktuellen Themen wie Wahlkampf, Reden der Abgeordneten, Parteiplakate, Meinungen der Leute,
Kaffeehausdiskussionen, Fanatismen usw. Auch hier ist neben der einfühlenden Beobachtung und den persönlichen Kontakten das Archivstudium der Lokalbehörden ausschlaggebend sowie organisierte Interviews mit Südost-Forschungen 72 (2013) 553
Kunstgeschichte, Volkskunde Fragebögen, autobiographische Erzählungen und Familiengenealogien, Arbeitskalender der Frauen usw. Alexakis vermerkt, dass er diese Feldstudien auf Kea außerhalb seiner Feldforschungs-Verpflichtungen am ehemaligen Volkskunde-Archiv der Akademie Athen und ohne jegliche finanzielle Hilfe durchgeführt habe; sonst wären ihm diese mehrmonati gen Aufenthalte auf der Insel gar nicht möglich gewesen. Wie schon bei den beiden ersten Bänden, umfassen seine Aufzeichnungen auch Persönliches und Familiäres. Wer die Geduld aufgebracht hat, die insgesamt 2 000 Seiten der Tagebuchaufzeichnungen von Anfang bis zum Ende durchzulesen, wird sicherlich die Ausdauer und das Pflichtbe wusstsein ihres Autors bewundern, sich aber auch die Frage stellen, bis zu welchem Grad es sinnvoll ist, die Erlebnisse und Gedanken eines Feldforschers, vor allem wenn sie sich in der bekannten Welt des heutigen politischen Alltags in der Provinz bewegen, in extenso zu veröffentlichen. Führten die ersten beiden Bände noch in eine Welt mit gravierenden Unterschieden, wenn auch hier schon im Umbruch, zum gängigen mediterran-balkanischen Zivilisationsprofil des späten 20. Jh.s, so entbehren die letzten beiden Bände doch auf weitgehenden Strecken eines tiefergehenden Interesses für jeden Insider, der das politische Treiben der letzten Jahrzehnte beobachtet und miterlebt hat. Insofern hätten vielleicht Auszüge aus diesen Tagebüchern genügt, oder es wäre an eine elektronische Form der Veröffentlichung zu denken gewesen. Dies schmälert freilich keineswegs die Signifikanz und Nützlichkeit
solcher Vorformen wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die dann die Ergebnisse in komprimierter Form und unter Abzug des persönlichen Erlebniswertes pu blizieren. Es bleibt in jedem Fall das Verdienst des Autors, für diese Form veröffentlichter Tagebucheintragungen der Feldforschung in Griechenland den Anfang gemacht zu haben. Athen, Wien Walter Puchner 1 Unter dem Titel: Die Kinder des Schweigens. Wien, Köln, Weimar 2008. 2 Vgl. meine Rezensionen in Südost-Forschungen 40 (1981), 526£; 45 (1986), 539-542; 58 (1999), 500-502; 68 (2009), 723-725; Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLV/94 (1991), 436-439. 3 Vgl. die Rezension von Thede Kahl, Zeitschriftfür Balkanologie Ab (2009), H. 1, 123-126. Menas Al. Alexiades, Εντυπα μέσα επικοινωνίας και λαϊκός πολιτισμός. Νεωτερικά λαο- γραφικά [Druckmedien der Kommunikation und Volkskultur. Moderne volkskundliche Themen], Athen: A.Kardamitsa Ekdoseis 2011. 246 S., zahir. Abb., ISBN 978-960354-284-1, €21,30 Mit dem Adjektiv „modern“ des Untertitels ist nicht die philosophisch-historische Moder ne zwischen Vormoderne und Postmoderne (ca. 1600-1950) gemeint, die als neuer Begriff für die Neuzeit das wissenschaftlich-rationale Weltbild umfasst, auch nicht der Modernismus der ästhetischen und stilistischen ,,-ismen“ nach 1880 bis zur Zwischenkriegszeit, der in seiner Gegensätzlichkeit die Künste und die Literatur prägt und als klassische Avantgarde das Ausgangsfundament für die mannigfachen Entwicklungen im 20. Jh. bildet, sondern ein 554 Südosr-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen semantisches Spektrum, das die zeitgenössische oder Gegenwartsvolkskunde anpeilt und als Kontrapunkt zur traditionellen Volkskunde aufzufassen ist. Das Buch bildet gewissermaßen eine spezifizierende Fortsetzung des vorausgegangenen Sammelbandes ,,Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία“ von 20061 und ist auf die Druckmedien (Zeitungen, Postkarten, Broschüren) und ihren Gebrauch von Elementen der traditionellen Volkskultur fokussiert. Es handelt sich durchwegs um Studien, die im Zeitraum zwischen 2008 und 2010 entstanden und zum Großteil schon veröffentlicht sind. Der Quellenbereich, in dem sich Alexiadis bewegt, ist vorwiegend die Athener Presse der letzten beiden Jahrzehnte, nur im letzten Kapitel wendet sich der Autor seiner Heimatinsel Karpathos in der Dodekanes zu, der er schon viele Studien, Monographien und Sammelbände gewidmet hat.2 Das 1. Kapitel behandelt Märchen und Aktualität (17-51). Märchensammlungen sind nach wie vor ein Verkaufsschlager - von 1985 bis 2007 sind allein 50 neue Märchensamm lungen im griechischen Buchhandel erschienen. Die Märchenstudien machen einen erklecklichen Teil der volkskundlichen Bibliographie aus, bedienen sich aber auch vieler anderer Methoden, neben regionalgeographischen auch pädagogischer, psychoanalytischer, performativer, typen- und motivanalytischer, narratologischer Methoden (im Zeitraum von 1980 bis 2007 sind selbständige 35 Studienpublikationen vorgenommen worden), Typenkatalogen (von ATU 1 bis 750 ist der griechische Märchenkatalog nun komplett)3 sowie theoretischer Studien und Einführungen.4 Märchen als Thema in Bezug auf
Zeitun gen umfasst nicht nur Reportagen aus der Märchenforschung oder Jubiläen der Brüder Grimm und von H. C. Andersen, sondern auch Märchenstoffe im Kindertheater und im Film, Artikel über professionelle Märchenerzähler, die Anzeige neuer Märchensammlungen sowie Artikel bezüglich der überzeitlichen Funktion solcher Narrative (z. B. die Analyse der Kongressakten „Vom Märchen zu den Comics“). Das Kapitel ist mit zahlreichen Zei tungsausschnitten illustriert. Das 2. Kapitel, „Sprichwörter und Sentenzen griechischen Politiker mit Beispielen aus der Athener Presse“ (53-81), ist den Studien von Wolfgang Mieder zum Sprichwortgebrauch in der Politik nachempfunden5 und quasi eine Fortsetzung seines eigenen Artikels zum Sprich wort in den Zeitungen.6 Das Kapitel beginnt mit Beispielen, wie das Politikerwort selbst zum Sprichwort werden kann. Das ausgewertete Textkonvolut umfasst 129 Zeitungstexte von Politikerreden, in denen Sprichwörter zu paränetischen Zwecken gebraucht wurden, beratende Funktion hatten, Anklagen darstellten, inadäquate Reaktionsweisen anprangerten, ökonomischen Inhalts waren oder pessimistische Prognosen stellten bzw. zur Selbstvertei digung gebraucht wurden. Zu diesem Zweck wurden auch altgriechische Sentenzen und Apophthegmen verwendet, gelehrtsprachige Redewendungen sowie Bibelsprichwörter. Das Kapitel beschließen 5 Beispieltexte, ein Katalog der verwendeten Sprichwörter in al phabetischer Reihenfolge sowie eine Liste der Politiker, die auf den Fundus des stehenden Sprechgutes zurückgegriffen haben. Kapitel 3 ist den Antisprichwörtern in den Athener
Zeitungen gewidmet (83-124). Auch hier standen Wolfgang Mieders bahnbrechende Studien bei der Problemerfassung Pate.7 Aus dem Zeitraum 2005-2010 sind insgesamt 140 anti-proverbs erfasst. Der Hauptteil des Kapitels besteht aus einer Auflistung der einschlägigen Sprichwörter und ihrem unkonventi onellen, abweichenden und „falschen“ Gebrauch, der allerdings die allgemeine Kenntnis der Südost-Forschungen 72 (2013) 555
Kunstgeschichte, Volkskunde Redewendung voraussetzt, um Humor, Wortspiel, Satire und Parodie würdigen zu können. Die Statistik verzeichnet bis zu 21 verschiedene Anwendungen des gleichen Sprichworts aus einem Sample von insgesamt 59 stehenden Redewendungen; ein Appendix bringt Abbildungen der einschlägigen Zeitungsausschnitte. Das 4. Kapitel wendet sich einem anderen Thema und einem anderen Medium zu: Traditionelle Berufe auf alten Postkarten und Fotografien (125-149), ebenfalls ein Zweig der griechischen Volkskunde, der in den letzten Jahren einen gewissen Boom verzeichnen kann; hier bildet der Bildteil die Quintessenz der Studie. Zu sehen sind Schuhputzer, Ma ronibrater, Gemüsehändler, Orangenverkäufer, Flickmacher, Salepi-Verkäufer, Korbmacher, Kräuterweiber, Scheren- und Messerschleifer, Vogelfänger, Limonadeverkäufer, Holzfäller, Stoffhändler, Tanzbärenführer, Melonenverkäufer usw. Das 5. Kapitel ist den Auswanderern der Insel Karpathos und ihrer Selbstdarstellung in Vereinen und Broschüren gewidmet (151-189), vor allem aus dem isolierten Bergdorf Olympos im Norden der Insel, das bis vor Kurzem nur vom Meer her erreichbar war. Das oft seit dem Beginn des 20. Jh.s bestehende bezügliche Vereinswesen ist vor allem in Amerika (New York, Baltimore, Washington D. C., Chicago, Pittsburgh, Florida) nachzuweisen, die einschlägigen Broschüren bringen meist in anekdotischer Form Kapitel der traditionellen Volkskultur, zusammen mit improvisierten gereimten Zweizeilern, für die die DodekanesInsel berühmt ist, und alte Fotografien von Hochzeiten, Kirchweihfesten und dergleichen.
Darüber hinaus gibt es auch wissenschaftliche Bücher von Inselbewohnern über ihre Hei matinsel sowie Studien über die ausgewanderten Karpather in Amerika und Australien.8 Der Studienband endet mit einer Liste der Erstveröffentlichungen (193), den „English summaries“ der Einzelkapitel (195-197), einem bibliographischen Führer (199-214), den ikonographischen Nachweisen (217-219) sowie einem Generalindex (221-238) und einem Curriculum des Verfassers (239-243). Athen, Wien Walter Puchner 1 Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία. Συναγωγή μελετών. Athen 2006; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 798-800. 2 Vgl. meine Anzeigen in Österreichische Zeitschriftfür Volkskunde 89 (1986), 379f; 104 (2001), 384f.; 105 (2002), 481-483; 107 (2004), 285-287. 3 Vgl. Walter Puchner, Der griechische Märchenkatalog von Georgios Megas. Zur Geschichte und Bedeutung eines unvollendeten Projekts, in: ders., Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009, 603-620. 4 Chrisula Hatzitaki-Kapsomenu / Giorgos M. Parasoglu, Το νεοελληνικό λαϊκό παραμύθι. Thessaloniki 2002, und meine Anzeige in Fabula 48 (2007), H. 3-4, 345f. 5 Wolfgang Mieder, The Politics of Proverbs. From Traditional Wisdom to Proverbial Stereotype. Madison/WI 1997; ders., Proverbs are the Best Policy. Folk Wisdom andAmerican Policy. Logan/UT 2005; ders., „Yes We Can“. Barack Obamas Rhetoric. New York u. a. 2009; dazu ergänzend ders., „There Is Always a Better Tomorrow“. Proverbial Rhetoric in Inaugural Addresses by American Presi dents During the Second Half of the Twentieth
Century, Narodna Umjetnosti (2001),H. 1,153-172. 6 Νεωτερική Ελληνική Λαογραφία, 93-112, hier folgend der umfangreichen Studie von Wolf gang Mieder, A Proverb is Worth a Thousand Words. Folk Wisdom in the Modern Mass Media, Proverbiami2 (2005), 167-233. 556 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 7 Ders., Antisprichwörter. 3 Bde. Wiesbaden 1982-1989; ders., Verdrehte Weisheiten. Anti sprichwörter aus Literatur und Medien. Heidelberg 1998; ders. / AnnaTóthné-Litovkina, Twisted Wisdom. Modern Anti-Proverbs. Berlington/VT 1999. 8 Anna Caraveli, The Symbolic Village. Community Born
in Performance, Journal ofAmerican Folklore 98 (1985), Nr. 389, 259-286; Pavlos Kavouras, Glendi and Xenitia. The Poetics of Exile in Rural Greece (Olymbos, Karpathos). Ann Arbor/MI 1990; Vasiliki Chrysanthopulu, Ο τόπος της πατρίδας στο λόγο και στις εθιμικές τελετουργίες των Καρπαθίων της
Κάμπερρας Αυστραλί ας, in; Minas A. Alexiadis (Hg.), Κάρπαθος και Λαογραφία. Γ ' Διεθνές Συνέδριο Καρπαθιακής Λαογραφίας. Athen 2008, 1027-1074. Πρακτικά Πανελληνίου Συνεδρίου „1909-2009: 100 Χρόνια Ελληνική Λαογραφίας“, Πανεπιστήμιο Αθηνών, 11-13 Μαρτίου 2009 [Akten des panhellenischen Kongresses
„1909-2009: 100 Jahre Griechische Volkskunde“, Universität Athen, 11.-13.3.2009]. Πρακτικά ημερίδας „H έρευνα των λαϊκών διηγήσεων στον ελληνικό και τον διεθνή χώρο“ [Tagungsprotokoll „Die Erforschung der Volkserzählungen im griechischen und inter nationalen Raum“]. Hgg. Menas Al. Alexiadés /
Geörgios Ch.KuzAS. Λαογραφία 42 (2010-2012). Athen; 2013. 1096 S„ zahir. Abb., ISSN 1010-7266 Die Hundertjahrfeier der Griechischen Volkskundlichen Gesellschaft wurde mit einem mehrtägigen Großkongress begangen; dem voluminösen Band des traditionsreichen Periodikums der Gelehrten-Gesellschaft wurde
gleich auch der Aktenband einer Tagung zur Volkserzählforschung einverleibt. Die letzten Bände der Laografía
haben erstaunliches Ausmaß angenommen (Bd. 40, 2004-06, 1161 S.; Bd. 41, 2007-09, 1194 S.), was mit der prekären finanziellen Situation der griechischen Folklore-Society in Zusammenhang steht, die einjährliches Erscheinen nicht mehr erlaubt. Nach dem Kongressprogramm und den GrußWorten setzen die z.T. umfangreichen Referate alphabetisch geordnet ein. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von G. Saunier zur Farbsymbolik in den Volksliedern (33-60) — Farben des Lebens, der Freude und Schönheit: rot, schwarz, weiß, grün; Farben des Todes, des Unglücks und der Häßlichkeit: schwarz, gelb, grün, rot; Farbdynamik, Farbserien als böses Omen, Bedeutungsambiguität der Far ben -, der den übrigen Referaten vorangestellt ist. Es folgt Eleftherios P. Alexakis zu den Beziehungen zwischen Volkskunde und Anthropologie in Griechenland (61-82), Minas А. Alexiadis zu den volkskundlichen Studien in Griechenland in der Phase von 1907 bis 1947 (83-92), V. D. Anagnostopulos zur Umbenennung des Lehrstuhls der Thessalischen Universität von „Volkskunde“ auf „Sozialanthropologie“ (93-112), Manolis G. Varv unis zu den universitären Volkskundearchiven (113-128), St.VATUGiu zu den Beziehungen zwischen Volkskunde und Film (129-144), G. Vozikaš zur Relation zwischen Volkskun de und Literaturroman im Lichte der allgemeinen Beziehungen zwischen Wissenschaft, Kunst und bürgerlicher Kultur (145-170), M. Vrelli-Zachu zur Lehre der Volkskunde an der Universität Ioannina 1964-2009 (171-192), gefolgt von E. I. Vrynioti zur Volks liedsammlung „Ekloges“ von Nik. Politis (1914), eine Arbeit, die besonderes Interesse
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Kunstgeschichte, Volkskunde beanspruchen darf, als die von Giannis Apostolakis formulierte Kritik an der Sammlung (1929), die durch Jahrzehnte hindurch nachgeschrieben wurde, dass Politis wesentliche Eingriffe durch Versionenkombinationen vorgenommen habe, anhand der Quellen falsi fiziert wird; der Prozentsatz der Eingriffe ist als minimal einzuschätzen, was anhand von Tabellen nachgewiesen wird (193-212). Die Reihe der Referate setzt A.-I. Weel-Badieraki mit einer Übersicht über die Volks kunst-Lehre 1969-2008 (213-216) fort, D. Damianu über die pädagogischen Dimensionen der Volkskunde und ihrer Lehre im Erziehungswesen (217-230), A. N. Dulaveras beschäf tigt sich in einem umfangreichen Artikel mit den Beziehungen zwischen Volkskunde und Literatur und liefert eine ausführliche Übersichtsbibliographie (231-284), Chr. Zeritis referiert über Eingriffe der Volkskunde in die Alltagsaktualität (285-300), M. Zografu beschäftigt sich mit der Tanzvolkskunde (301-314). Mit der Kritik von Apostolakis an der einflussreichen Volksliedsammlung von Politis 1914 setzt sich auch G. LThanopulos auseinander (315-314), während M. Theocharj-Petrulea auf die Volkskultur-Elemente in der nachbyzantinischen Ikonographie im messenischen Mani eingeht (329-372, mit 61 Abb.). Die Völkerpsychologie von W. Wundt in Beziehung zur damaligen Volkskunde interessiert R. Kakampura (373-390), der Folklore-Brauch der heutigen Liebes-Schlösser M. Kaplanoglu (391-406), E. Karamanes berichtet über die Möglichkeiten digitaler Erfassung volkskundlicher Daten (407-422), N. X. Karpuzis referiert über die histo
rischen Methoden der Stadtvolkskunde (423-448), G. K. Katsadoros untersucht die Rezeptionskapazität der Zeitschrift „Laografía“ bezüglich der heutigen Humanwissenschaf ten (449-450). Ein Kapitel aus der Geschichte der griechischen Volkskunde beschäftigt D. Th. Katsaris: die Auseinandersetzung zwischen Konstantinos Kontos und Nikolaos Politis an der Philosophischen Fakultät der Universität Athen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jh.s (459-478). Die im 20. Jh. zunehmende Kongruenz zwischen Stadt und Land nimmt K. D. Kontaxis unter dem Titel „Bürgerliches Dorf und ländliche Stadt“ unter die Lupe (479-494), die griechische Volkskunstforschung des 20. Jh.s stellt K. Korre-Zografu vor (495-504). Mit den fliegenden Märkten der Urbanzentren setzt sich G. Ch. Kuzas in einer umfangreichen und systematischen Studie auseinander (505-558, mehrere Abb.), während P. Kopsida-Vrettu einen diachronischen Überblick über die griechische Gast ronomie seit dem Altertum bietet (559-582). A. Lydaki stellt die qualitativen Methoden volkskundlicher Feldforschung vor (583-606), M. Manikaru geht auf die volkskundlichen Beiträge in den Literaturzeitschriften Rumeliens im Zeitraum 1950-1967 ein (607-630), der Regionalismus in den Gebirgszonen des Epirus beschäftigt K. Margonis (631-638), die Rolle der Ästhetik und die Kontinuität der Volkskunde M. G. Meraklis (639-646), die mangelnde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Gefühlen in der Volkskunde moniert G. V. Michail (647-656); dem Erziehungswesen und den Schulbüchern wendet sich D. Benekos zu (657-672), den Identitätsproblemen der
albanophonen Arvaniten in Griechenland A. Oikonomu (673-693, ausführliche Bibliographie); darauf folgt die Dokumentation der Wahl von Richard Dawkins zum Ehrenmitglied der griechischen Volkskundlichen Gesellschaft 1909 von A. E. Papakyparissis (694-718), während sich Chr. Papakostas der Tanzfolklore zuwendet (719-730); Lehre und Feldforschung in der Volkskunde interessieren A. Papamichail-Kutruba (731-760), Methoden der Erforschung 558 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen der Oralität nimmt sich M. Papachristoforu vor (761-778), die anthropologischen Di mensionen in den Volksglaubensvorstellungen untersucht stichprobenartig N. L. Perpatari (779-788), I. Põlemis das Synaxar des Hl. Thomas (789-792), die „innere Landschaft“ der Bewohner eines epirotischen Bergdorfes P. Patiropulos (793-818). Walter Puchner setzt sich mit dem Begriff der staged authenticity auseinander (819-830), D. E. Raptis mit der Beziehung von Volkskunde und Mythologie (831-852), G. A. Rigatos mit der Volks medizin (853-862); methodische Fragen der Tanzvolkskunde interessieren K. Sachinidis (863-868), die soundscapes von Athen Ende des 19. Jh. im Literaturwerk von Michael Mitsakis M. G. Sergis (869-923), eine überaus interessante und umfangreiche Studie. Den Jubiläumsband beschließen V. Chrysanthopulu mit einer umfangreichen Studie zur Volkskunde der Auswanderung und der Diaspora (925-968) und K. Chrysu-Karatza zur Speise als Kulmrphänomen im hellenophonen Raum (969-999). Manche dieser Studien sind überaus umfangreich und gehaltvoll, andere eher eine Geste der Ehrerbietung für eine der ältesten wissenschaftlichen Gesellschaften in Griechenland. Eine gewisse thematische Strukturierung wäre auch hier von einigem Vorteil gewesen. Das Tagungsprotokoll zur Volkserzählforschung (23.11.2009) umfasst drei Beiträge; G. VbziKAS spricht über das Phänomen der Umsiedlung innerhalb der Stadt und die bezügli chen Erinnerungserzählungen (1001-1046, mit drei Narrativen), R. Kakampura referiert über das autobiographische Erzählen in der internationalen Bibliographie
(1047-1060) und Katsadoros über die begriffliche Dynamik der Narration (1061-1071), ein analytischer Kongressbericht der ISFNR 2009 in Athen. Der Band schließt mit den English summaries (1073-1096). Athen, Wien Walter Puchner Evangelos G. Avdikos, Παιδική ηλικία και διαβατήριες τελετές [Kindesalter und Über gangsriten]. Athen: Pedio 2012. 527 S., einige Abb., ISBN 978-960-546-071-6, €29,90 Ders., Σέσκλο Μαγνησίας. Οικονομικές, κοινωνικές και πολιτισμικές αντιθέσεις και αλλαγές [Das Dorf Sesklo im Bezirk Magnesia, Thessalien. Wirtschaftliche, soziale und kultu relle Gegensätze und Änderungen], Volos: Edition der Gemeinde Aisonia 2010. 352 S., zahlreiche Abb., Statistiken und Tabellen, 1 Karte, ISBN 978-960-99638-0-0, €10,Der Autor dieser beiden Monographien, Professor für Sozialanthropologie und Volks kunde an der Universität Thessalien in Volos, ist dem Leser der SOF kein Unbekannter.1 Neben Dorf- und Stadtmonographien hat er auch Studien zu Erzählformen von Märchen bis hin zu Comics vorgelegt sowie Thematiken einer spezifisch bürgerlichen Volkskun de, wie den Übergang von der traditionellen Heiratsvermittlerin zum Anzeigenbüro für Kontaktsuchende. Einen solchen Übergang versucht der Verfasser auch in seiner ersten Monographie zu dokumentieren, die in etwas anderer Form bereits zuvor erschienen ist.2 Neu sind, außer einigen Zusätzen und Ergänzungen, im Wesentlichen nur die Einleitung Südost-Forschungen 72 (2013) 559
Kunstgeschichte, Volkskunde (13-29) und der Schluss (463-467), wo pointiert auf die heutigen Änderungen hingewie sen wird und die neuere griechische und internationale Bibliographie zur Welt des Kindes besprochen wird (die bibliographischen Abkürzungen sind nicht alle in die Bibliographie am Ende des Bandes eingeflossen). Auch der theoretische und methodische Rahmen erfährt insofern eine gewisse Verschiebung, als nun vor allem die Ubergangsriten der Sozialisierung in den Vordergrund treten, die schon mit der Hochzeit und dem zu erwartenden Kinder segen beginnen, und sich dann über Schwangerschaft, Geburt, Taufe, Kinderspiel bis in das Pubertätsalter hineinziehen. Die Welt des Kindes war nicht immer eine Domäne von Volkskunde, Ethnologie und Kulturanthropologie, doch hat sich auch dies gegen Ende des 20. Jh.s geändert; dennoch fuhren die Tendenzen der Pädagogie und Spielzeugindus trie nicht immer zu einem wirklichen Verständnis der so ganz anderen Welt des Kindes (wobei natürlich die Altersstufen zu unterscheiden sind). Die griechische Volkskunde hat sich eigentlich von Beginn an in nahezu systematischer Weise um den Kosmos des Kindes in der Volkskultur gekümmert, was vielleicht mit einer speziellen Kulturkonstellation des späten 19. Jh. zusammenhängt, in der die Kinderliteratur und die Kinderperiodika einen bedeutenden Platz in der gesamten Kulturaktivität eingenommen haben. Der theoretisch methodologische Rahmen der Arbeit bewegt sich in den Gleisen von van Gennep’s rites de passages und ihrer Anwendung für die griechische Sozialanthropologie durch Th. Paradellis.3 All
dies ist nun im neuen Vorwort zu lesen, auf welches das 1. Kapitel folgt (31-78), in dem das Begriffsinstrumentarium zur Debatte steht, ein kritischer Literaturbericht zum Stand der Kindesforschung in den Kulturwissenschaften gegeben, die spezielle griechische Situation erläutert und eine Trennung nach Altersstufen vorgenommen wird. Das 2. Kapitel wendet sich dann dem eigentlichen Geburtsvorgang zu (79-194), unter dem Aspekt der sozialen Geburt, in die auch das Elternpaar mit einbezogen ist: Kindeserwartung, Kinder losigkeit und Riten ihrer Überwindung (traditionell und modern), Schwangerschaft und biologische Geburt, die Dämonologie des Geburtsvorganges als projizierte Personifikationen von Ängsten und reellen Gefahren des Kindbetts für das Neugeborene und die Mutter, die Hebamme, der Brauch der couvade (Vater im Wochenbett), Formen der symbolischen (Wieder-) Geburt sowie Adoption. Betrifft das 2. Kapitel den Familien- und Verwandtenkreis, so ist das 3. der Mikrosozietät der Dorfgemeinschaft gewidmet, in die das neue Mitglied integriert werden soll (195-296): vom Durchschneiden der Nabelschnur bis zu den ersten Gehversuchen und von der exklusiven Mutter-Kind-Beziehung bis zur ersten Sozialisation in der Schulklasse werden die Übergangs- und Integrationsriten vom 3. über den 40. Tag bis zum ersten Geburtstag, der Taufe und Namensgebung bis zur Kinderhochzeit und der Kinderkultur in der Schule (bzw. Kinderzimmer, Spiele und Spielzeug usw.) untersucht. Ein 4. und letztes Kapitel geht auf die Erwartungshaltungen ein (297-462): Einüben von gender-KoWcn, Riten der Stärkung für
Körper und Geist, Riten der Sozialisierung, das Kind in der Familie, Unterhaltung (Wiegen- und Spiellieder, Rätsel, Gruppenspiele). Auf den kurzen Epilog folgen noch die umfangreiche Bibliographie (469-510) und ein Generalindex (511-527). Ganz anders gestaltet ist die andere Monographie, ein Auftragswerk der untersuchten Gemeinde selbst, was den Vorteil hatte, dass der Autor und seine engagierte, selbst aus Sesklo stammende Assistentin, Stavrula Gaga, Zugriff auf die offiziellen Lokalstatistiken 560 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen und historischen Dokumente aus der Dorfgeschichte hatten, was ihnen allerdings auch ein gewisses Misstrauen der Bewohner eingetragen hat. Sesklo, im Hinterland von Volos und gegenüber dem Peliongebirge gelegen, ist vor allem durch seine prähistorischen Funde bekannt geworden, ansonsten aber eher ein weißer Fleck auf der Karte der in- und aus ländischen Kulturanthropologen, die bereits fast jedes abgelegene Dorf als case study mit einer Monographie belegt haben. In bewährter Methode hat Avdikos auch in diesem Fall alle möglichen Quellenkategorien ausgewertet: neben den behördlichen Kontakten auch intensive Feldstudien und Diskussionen mit den Bewohnern, Erinnerungen, Nachrichten aus der vergangenen Generation, Familienarchive usw. Das Dorf ist insofern interessant, als es früher aus zwei verschiedenen Kommunitäten bestanden hat: einer griechischthessalischen (karagunides) und einer vlachisch-aromunischen; bei letzterer handelt es sich um Arvanitovlachen aus dem albanischen Frashëri, die die fruchtbaren Weiden im Vorland und nördlichen Teil des Pelion-Gebirges als Winterweide benutzten, gegen Ende des 19. Jh.s jedoch hier sesshaft geworden sind. Die erste Hälfte des 20. Jh.s hindurch gab es einen heftigen Antagonismus der beiden Kommunitäten, wobei die transhumanten Vlachen gegenüber den greki den Nachteil hatten, dass Ressourcen und Besitz in deren Hand waren. Die Gegensätze spitzten sich während der deutsch-italienischen Besatzung Griechenlands und im nachfolgenden Bürgerkrieg noch weiter zu, da manche unter den Aromunen der Propaganda der Römischen Liga des
italienischen Faschismus erlegen sind; um der Stigmatisierung zu entgehen, haben sich nach dem Krieg einige Vlachen des Dorfes im Bürgerkrieg auf der kommunistischen Seite engagiert. Dies sind heikle Themen, über die auch heute noch nicht gerne gesprochen wird. Avdikos hatte aber einen Feldforschungs vorteil: selbst Ammune aus Preveza, hatte er besseren Zugang zu den heute vorwiegend vlachischen Informanten. Nach dem Zweiten Weltkrieg begannen die greki nach Volos zu übersiedeln, so dass man von einer „Vlachisierung“ der Gemeinde sprechen kann. Doch der strenge Endogamieradius der transhumanten Viehzüchter wurde aufgegeben, und heute dominieren die gemischten Ehen im Dorf. All dies ist in der eher bescheiden aufgemachten Studie zu finden, strukturiert in: eine Einleitung (1-8); einen l.Teil über Raum, Wirtschaft und Gesellschaft (10-139) mit Siedlungsgeschichte, dem Sesshaftwerden der Seminomaden, Herkunft und Umfang der zugewanderten Population, Weiden und Weiderechte, die Kreisstadt Volos und die Ausdiffe renzierung der Berufe; einen 2.Teil über Greki und Vlachen (141-318), mit Hausarchitektur von Ansässigen und Zugereisten, traditionellen Professionen (Viehzüchter, Maultiertreiber, Käseproduktion), Beziehungen zur Stadt (Frauenarbeit, Milchlieferung, usw.); einen 3.Teil über soziales und kulturelles Verhalten (253-283), mit Hochzeit und Familienstruktur (mit anfänglicher Endogamie), Heiligenfesten und Verkleidungen; sowie einen 4. Teil über Stereotypen und Gegensätze (285-318) zwischen den beiden ethnischen Gruppen in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Die Gruppen sind
heute in einen eher indifferenten Mischzustand übergegangen, wobei die „greki“ zum Großteil nach Volos abgewandert sind und die Vlachen im Dorf eindeutig die Oberhand gewonnen haben. Auf die Zusammenfassung (319-332) folgt noch eine Liste der Informanten (333-335), die etwas unübersichtliche Bibliographie (336-352) sowie ein kurzer, beigebundener Generalindex (353-360, ohne Seitenzählung). Es handelt sich um eine etwas unübliche Südost-Forschungen 72 (2013) 561
Kunstgeschichte, Volkskunde Dorfmonographie aus der Feder eines erfahrenen Feldforschers, der neben seinen persön lichen Kontakten auch alle greifbaren Quellen der Behörden ausgewertet hat, um diese Dorfgeschichte zu erstellen, die auch Schauplatz eines ethnischen Konflikts mit allen seinen
Stereotypenbildungen und der einschlägigen Rhetorik gewesen ist. Interessant ist weiterhin, dass es sich um eine Auftragsarbeit der Kommunität selbst handelt. Das Buch ist durchweg spannend zu lesen und hat durch den persönlichen Erlebnisstil seines Verfassers einen gewissen Reiz der
Unmittelbarkeit, der sich von den trocken gelehrsamen Monographien der struktural-funktionalen Schule der Sozialanthropologie wohltuend abhebt und deshalb auch durchaus eine etwas sorgfältigere Edition verdient hätte. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. meine Anzeigen in Südost-Forschungen 63/64
(2004/2005), 635-637, und 69/70 (2010/11), 667f., sowie 71 (2012), 651-653; vgl. auch Fabula 36 (1995), 108f. und 37 (1996), 31 lf, weiters auch Zeitschriftfür Volkskunde9\ (1995), 299£, und Österreichische Zeitschriftfiir VolkskundeYXFTil 95 (1992), 565-568, und LIV/103 (2000), 135f. 2 Evangelos G.
Avdikos, Το παιδί στην παραδοσιακή και τη σύγχρονη κοινωνία. Athen 1996; vgl. auch meine Anzeige in Österreichische Zeitschriftfiir Volkskunde LII/101 (1998), 536f. 3 Theodoras P. Paradellis, Από τη Βιολογική στην Κοινωνική Γέννηση. Πολιτισμικές και Τελετουργικές Διαστάσεις της Γέννησης στον
Ελλαδικά Χώρο του 19°” αιώνα. Diss., Athen 1995. Manóles G. BarbunēS, Νεωτερική Ε)ληνική Λαϊκή Θρησκευτικότητα. Συναγωγή μελετών
θρησκευτικής λαογραφίας [Moderne Volksfrömmigkeit in Griechenland. Eine Studien sammlung religiöser Volkskunde], Thessaloniki; Ekdoseis Barbunakis 2014. 790 S., mehrere Abb., ISBN 978-960-267-184-9 Manóles G. Barbunês, Θεμελιώδεις έννοιες και μορφές της ελληνικής θρησκευτικής λαογραφίας [Grundbegriffe und -formen der griechischen religiösen Volkskunde], Athen: Στρατηγικές εκδόσεις 2013. 477 S., 12 Abb., ISBN 978-960-8094-77-2 Von den zahlreichen Veröffentlichungen des Volkskunde-Professors an der Thrakischen Universität in Komotini, Manolis Vammis, ist an dieser Stelle schon manches zur Darstel lung gekommen. Der Werdegang des Forschungsprofils des schriftenreichen Feldforschers, der an der Universität Thrakien mit Hilfe studentischer Diplomarbeiten ein ganzes Hand schriftenarchiv der Volkskunde Nordgriechenlands und des Zentralbalkans aufgebaut hat, war von Anfang an auf die religiöse Volkskunde, vor allem unter dem Aspekt der rezenten Phänomene der Pastoralpraxis konzentriert, wo sich Volkskultur mit ekklesialem Ritus, gelebte Brauchgegenwart mit überzeitlichem Dogma, Profanität mit Volksfrömmigkeit und mit kanonisierten Kultformen der offiziellen orthodoxen Kirche überschneiden. Genau diesen Aspekten sind zwei neuere selbständige Publikationen gewidmet. Bei der Ersten geht es um die Wiederveröffentlichung von 30 Studien, die im Zeitraum von 2006-2013 in verschiedenen Zeitschriften, Festschriftbänden und Kongressakten 562 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen veröffentlicht worden sind (vgl. 753-758), wobei folgende Themen zur Sprache kommen: die rezente Volkskunde von Komotini (23-60), das heutige bürgerliche Ritual um den Tod (Bestattungsfirmen, Todesanzeigen usw., 61-98), Heiligenfeste und Kirchweihen in Pfarrsprengeln von Athen (99-112), Formen rezenter Volksfrömmigkeit in der griechischen Volkskultur (113-138), bürgerliche und städtische Religiosität im Rahmen der Diözesen, am Beispiel der Hl. Anastasia im Athener Vorort Peristeri (139-162), religiöse Volkstradition und europäische Einigung (163-174), volkhafte Haus- und Heimkulte (175-186), besonders interessant: Wallfahrts-Tourismus und griechische Volkskunst (zu organisierten inländischen Pilgerreisen und dem Phänomen des religiösen Kitschs, 187-208),proskynetaria in Athen (zu Wegkreuzen und Mini-Kapellen meist an Unfallstellen 209-218); weiters: kleine Papieriko nen mit Segenswunsch (219-232), der Beitrag von D. S. Lukatos zur griechischen religiösen Volkskunde (233-258) und zum griechischen Heiligenkult (259-272), Wallfahrts-Ausflüge und heilige Reisen (273-304), materielle Indikatoren des traditionellen religiösen Verhaltens (305-322), ekklesiale Taschenkalender und Volksreligiosität (323-346), Spiritualität und Profanisierung in den griechischen Volksbräuchen (347-360), Praktiken städtischer Volks religiosität (alte Kirchen unter den sakralen Neubauten, 361-372), religiöse Periodika (am Beispiel des Mutter-Gottes-Kults auf Naxos, 373-408), Kitsch in der heutigen griechischen religiösen Volkskunst (409-440), der griechische Volksglaube zwischen Ost und
West (441 472), städtische ekklesiale Litanei-Prozessionen (473-492), zum kirchlichen Ausspeise-Wesen in den Städten (493-518), besonders interessant und gut belegt: die Bestattungs-Büros und das heutige Management des Todes- und Begräbnisrituals (519-558) ֊ hier ist die überaus scharfe Grenze zwischen traditionellen Volkspraktiken (Aufbahrung und Ausstellung des Toten, Lamentation, Leiblichkeit, Öffentlichkeit) und bürgerlich-städtischen Organisa tionsformen (Beschränkung auf die Privatsphäre, Vermeidung des Kontakts mit dem Toten, Verschweigen und Umschreiben, Gefasstheit, Professionalisierung des Bestattungswesens) augenfällig. Es folgen noch Studien zum Brauchleben und den volksreligiösen Riten der Armenier von Komotini (559-590), zu Einflüssen der Klosterkultur auf die Pastoralpraxis der Pfarrer (591-620), Kinderkultur und Volksfrömmigkeit (621-636), zu Märchenmotiven in Biographien rezenter Heiliger der orthodoxen Kirche (637-678), zu ethnischen Tradi tionen in den Formen der öffentlichen Rituale in Thrakien (679-696), zum Volkskult des rezenten Heiligen Nikolaos Planas aus Naxos (697-718) und zu Formen der öffentlichen Riten und der Volksfrömmigkeit in Griechenland (719-751). Manche dieser Themenstellungen sind von stupender Originalität und dokumentieren das Talent des Verfassers, die beobachtete Realität in weiterführende Fragestellungen zu „übersetzen“, die ins „weite Land“ ganzheidicher Kulturwissenschaften führen. Die bib liographische Belegung mit griechischer und internationaler Sekundärliteratur ist überaus reichhaltig, aber nicht immer ganz akkurat. Hier
wurde dem Druckfehler-Teufelchen noch großzügiger Spielraum eingeräumt. Wie schon aus den Titeln hervorgeht, kommt es zu mannigfachen thematischen Überschneidungen, ein Phänomen, das auch bei der zitierten Bibliographie beobachtet werden kann. Darüber hinaus aber tangieren einige der Kapitel originelle Themenstellungen, die Kerngebiete der heutigen Volksfrömmigkeit in der Massenkultur der Urbanzentren sowie ihrer sozialpsychologischen Manifestationen und pastoralpraktischen Organisation der Alltagsbewältigung anschneiden. Südost-Forschungen 72 (2013) 563
Kunstgeschichte, Volkskunde Anders strukturiert ist der weitere zu besprechende Band, bei dem es sich um eine Vorar beit für ein Lexikon griechischer Volksreligiosität handelt. Entstanden sind die meisten der etwa 380 Lemmata aus einer in Ausarbeitung befindlichen „Großen Orthodox-Christlichen Enkyklopädie“ (mit zahlreichen Zusätzen und Ergänzungen), in der definitionsmäßig und sachadäquat die volkstümlichen Devotionsformen, Sakralvorstellungen, Superstitionen, Manifestationen der Volksfrömmigkeit und magisch-religiöse Praktiken bedeutenden Raum einnehmen. Auf eine knappe Einleitung (9-23) folgen die bis zu fünf Seiten langen Einzelarti kel in alphabetischer Reihenfolge, die alle durchwegs mit einer Spezialbibliographie versehen sind, die allerdings eine Reihe von bibliographischen Angaben mehrfach wiederholt, da es in der Fachliteratur nicht immer Spezialarbeiten zu separaten Einzelphänomenen gibt. Die Ausgriffe in die internationale Sekundärliteratur sind nicht immer ganz geglückt, und abgesehen von manchen Zufallszitaten ergibt sich auch die Problematik von umfangrei chen und flächendeckenden Monographien ganzheitlicher Darstellungen der Volkskultur, die laufend und in ganz verschiedenen Zusammenhängen zitiert werden müssen, was die Lektüre ermüdend macht. Dem ist freilich entgegenzuhalten, dass eine solche lexikalische Zusammenstellung nicht als einheitliche Lektüre gedacht ist, sondern als Nachschlagewerk von Informationsquellen für spezifische Sachinteressen. Es wäre zu überlegen, ob in einer künftigen vollständigeren enzyklopädischen Darstellung der griechischen
Volksreligiosität, die mutatis mutandis auch für weite Teile anderer orthodoxer Gebiete Südosteuropas einige Gültigkeit besitzt, nicht besser eine einheitliche Gesamtbibliographie mit arithmetischen Abbreviationen zu benutzen ist, die auch wesendich raumsparender ist als die vielfache Repetition ein- und derselben Werke und insofern auch eine wesentliche Ausweitung der bibliographischen Verweise erlaubt. Die gegenwärtige Form der enzyklopädischen Dar stellung der hellenophonen Volksreligiosität verfügt über eine ausführliche Bibliographie am Bandende (445-470), die als Vertiefung und Erweiterung gedacht ist und mit den in den Einzellemmata angegebenen bibliographischen Angaben nicht deckungsgleich ist. Eine einheitliche Referenzbibliographie am Bandende könnte hier eine Straffung und Vereinheitlichung, aber auch eine Spezifizierung und Präzisierung der bibliographischen Angaben bewirken und Platz schaffen für wesentliche Erweiterungen sowohl im Umfang der Einzelbeiträge wie auch für die ergänzende Aufnahme von Sachthemen, die in dieser vorläufigen Ausgaben nicht angeschnitten worden sind. Einige Abbildungen machen die Lektüre des Bandes erfreulicher, den die vergleichende Südosteuropaforschung mit Gewinn benutzen wird. Athen, Wien 564 Walter Puchner Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Crossroads. Greece as an Intercultural Pole of Musical Thought and Creativity. In ternational Musicological Conference, Thessaloniki, June 6-10, 2011. Conference Proceedings. Hgg. Evi Nika-Sampson u. a. Thessaloniki: School of Music Studies, Aristotle University of Thessaloniki 2013. 1223 S., zahir. Abb. und Noten, ISBN 978960-99845-4-9 (eBook) Revisiting the Past, Recasting the Present: The Reception of Greek Antiquity in Music, 19th Century to the Present. Athens, 1-3 July 2011. Conference Proceedings. Hgg. Katerina Levidu/George Vlastos. Athens: Hellenic Music Centre 2013. 324 S., zahir. Musiknoten, ISBN 978-618-80006-1-2 (eBook) Zwei musikwissenschaftliche Kongresse sind anzuzeigen, die unmittelbar die Balkan musik betreffen und beide im Sommer 2011 in Thessaloniki bzw. in Athen stattgefunden haben, deren thematischer Rahmen allerdings unterschiedlich gelagert ist: der eine, ein von der School of Music Studies der Universität Thessaloniki sowie von der Regional Association for the Study of Music of the Balkans der International Musicological Society veranstaltete, war ein Kongress wahrhaft monströsen Ausmaßes, der sich mit Griechenland als Drehscheibe musikalischer Ost- und Westeinflüsse beschäftigte. Der andere war dem Nachleben des griechischen Altertums in der Musik des 19. und 20. Jh. gewidmet, wobei Südosteuropa allerdings keine hervorgehobene Rolle spielt. Beide Kongressaktenbände sind auf Englisch verfasst, der erstere enthält gegen Ende auch 16 griechischsprachige Beiträge. Alle elaborierten Referate sind mit einem Abstract am Anfang, Fuß- oder
Endnoten und einer Bibliographie versehen. Als keynote speaker der Thessaloniki-Konferenz trat der Spezialist für byzantinische Musik, Constantin Floros, mit dem Referat: „The Influence of Byzantine Music on the West“ (1-12) auf, in dem vorwiegend dem Einfluss der parasemantischen Notation nachgegangen wird. Es folgen drei thematische Panels: „Contemporary Ethnomusicological Knowledge in Greece: Young Scholars Reflecting on Experience and Ethnography, the Academy and the Field“, mit drei Referaten: Eleni Kallimopoulou, „Ethnomusicological Student Fieldwork in the City of Thessaloniki: Cultural Difference and Cultural Politics in the Field and the University“ ( 15-22), Haris Sarris, „The,Greek Clarinet1 in Thrace Revisited: A Contemporary Ethnomusicological Perspective“ (23-30), in dem das Verschwinden der gaida zugunsten der Klarinette in der Evros-Region in Thrakien in den 1950er Jahren als überregionaler Urbaneinfluss interpretiert wird, sowie Alexandra Balandina, .A Greek Ethnomusicologist Doing Fieldwork in the Middle East Returns Home: Encounters and Trajectories in Contemporary Greek Academia“ (31 -50) mit Reflexionen über ihren eigenen Forschungsaufenthalt im Iran. Ein 2. Panel beschäftigt sich mit „Music in Greece During the 1940s“ (51-96), was durchweg die Kunstmusik betrifft, und ein 3. mit „Teaching Tonal and Contemporary Composition as an Issue of Internationalization and Modernism in Greek Music: Editing Yannis A. Papaioannous (1910-1989) Educational Corpus“ (97-146). Es folgen free papers in alphabetischer Reihenfolge, von denen einige auch die Südost europa-
Forschung interessieren: Spyridon Antonopoulos, „Manuel Chrysaphes and His Treatise. Reception History, a Work in Progress“ (153-172), dessen Traktat über die Kunst des Psalmodierens in der Palaiologenzeit weite Verbreitung im Balkanraum gefunden hat; mit der Psaltik setzt sich auch Thomas Apostolopoulos auseinander („Production Fields of Sudost-Forschungen 72 (2013) 565
Kunstgeschichte, Volkskunde Theoretical Terminology of the Psal tiki“, 173-180), während andere Studien den Kompara tiveinflüssen auf der Balkanhalbinsel gewidmet sind: Anna Babali, „Musical Interrelations between Serbia and Greece. The Case of the Seven Balkan Dances for the Piano by Marko Tajčević and the Piano Set Greek Dances by Georgios Kasassoglou“ (191-202); Gordana Blagojević, „Byzantine Music as a Driving Force of Music Creativity in Belgrade Today“ (237-244); Irina Chudinova, „Greek Chant in the Russian North“ (251-258); Zamfira Dănilă, „The Publication of Ghelasie the Bessarabians Music - an Invaluable Restitution For Romanian Psaltic Music“ (259-274). Es folgen u. a. Studien zur Instrumentenkunde wie Lampros Efthymiou, „The Lavta: Origins and Evolution. Its Relation to the Old Type of Greek Lute“ (303-316); weiters Oliver Gerlach, „Crossroads of Latin and Greek Christians in Norman Italy. Byzantine Italy and Reciprocal Influences Between Greek and Latin Chant (llth-13th Century)“ (375-402); Kyriakos Kalaitzidis, „Kratemata and Terenüm - .Parallel Lives““ (449-452); Mem Kumbe, „The Historical Development of Byzantine Music in Albania from 1900 until Today“ (473-480); Katerina Levidou, „Re thinking .Greekness“ in Art Music“ (503-514); Nikos Maliaras, „Some Western European Musical Instruments and Their Byzantine Origin“ (533-544, z. B. die Orgel); Gabriel Mandrila, „Saint John of Damascus. The Byzantine Music Notation and the Theology of Holy Icons“ (545-552); Nataša Marjanovič, „Greek Chant in the Liturgical Practice of the Serbian Orthodox Church“ (569-580);
Daphne Mavridou, „Type of Melisma in the Tradition Songs of Central Macedonia, Greece“ (581-598); Vesna Mikić, „Whose Are These Songs? Serbian/exYu and Greek Input in Balkans Popular Music“ (599-606); Mema Papandmkou, „The Santouri in Greece between 1799-1800. Is It an Ottoman or a European Dulcimer?“ (653-666); Roksanda Pejović, „Possible Baroque Influences on the Representations of Musical Instruments in 17th and 18th Century Serbian Art“ (667-680); Anastasia Siopsi, „A Comparative Study of Music Written for Productions of Ancient Greek Drama in Modern Greece and Europe (1900-1970)“ (743-754); Pavlos Tsakalidis, „Three-Chord Modes in Greek Folk Music“ (853-866) usw. Unter den griechischsprachigen Beiträgen finden sich Studien zur byzantinischen Musik, ethnomusikologische Regionalstudien, Beiträge zu Handschriftenfunden, zur Kunst des Psalmodierens, zur altgriechischen Musik, zu Passionstroparien, zum Einfluss der byzanti nischen Musik auf Mikis Theodorakis usw. Der virtuell voluminöse Band mit seinen für die Drucklegung z. T. anspruchsvollen Texten ist elektronisch abzurufen;1 er verfügt über eine enorme thematische Bandbreite, die von Altgriechenland bis in die rezente populäre Bal kanmusik reicht, von der Singtechnik oral tradierter Volkslieder bis zur Zwölftonmusik von Skalkottas und der elektronischen Musik von Xenakis, von Film- und Opernmusik bis zur traditionellen Instrumentenkunde und ethnomusikologischen Case studies im Balkanraum. Strenger strukturiert ist der 2. hier zu besprechende Kongressaktenband, der dem Nach leben der griechischen Antike in den
Kompositionen des 19. und 20. Jh. gewidmet ist. Auch hier betreffen manche Beiträge eine gesamteuropäische Perspektive. Er beginnt mit einer thematischen Einheit, „On Stage and Screen“, in der Beiträge versammelt sind wie der von Anastasia Siopsi, „Ancient Greek Images in Modem Greek Frames. Readings of Antiquity in Music for Productions ofAncient Dramas and Comedies in Twentieth-Century Greece“ (2-15), wo Orientalismus, Byzanz, Balkanismus, Moderne, Volksmusik usw. die 566 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Zwischenstellung Griechenlands zwischen Ost und West belegen, Interpretationen, die sich deutlich von den westeuropäischen Praktiken und Strategien der Intonation der Auffüh rungen altgriechischer Dramatik distanzieren. Manolis Sei ragakis fokussiert in seinem Beitrag auf eine spezielle Vorstellung: „Rebetiko and Aristophanes: The Music Composed by Theofrastos Sakellaridis for The Ecclesiazusae (1904, Nea Skēnē, Athens, Greece)“ (1631), ebenso wie Andriana Soulele, „Writing Music for Ancient Greek Tragedy’s Stagings in France and in Greece in the Twentieth Century. The Use of the Voice in Pierre Boulez’s Orestie (1955) and Jani Christou’s The Persians (1965)“ (32-41) - es handelt sich um die berühmte Vorstellung der „Perser“ von Karolos Koun, die in vielen Tourneen in ganz Europa zu sehen war. Diese thematische Gruppe beschließt Nick Poulakis mit „Spotting Amazons, Scoring Demigods. Television, Music, and Reception of Greek Antiquity“ (4249), wo in Serien wie „Hercules: the Legendary Journeys“ (1995-1999) und „Xena: Warrior Princess“ (1995-2001) traditionelle und rezente Balkanmusik herangezogen wird, um eine „orientalische“ Atmosphäre zu erzeugen.2 Der 2. Themenkomplex, „Choreographing the Past“ (50-68), ist ausschließlich westlicher Musik gewidmet, ebenso wie der 3., „Female Figures in the Opera“ (69-99). Balkanischen Boden betreten wir zumindest teilweise wieder in Abschnitt vier: „Literary Perspectives“. Hier analysiert von Belgrad aus Ana Stefanovič „Berlioz’s Les Troyens·. Nostalgia for the Antique Past“ (100-133), und Christoph Flamm berichtet über den
Gebrauch der anti ken Mythologie im russischen Symbolismus („Masks and Realities: Greek Mythology in Russian Symbolism“, 134-146). Im 5- Abschnitt, „Theory and Philosophy“, analysiert dann Agamemnon Tentes „Archaic Modes1 of Receiving Antiquity by the Great Theārētikon of Music by Chrysanthos from Madytos“ (147-176), verfasst 1812-1816 in Konstantinopel; Ana Petrov aus Belgrad beschäftigt sich mit Max Webers „Musikstudie“ („Dionysian Aspect of Rationalisation in Music. A Trace of Nietzsche in Max Weber’s Musikstudie 177-186). Eine thematische Rückkehr in den Balkanraum bringt der Abschnitt 6: „Echos in Greek Folk Music“, wo sich Maria Hnaraki unter anderem mit der Kabarett-Oper „The Abduction of Europa United“ von Minas Alexiadis (2010) und anderen ähnlichen Werken auseinandersetzt („Zeus Performed, Greek Mytho-Musicologies“, 187-194), während Harikleia Tsokali und Haris Sarris auf die Repetition als Voraussetzung für ekstatische Zustände wie etwa in den anastenaridnestinari eingehen („Cyclicity in Ecstatic Experience: Neo-Platonic Philosophy and Modern Practice“, 195-209). Ein 7. Abschnitt ist mit „Modern Greek Receptions“ (210-264) betitelt und geht auf Opern und Kompositionen griechischer Komponisten mit antiker Thematik im 20. Jh. ein. Abschnitt 8, „Inspiring Eastern Europe“, bringt wieder für die Balkankomparatistik einschlägige Beiträge: Anna Dalos, „Nausicaa, Sappho, and Other Women in Love. Zoltán Kodály’s Reception of Greek Antiquity (1906-1932)“ (265-273); Ákos Windhager, „Pan Goes Marching in Style Hongrois. An Intertextual Analysis of ,The Death of Pan’ by
Edmund Mihalovich“ (274-295) bezüglich der Oper „Pán halála“ 1898 von Ödön Mihalovich (1842-1929); Srdan Atasanovski, „Imagining the Sound of the ,Serbian Sparta“ (296-302), berichtet über den Einfluss montenegrinischer Musik auf die nationalen Kampf-Chorlieder der Serben in der k. u. k. Monarchie; nach Serbien führt auch der Beitrag von Melita Millin, „Approaches to Ancient Greek Mythology in Contemporary Serbian Music: Ideological Südost-Forschungen 72 (2013) 567
Kunstgeschichte, Volkskunde Contexts“ (303-317). Der Band endet mit den Autoren-Biographien (318-324). In der Antiken-Rezeption hat Südosteuropa, mit der plausiblen Ausnahme Griechenlands, keine hervorragende Rolle gespielt; und auch hier überwiegt vor allem das Sprechtheater und die Literatur über Musikkompositionen und Opernwerke. Die beiden Kongressbände dokumentieren jedoch die Vitalität der Balkanmusik ebenso wie die Vitalität der südost europäischen Ethnomusikologie und Musikwissenschaft. Volks- und Kunstmusik zählen bis heute zu den Stärken dieses Kulturraums. Athen, Wien Walter Puchner 1 Unter http://crossroads.mus.auth.gr und http://www.mus.auth.gr , 3.3.2014. 2 Vgl. auch Donna A. Buchanan, Bulgaria’s Magical Mystère Tour: Postmodernism, World Music Marketing, and Political Change in Eastern Europe, Ethnomusicology 41 (1997), H. 1, 131-157. Aristeides N. DuLABERAs/Chrēstos К. Reppas, Ααογραφικά Μουσεία της Μεσσηνίας [Volks kundliche Museen in Messenien, Südpeloponnes]. Thessaloniki: Ekdoseis Ant. Staniulis 2012. 288 S., zahir. Abb., 1 Kt„ ISBN 978-960-0533-13-3 Jeder Griechenlandbesucher hat irgendwann einmal ein volkskundliches Museum besucht; fast jedes Dorf besitzt eines. In Messenien sind es allein 22. Auf Initiative einer Privatperson werden Gegenstände der Vergangenheit, ästhetisch ansprechend oder auch nicht, oft in nur einem einzigen Raum zusammengetragen und ausgestellt, vom Stifter und „Konservator“ meist selbst erklärt, die Auswahl geht auch auf ihn zurück; auf ein Besucherbuch und seine Eintragungen wird großer Wert gelegt, die Lokalpresse findet
lobende Worte für diese Art von aktiver Traditionspflege. Wie Michalis Meraklis in seinem kurzen Vorwort dartut, ist die Abwesenheit des Staates in dieser Art der Dokumen tation der Volkskultur auf Lokalebene, ganz im Gegensatz zu den organisierten Formen der Volkskulturpflege in den ehemaligen sozialistischen Ländern Südosteuropas, nahezu absolut. Ökonomische Präferenzen tun sich mit intellektueller Überheblichkeit zusammen und formen eine Front gegen das angeblich Unbedeutende und Übliche auf lokaler Ebene; nur große Museen haben eine Chance auf staatliche Zuschüsse. In Griechenland waren es zuerst Frauen, die sich der Volkskunst und ihrer Tradierung schon in der Zwischenkriegszeit angenommen haben: Angeliki Hatzimichali, Anna Aposto laki, Melpo Merlier, Eva Sikelianu (Palmer), AthinaTarsuli, Popi Zora, Ioanna Papantoniu u. a. Manche dieser Namen sind auch im Ausland bekannt geworden. Gemeinsamer Nenner: keine dieser Persönlichkeiten war an den Universitäten vertreten. Die Volkskunst- oder Volkskultur-Museen unterstehen dem Kulturministerium und sind dort auch statistisch erfasst, werden aber von Privatpersonen gegründet und auf deren Kosten betrieben. Das Movens der Gründung einer solchen Institution ergibt sich oft aus einem ganz praktischen Dilemma: Was soll man mit den traditionellen Gegenständen (Werkzeuge, Produktions mittel, Objekte der Web-, Strick-, Schnitz- und Töpferkunst usw.) machen? Sie zu erhalten 568 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen versuchen oder dem Altwarenhändler verkaufen? Interessanterweise hat die Anzahl dieser Art von Privatmuseen, die z. T. auch bedeutende pädagogische Aktivitäten (Schulbesuch, Kurse, Videofilme über Produktionsvorgänge usw.) entwickelt haben, seit 1990 zugenom men, und zu dem ästhetischen Aspekt gesellt sich zunehmend auch die Erklärung der Gebrauchsfunktion der Gegenstände und das Totum des Alltagslebens in früheren Zeiten. Zur Diskussion um die Volkskulturmuseen, zu Strategien der Präsentation, Besucher aktivierung, Erlebniskultur, spielerischem Aneignen von Wissen usw. gibt es inzwischen auch in Griechenland eine reichhaltige Bibliographie und eine lebhafte Aktivität, in die vor allem Schulen, pädagogische Institute, Kindergärten usw. involviert sind. Darüber gibt der l.Teil der Einleitung zur griechischen Museologie Auskunft (13-25); der 2.Teil ist dann der allgemeinen Lage der Volkskunde-Museen in Messenien gewidmet (26-33). Es folgt die Dokumentation der 22 Museen des südlichsten politischen Bezirks der Peloponnes, eingeteilt in allgemeine Information (Gründung, Geschichte, Personen, Räumlichkeiten, evtl. Statuten, Exponate, Telefonnummern, Webseiten usw.), gefolgt von Notizen und Informationen in der Lokalpresse und Eintragungen aus dem Besucherbuch. Letzteres ist ein interessantes Kapitel für sich: oft sind die Eintragungen auch von Touristen, die diese Art des Intimkontakts mit der einheimischen Tradition in besonderer Weise zu schätzen wissen, neben den bewegenden Worten inländischer Besucher, die oft mehr lobende Worte für den Wert dieser
Privatinitiative finden als sich mit den Gegenständen selbst zu beschäftigen. In allen Fällen folgt auch eine Auswahl von Fotografien der Räumlich keiten bzw. von Gebäuden und ausgewählten Exponaten. Diese Art der systematischen Bestandsaufnahme einer spezifischen Region erlaubt auch einige generellere Diagnosen: die universelle Anerkennung von Sinn und Zweck solcher Einrichtungen auf privater Ba sis, die die steigenden Besucherzahlen und vor allem die Eintragungen im Besucherbuch dokumentieren; die Sympathien für die Initiative sind weder proportional noch verkehrt proportional zur Reichhaltigkeit der Exponate, ihrer Aufstellung und Erklärung, der Enge der Räumlichkeiten bzw. der Anhäufung der Gegenstände ohne ausreichende thematische Strukturierung usw. zu sehen, sondern im Wesentlichen ziemlich unabhängig von der spe zifischen Organisationsstruktur des Museums; der Erhaltungswille traditioneller Formen der Volkskultur wird an sich estimiert, die kargen Mittel aus der Privatschatulle, die die Eintrittspreise nicht abdecken können, erhöhen den ethischen Anerkennungswert. Damit unterscheiden sich die Volkskundlichen Museen etwa von den Archäologischen wesentlich; die Absenz staatlicher Unterstützung positioniert diese Mini-Museen in einer Art GegenKultur zur offiziellen Kulturvitrine und kann damit apriori mit Sympathiekundgebungen seitens der Besucher rechnen. Den interessanten Band beschließen eine Übersichtskarte (266), die allgemeine und regionsspezifische Bibliographie mit Internetadressen (267-277), ein Generalindex (279286) und ein English summary (287f.).
Athen,Wien Südost-Forschungen 72 (2013) Walter Puchner 569
Kunstgeschichte, Volkskunde Aristeidēs N. Dulaberas, Μελετή ματα για το δη μ,οτικό τραγούδι [Studien zum griechischen Volkslied]. Thessaloniki: EkdoseisAnt. Stamulis2013.221 S., ISBN 97S-960-9533-32-4 Aristeidis Dulaveras von der Peloponnesischen Universität in Kalamata ist vor allem durch seine Sprichwortforschungen in der Nachfolge von Demetrios Lukams bekannt geworden,1 hat sich in den letzten Jahren jedoch mehrfach mit dem griechischen Volkslied beschäftigt.2 Vorliegender Studienband enthält sechs Arbeiten zu verschiedenen Themen der Volksliedforschung. Besonders interessant ist dabei der 1. Beitrag, erschienen zuerst in einem Sammelband in Thessaloniki 2008 zu Leben und Tod als Kulturphänomene, der auf die biophile Ideologie der griechischen Volkslieder in ihrer Absolutheit eingeht - Leben als absoluter Wert, Tod als absoluter Unwert (13-34). In den Lamentationen ist keine Spur von Auferstehungshoffnung, und die Unterwelt, in der die Seelen weilen, ist das absolute Gegenbild der Oberwelt. Dieses faszinierend unchristliche Bild vom Thanatos als absolutem Übel, das neben der Resurrektionsgewissheit der Osterbotschaft - in der Orthodoxie noch stärker herausgestellt als im Westen - unvermittelt weiter besteht, ist oft beschrieben und analysiert worden.3 Auf die Hochzeit als Sequenz von Ritualhandlungen im Volkslied geht die 2. Studie ein (35-80), und zwar speziell auf die Balladenmotive der Hochzeitsvermittlung, die (glücklichen und unglücklichen) Liebschaften, auf Heiraten zwischen andersgläubigen (heterodoxen) und andersstämmigen (heteroethnischen) Partnern.4 Letztlich
ist dies eine Studie zur alterity und ihrer Handhabung im Volkslied.5 Der 3. Beitrag ist dem Fluch in den Volksliedern gewidmet (81-120). Nach Maßgabe des magisch-religiösen Weltbildes, das die traditionellen Volkslieder repräsentieren, ist der fatalen Erfüllung des Fluches nur mit magischen Gegenmitteln zu begegnen, so dass die Fluchformeln einen „Sprechakt“ im Wortsinne darstellen, ein Faktum auf der Sprachebene, dem unausweichlich das reelle Geschehnis folgt. Dulaveras geht hier eher soziologisch vor: Er gliedert das Material in Männerflüche und Frauenflüche (Mutter für Sohn mit illegitimer Beziehung, für auswandernden Sohn, für Sohn aus klefiis [outlaw] usw., für toten Sohn wegen eines Versprechens [balkanweites Lied vom „Toten Bruder“], für den unerwünschten Bräutigam, den Sultan, die Dorfvorsteher, die kalten Monate usw.); bei letzteren noch weiter ausdifferenziert auf verheiratete Frauen (gegen den Vormeister im balkanweit verbreiteten „Lied von der Arta-Brücke“, Fluch auf die Fremde [Saisonarbeit der Männer], der fremd verheirateten Tochter auf ihre Eltern, auf den reichen Mann, den faulen oder betrunkenen, kranken, auf die Schwiegermutter), der sitzengelassenen Unverheirateten, Verfluchung der Unterwelt usw., schließlich Flüche von Tieren und vor allem Vögeln. Es folgt ein Liedmotiv, das nun schon angeklungen ist — das schwierige Verhältnis zwischen Braut und Schwiegermutter in den thessalischen Volksliedern (121-144), dem eine ganze Balladenkategorie angehört. Magischen Denkformeln und Handlungsweisen in Volksliedern auf Karpathos ist der 5. Beitrag gewidmet
(145-168). Der 6. Beitrag hat die Lamentationsversion aus Trapezunt auf den Fall von Konstantinopel zum Gegenstand (169-184). Charakteristisches Merkmal aller Studien ist der reichhaltige Gebrauch von Beispielen aus den Liedtext-Sammlungen, so dass sich die Lektüre zu einem richtigen Lesegenuss 570 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen gestaltet und der Leser sich selbst ein Bild machen kann von den ästhetischen Qualitäten und ideologischen Strategien, die in der gesungenen Oraldichtung zur Anwendung kom men. Den Band beschließen eine Liste der Erstveröffentlichungen, eine Bandbibliographie (185-208), ein Generalindex (209-218) sowie die englischsprachigen Abstracts (219-221). Athen, Wien Walter Puchner 1 Νεοελληνικός Παροιμιακός Λόγος. Athen 2010; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 69/70 (2010/2011), 696£, vgl. auch Österreichische Zeitschrift für Volkskunde XLIVУ 93 (1990), 96f. undXLV/94 (1991), 451-453. 2 Vgl. seine Monographie zu den Schönheitsmetaphern des Frauenlobs im Volkslied Η Ανθρώπινη Ομορφιά στο Δημοτικά Τραγούδι. A'. Γυναικεία Ομορφιά. Athen 2007; eine ähnliche Arbeit zu den männlichen Metaphern ist im Entstehen. 3 Walter Puchner, Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 11-28. 4 Zuerst in der kefalonitischen Zeitschrift Κυμοθόη 20 (2010), 77-99. 5 Vgl. zu der Frage der traditionellen ethnischen Heterostereotypen und Fremdbilder und ihrer teilweisen Transzendierung in den Balladen auch Puchner, Studien zum griechischen Volkslied, 75-77. Tolmiros Skapaneas. Homenaje al Profesor Kostas A. Dimadis/Τολμηρός Σκαπανέας. Αφιέρωμα στον Καθηγητή Κώστα A. Δημώδη. Hgg. Isabela García Gálvez / Olga Oma tos Saenz. Vitora-Gasteiz: Sociedad Hispánica de Estudios Neogriegos 2012. (Estudios Neogriegos. Revista cientifica de la Sociedad Hispanica de Estudios Neogriegos 14 (2011-2012)). 573 S., ISSN 1137-7003, €40,IV Congreso de Neohelenistas de Iberoamérica „Culturas hispánicas y
mundo griego“, Zaragoza 1,2 y 3 de octobre de 2009 / IV Διεθνές Συνέδριο Νεοελληνιστών της Ιβηρικής Χερσονήσου και της Λατινικής Αμερικής „Ο ελληνισμός από την σκοπιά των ισπανικών πολιτισμών“. Hgg. Olga Omatos Sáenz/Idoia Mamolar Sánchez/Javier Alonso Aldama. Vitoria-Gasteiz, Granada: Sociedad Hispánica de Estudios Neogriegos 2012. 771 S„ ISBN 978-84-95905-42-0, € 104,Der umfangreiche Festschriftband für Kostas Dimadis, den Präsidenten der Europäi schen Gesellschaft für Neugriechische Studien und emeritierten Professor am Lehrstuhl für Neogräzistik der Freien Universität Berlin enthält nahezu 30 Studien mit einer breiten Palette von Themen, die z.T. den Interessenhorizont des Gefeierten, also das Prosaschrift tum des 19. und 20. Jh.s, widerspiegeln. Der Band beginnt mit einem Schriftenverzeichnis (11-19) und verschiedenen Grußbotschaften. Den Reigen der Festschriftbeiträge eröffnen Marjoujne C. Janssen und Marc D. Lauxtermänn über das Motiv der Lehrerklage des „Ptochoprodromos“ im byzantinischen Schrifttum (27-43); Günther Steffen Hen rich weist die „Rimada des Mädchens und des Jünglings“ aufgrund der Entzifferung der Kryptosphragiden dem Marinos Falleros zu (45-62); Моѕсноѕ Morfakidis setzt sich mit dem spanischen Handbuch der byzantinischen und neugriechischen Literatur von SalvaSüdost-Forschungen 72 (2013) 571
Kunstgeschichte, Volkskunde dor Costanzo im 19. Jh. auseinander (63-84); Lia Brad Chisacof untersucht Thomas Hopes Roman „Anastasius“ (,Ancient Greece, Byzantium or Ottoman Empire“, 85-112); Tassos A. Kaplanis die positive Haltung von Kazantzakis gegenüber dem monotonischen Schreibsystem des Griechischen (113-127); Charalambos Bambunis analysiert das erste Studentenperiodikum der Universität Athen im 19. Jh. namens „Φοιτητής“ („El periòdico Fitítís. El primer paso periodístico de los estudiantes de la Universidad de Atenas“, 129-138); Miguel Castillo Didier beschäftigt sich mit der orthodoxen Gemeinde von Konstanti nopel (139-149); Philip J. Carabott mit den religiösen Minderheiten in Griechenland nach der Nationswerdung („From Exclusion to Inclusion: The Religious ,Other1 in Greece of the 1820s and 1830s“, 151-165). Bereits ins 20. Jh. fuhrt uns Hagen Fleischer („The Scramble for Culture Supremacy in Greece. Great Power Campaigns on Neutral Grounds, 1936-1940“, 167-180); Nikolaos Kalospyros beschäftigt sich mit Korais („On the Shoul der of Giants. Appraising the Criterion of Divinaţie in the Cases of Adamance Coray and A. E. Housman“, 181-201). Athanasia Glykofrydi-Leontsini widmet ihren Beitrag der neugriechischen Ästhetik (203-223); Cristiano Luciani setzt sich mit dem ersten neugrie chischen Roman, „Leandros“ von Panagiotis Sutsos, auseinander (225-241). Damit ist der Reigen der Beiträge zur neugriechischen Prosaliteratur eröffnet: Es folgen Henri Tonnet zum „Ermilos“ (1817) von Michail Perdikaris (243-260); V. Hatzigeorgiu-Chasioti zum Piratenroman von Stefanos
Xenos zwischen Realität und Fiktion (261-281); Anna Zimbone bringt eine italienische Übersetzung der Novelle „Die Hexen des Mittelalters“ von Emmanuil Roïdis (283-305); die in Neapel verfassten italienischen Gedichte von Georgios Choraras beschäftigen Konstantinos Nikas (307-326); Kazantzakis’ Gedichtübersetzungen von zwei spanischen Dichterinnen Maria Caracausi (327-348); E. Stavropulu analysiert griechische Kriegsromane (349-363); Sonia Ilinskaja-Alexandropulu Gedichte von Giannis Ritsos (365-378); Georgios Papantonakis dessen Kindergedichte (379-404); Eratosthenis G. Kapsomenos das poetische Werk von Kostas Vamalis (405-420); Fremd bilder bei G. P. Pieridis und Stratiš Tsirkas untersucht Luiza Christodulidu (421-432); mitTsirkas beschäftigt sich auch P. G. Konstantopulu (433-442); Georgia Ladogianni mit dem Prosawerk von Nikos Chuliaras (443-456). Drei Beiträge sind den Romanen von Rea Galanaki gewidmet: Fatima Elóeva zu ihrem Orientbild (457-474), Kyriaki Chrysomalli-Henrich zu „Feuer des Judas, Asche des Ödipus“ (475-496), ebenso wie Walter Puchner (497-518). Es folgen noch Studien zum Gedichtwerk von Ilias Kefalas (G. Freris, 519-532) und zur Logik der Faktizität im postmodernen Theater (Giorgos Pefanis, 533-549). Den Band beschließen die Resümees sowie die TabuԽgratuUtoria. Der Geehrte mag sich über dieses schwerwiegende Geschenk wohl freuen. Die hispanophone und baskische Neogräzistik zeichnet sich durch Dynamik und intensive Produktivität aus. Davon legt auch der andere zu besprechende Band Zeugnis ab, der nur in elektronischer Form als CD zirkuliert. Er beginnt
mit Ioannis K. Chasiotis über die Prä senz der Griechen in Spanien (19-38), gefolgt von Javier Alonso Aldama über das Projekt einer Übersetzung des „Digenes Akrites“ ins Spanische (39-50); über M. K. Didier spricht Kostas Asimakopulos (51-54), über Griechen im spanischen Bürgerkrieg Charalambos Babunis (55-66). Es folgen Beiträge zur spanischen Translation von Andreas Karkavitsas (67-76), zur Lorca-Rezeption im griechischen Theater (77-90), zum spanischen Reisebuch 572 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen von Kazantzakis (91-102), zum Vergleich des „Digenes Akrites“ mit dem „Cid“ (103-114), zu den Gedichten von Kostas Uranis in Portugal (115-122), Kazantzakis’ Beschreibung der Hinrichtung Lorcas (123-152), zum Todesmotiv in griechischen und spanischen Volks liedern (153-166), zur Beschreibung der Hinrichtung von Griechen in Kleinasien in den Notizen von Angela Graupera (167-174), zum lexikographischen Projekt eines Wörterbuchs von Literaturtermini in Griechisch, Englisch und Spanisch. Die Themenvielfalt der Bei träge erlaubt nicht einmal die reine Aufzählung. Unter den weiteren Studien, durchweg in Griechisch oder Spanisch verfasst, erheischen besondere Aufmerksamkeit: K. Georgiadi zur Rezeption spanischer Dramatiker im griechischen Theater, Henrichs Zuschreibung des „Tzamplakos“ zu Pikatoros (Kryptosphragide), der Vergleich von Ritsos mit Pablo Neruda, zum Spanien-Bild von Kostas Uranis, die Rezeption von Lope de Vegas „Fuentovejuna“ in Griechenland, die Einflüsse von Lorca auf die Dichtung Gatsos’, Nikos Kazantzakis über Südamerika, der griechische Bürgerkrieg in den Augen der Franco-Diktatur usw. Wohl kaum ein anderes europäisches Land kann im Augenblick einen Neogräzistik-Kongress mit derart breiten und unterschiedlichen Themenstellungen organisieren. Die beiden umfangreichen Bände stellen, zusammen mit ihrer internationalen Beteili gung, einen überaus positiven Leistungsausweis der spanischen (und südamerikanischen) Neogräzistik in ihrer internationalen Vernetzung dar. Athen, Wien Walter Puchner The Gypsy „Menace“. Populism and the New Anti-Gypsy
Politics. Hg. Michael Stewart. London: Hurst Company 2012. 382 S., ISBN 978-1-84904-220-8, £ 14,99 Dass sich brave Bürger von „Zigeunern“ bedroht fühlen, zieht sich wie ein roter Faden durch die neuere europäische Geschichte, und dass Politiker gerne mit diesem Bedrohungs gefühl spielen, wenn sie in der Wählergunst punkten müssen, haben nicht zuletzt Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy auf eindringliche Weise unter Beweis gestellt. Diesem Phänomen wollte sich eine Konferenz stellen, die im September 2009 am University Col lege London vom Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (BDIMR/ ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE/OSCE) durchgeführt worden ist. Hat sie aber nicht. Die Tagungsbeiträge liegen nun trotzdem in diesem Band vor. Dabei geht es aber weder um eine historische Herleitung dieses Bedrohungsgefühls noch um eine sozialwissenschaftliche Analyse dieses Phänomens. Faktisch handelt es sich noch nicht einmal um einen Beitrag zum Verständnis dieses in der Tat wesentlichen und noch unge klärten Komplexes. Vielmehr ist der Untertitel ernst gemeint. Der Herausgeber Michael Stewart geht nämlich davon aus, dass die angerissenen Ereignisse als eine neue Form des Antiziganismus („anti-gypsyism“) - ein Neologimus mit zweifelhaftem Erklärungswert, der als Analogon zu Antisemitismus erschaffen worden ist —, als ein Charakteristikum Südost-Forschungen 72 (2013) 573
Kunstgeschichte, Volkskunde rechtspopulistischer Parteien und somit angeblich als ein gänzlich neues und zudem euro paweites Phänomen dargestellt werden können. Dies leitet er auf annähernd 50 Seiten (XIII-XXXVIII, 3-23) mühsam her. Die Beitragenden erweisen ihm jedoch nicht die Gunst, dies auch zu untermauern, sondern schreiben in den 14 Beiträgen - manchmal näher am Thema, mitunter aber auch ziemlich weit daran vorbei -, die zum überwiegenden Teil sozial engagierte Reportagen und nur in Einzelfällen auch ansatzweise wissenschaftliche Analysen darstellen, das, was sich Antiziganismusforscher nennende Publizisten halt veröffentlichen. Im wahrsten (und gar nicht mal negativen) Sinne des Wortes einseitige Beschreibungen, die - von einer noch hervorzuhebenden Ausnahme abgesehen — allein die Perspektive der Nichtzigeuner wiedergeben, als wäre die Darstellung der Roma und anderer Zigeunergruppen als ewige Opfer eine hinreichende Beschreibung ihrer soziokulturellen Situation. Dass auch Roma durchaus in der Lage sind, ihr Leben aktiv und selbstbestimmt zu gestalten, blitzt nur gelegentlich einmal auf. Die Beiträge, die ausnahmslos viel zu lang geraten sind (als hätte es diesbezüglich eine verbindliche Vorgabe gegeben) und jeweils mit der Hälfte an Text ausgekommen wären, ohne inhaltliche Abstriche vornehmen zu müssen, leiden fast ausnahmslos an einem Makel, der so typisch ist für Texte dieses Genres: Die Autoren sind engagiert, bemüht ֊ und ahnungslos. Zwar versichert der Herausgeber: „The contributors to this volume, who all have years of experience working with Romany
populations in different parts of Europe, provide evidence for these claims [.]“ (XIV). Diese Behauptung wirkt jedoch frech, zweifach frech, da einerseits die Beweise für Stewarts Behauptung nicht geliefert werden (können) und andererseits annähernd alle Autoren eine derart große Distanz zu den „gypsies“ (keiner der Autoren ist in der Lage, zwischen Roma und den vielen anderen angesprochenen Zigeunergruppen zu unterscheiden) an den Tag legen, die nicht gerade von einer Kenntnis der betroffenen Menschen zeugt. Roma und andere Zigeuner scheinen ihnen vielmehr gleichermaßen fremd zu sein wie (dem Normalbürger) die Heisenbergsche Unschärferelation oder die 3. Binomische Formel. Allein weil sich die Mehrheit der Autoren nur oberflächlich und erst seit Kurzem, seit Antiziganismusforschung zur Mode avanciert ist, mit der Thematik beschäftigt, erscheinen ihnen die hinter diesem Begriff verborgenen Phänomene als etwas Neues. Doch bei näherer Betrachtung ist (fast) alles altbekannt. Neben einem Aufsatz von Britta Schellenberg („Strategies for Combating Right-Wing Populism and Racism: Steps Towards a Pluralist and Humane Europe“, 265-279), der ganz allgemeine Empfehlungen für den Umgang mit rechtspopulistischen bis rechtsradikalen Parteien gibt und im Kontext dieses Buches eigentlich unpassend erscheint, enthält das Buch 13 Länderstudien aus dem Bereich der Europäischen Union, die räumlich allerdings recht unterschiedlich verteilt sind. Dass allein Ungarn fünf Mal vertreten ist und mit der Tschechischen Republik (zwei Beiträge), Rumänien und Bulgarien das Schwergewicht auf den neuen
Mitgliedsstaaten liegt, verdeutlicht, dass die Beweisführung so nicht gelingen kann. Die vier Beispiele aus alten EU-Mitgliedsstaaten (Italien, Österreich, Großbritannien und Frankreich) sind für die Stützung von Stewarts These, bei dem angesprochenen ,An- 574 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen dziganismus“ handele es sich um ein Phänomen, das in Ost wie West dieselben Ursachen und die gleichen Ausprägungen habe, zudem völlig ungeeignet. Dabei ragt zunächst der Beitrag von Ilsen About („Underclass Gypsies: An Historical Approach on Categorisation and Exclusion in France in the Nineteenth and Twentieth Centuries“, 95-114) hervor (allerdings nicht gerade in positiver Weise), da er sich als einziger nicht mit südosteuropäischen Roma beschäftigt: Aufhänger ist zwar Sarkozys Ausweisungspolitik gegenüber rumänischen und bulgarischen Roma-Migranten, es folgt aber im Hauptteil eine artige Nacherzählung der aus vielerlei Publikationen hinlänglich bekannten französischen Politik gegen Fahrende zwischen 1895 und 1930. Doch zu welchem Zweck? Zum Vergleich? Fragestellung und mögliche Schlussfolgerungen bleiben unklar, die völlige Unkenntnis der verschiedenen in Frankreich lebenden Zigeunergruppen verhindert Erkenntnisse über diese wie auch über die Einstellungen und die Politik gegenüber diesen. Die anderen drei westeuropäischen Aufsätze beschäftigen sich wenigstens proforma mit Roma-Migranten, auch wenn sie nur bedingt zur Beantwortung der vom Herausgeber vorgelegten Fragestellung beitragen. Stefan Benedik, Wolfgang Goderle und Barba ra Tiefenbacher („Cucumbers Fighting Migrations: The Contribution of NGOs to the Perception ofTemporary Romany Migrations from Medovce-Metete/Slovakia“, 217-239) beschreiben recht anschaulich die Reaktionen 1.) der Medien, 2.) der Kommune und 3.) von zwei ausgewählten Nichtregierungsorganisationen auf Bettler in Graz. Auch die
Analyse der Tätigkeiten der beiden NRO ist gar nicht schlecht, doch da die Autoren nicht wissen, über wen sie schreiben, bleibt der Beitrag weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Sobald im 3.Teil über die Aktivitäten der NRO gesprochen wird, geht es nur noch um ungarisch sprachige Zigeuner in und aus der Slowakei, obwohl die (mutmaßlichen) bosnischen Horahané (von den Autoren nicht als solche erkannt) einen wesentlichen Teil in der Beschreibung der Medienberichterstattung gespielt haben. Diese fallen nun aber kommentarlos aus der Betrachtung heraus. Die fachliche Inkompetenz wird dabei besonders daran deutlich, dass die Autoren ֊ als wäre es der politischen Korrektheit nicht schon genug - die „ethnische Bezeichnung“ gendern (wie dies auf Neudeutsch gerne genannt wird) und penetrant von „Roma / Romnija“ sprechen. Dabei wird das Nomen „Roma“ als die Pluralbildung von rom (m. sg. = Mann, Ehemann, Zigeuner) missinterpretiert, obwohl es sich um ein generisches Maskulinum und somit ein Ethnonym als Selbstbezeichnung (Endonym) handelt und die Autoren daher — für Roma völlig unverständlich — laufend von „Zigeunern und Ehefrauen“ faseln und dies, obwohl es sich um „Hungarian speaking Romany men“ (231) handelt, die höchstwahrscheinlich gar nicht die Eigenbezeichnung „Roma“ führen (und daher sicherlich auch nicht die weibliche Form romnija kennen). Im Gegensatz zu den anderen westeuropäischen Beispielen ist der Beitrag von Giovanni Picker über Italien („Left-Wing Progress? Neo-Nationalism and the Case of Romany Mi grants in Italy“, 81-94) recht nah am Thema, da wenigstens die
Einstellung von Politikern gegenüber „Roma“, die in den sogenannten „campi nomadi“, meist illegalen Wohnwagenund Barackensiedlungen auf kommunalem Grund oder Industriebrachen, leben, berührt wird. Zur Stützung der These des Herausgebers taugt dieses Beispiel aber auch nicht, da die Kommunalpolitik in der Region Toskana und hauptsächlich der Stadt Florenz beschrieben wird, die seit 1970 von Linksparteien regiert werden. Da der Autor aber nicht zwischen Sücii Kst-Forsch un gen 72 (2013) 575
Kunstgeschichte, Volkskunde italienischen Sinti und/oder Roma und aus Jugoslawien stammenden Roma (und somit Ausländern!) zu unterscheiden vermag, was für die Beurteilung der „Zigeunerpolitik“ (oder handelt es sich doch „nur“ um Ausländerpolitik?) aber von ganz entscheidender Bedeutung wäre, bleibt der Beitrag alles in allem belanglos. Schwer verdaulich ist auch der Bericht von Colin Clark und Gareth Rice („Spaces of Hate, Places of Hope: The Romanian Roma in Belfast“, 167-190) über etwa 20 rumänische Roma-Familien in Belfast, die von protestantischen Jugendlichen angegriffen wurden und daraufhin Nordirland (teilweise allerdings nur zeitweilig) verlassen haben. Die Autoren stützen sich auf die Medienberichterstattung und haben keine eigene empirische Erhebung durchgeftihrt. Daher werden auch weder die Sichtweise der Roma noch diejenige der Jugend lichen wiedergegeben. Als Beispiel für Antiziganismus ist der Vorfall auch nicht tauglich, da es sich bei der beschriebenen Gruppe um die ersten Roma-Migranten in Belfast gehandelt hat und es daher weder vorangegangene Ereignisse noch Vergleichsmöglichkeiten gibt. Die Beispiele aus den ehemaligen Ostblockstaaten sind dann schon prägnanter, wobei aber der mit Abstand beste Beitrag eigentlich gar nichts mit dem Thema zu tun hat. Bei dieser hervorhebenswerten und wohltuenden Ausnahme, dem Aufsatz von Kata Horváth („Silencing and Naming the Difference“, 117-135) über ethnische Grenzziehungen in einem ungarischen Dorf und den Aufbau exklusiver und stabiler sozialer Kategorien, handelt es sich um die Ergebnisse einer Feldforschung. Die
Freude über diesen kleinen Lichtblick wird aber durch die üblichen Mängel wieder etwas getrübt. Es wird nicht deutlich gemacht, um welche Menschen es sich bei den als „gypsies“ bezeichneten Personen handelt (Roma? Angehörige der Unterschicht? Fremdsprachige Minderheit?) und aus welchen Gründen sie ausgegrenzt werden. Hinzu kommen die üblichen Redundanzen. Imtierenderweise wird dasselbe Thema in einem weiteren Beitrag noch einmal aufge griffen: Cecília Kovai („Hidden Potentials in .Naming the Gypsy“: The Transformation of the Gypsy-Hungarian Distinction“, 281-294), die offensichtlich gemeinsam mit Kata Horváth eine Feldforschung in demselben Ort durchgeführt hat, betrachtet dasselbe Thema auf einer allgemeineren Ebene, aber weit weniger souverän und mit erheblichen Verständ nisproblemen bei der Durchdringung der Materie. Einen Erkenntnisgewinn liefert diese Aufwärmung des bereits Gesagten ohnehin nicht und trägt nur dazu bei, dass Ungarn bei den Länderbeispielen überrepräsentiert ist. Eine empirische Basis hat auch das rumänische Beispiel von Stefánia Toma („Segregation and Ethnie Conflicts in Romania: Getting Beyond the Model of,The Last Drop““, 191-213) geliefert, aber merkwürdigerweise keine empirischen Befunde. Der Beitrag ist theorielastig und bietet keine Erklärung für „Zigeuner-feindliche“ Strömungen in Rumänien. Immer hin - der Leser wird mit der Zeit notgedrungen bescheiden - berührt der Artikel aber das vom Herausgeber vorgegebene Thema. Mehrere Beitragende haben sich diesbezüglich mehr Mühe gegeben: Georgia Efremova („Integrálist Narratives and Redemptive Anti-
Gypsy Politics in Bulgaria“, 43-66) leistet mit ihrer anschaulichen Darstellung der „National Guard“ in Bulgarien und deren Hetze gegen Roma zweifelsohne denjenigen Beitrag, der den Vorgaben des Herausgebers am nächsten kommt. Leider werden aber die gesellschaftlichen Wirkungen nicht berücksichtigt. Auch Gwendolyn Albert („Anti-Gypsyism and the Extreme-Right in the Czech Republic 576 Südost-Forschungen 11 (2013)
Rezensionen 2008-2011“, 137-165) bemüht sich, etwas zum Thema beizutragen und berichtet über die Propaganda der Neonazis und gewalttätige Übergriffe gegen Roma in der Tschechischen Republik. Wiederum recht interessant und aufschlussreich ist János Zolnays („Abusive Language and Discriminatory Measures in Hungarian Local Policy“, 25-41) Beschreibung über die Segregation der Roma mit Hilfe des ungarischen Schulsystems. Karel Cada („So cial Exclusion of the Roma and Czech Society“, 67-79) referiert über die weitverbreitete Ablehnung von Roma in der tschechischen Gesellschaft und die diesbezüglichen Aktivitäten einer nicht besonders erfolgreichen rechtsradikalen Partei, versteht es allerdings nicht, beide Erzählstränge zueinander in Beziehung zu setzen. Schließlich sind die beiden zusätzlichen Beiträge über Ungarn wenig erhellend. Lídia Balogh („Possible Responses to the Sweep of Right-Wing Forces and Anti-Gypsyism in Hungary“, 241-263) und András L. Pap („Dogmatism, Hypocrisy and the Inadequacy of Legal and Social Responses Combating Hate Crimes and Extremism: The CEE Experience“, 295-311) bemühen sich zwar redlich zum Thema beizutragen, lassen den Leser aber etwas ratlos zurück. Werden Vorzüge und Nachteile dieses Sammelbandes gegeneinander aufgewogen, so fallen trotz einiger recht interessanter und guter Beiträge die negativen Seiten doch unangenehm deutlich auf. Dass die These des Autors nicht bestätigt wird, ist dabei letztlich einerlei. Sie hätte nur nicht so vollmundig angekündigt werden sollen. Auch hätte vor dem Hintergrund der Qualität vieler Beiträge ein
wissenschaftlicher Anspruch nicht erhoben werden sollen. Ärgerlich ist jedoch die Überlänge des Buches (mit Anmerkungen 390 Seiten Text!) und jedes seiner Einzelbeiträge, die durchweg durch ständige Wiederholungen und nichtssa gende Plaudereien aufgebläht werden und die Lektüre dadurch sehr mühsam (und bei den weniger interessanten Reportagen auch unerfreulich) machen. Zwar soll dem Herausgeber nicht unterstellt werden, das Buch sei mit Absicht in dieser Weise konzipiert worden, um die Geldgeber davon abzuschrecken, es zu lesen. Die Publikation dürfte den geringsten Teil der Gesamtkosten der Tagung ausgemacht haben. Aber - und das ist der wesentliche Punkt - es muss die Frage erlaubt sein, ob die Mittel für die Tagung und die Publikation des Tagungsbandes - immerhin hat es sich um öffentliche Mittel und letztendlich Steuergelder gehandelt (wenn auch im Vergleich zum Gesamtetat des ODIHR in äußerst bescheide ner Höhe) - nicht sinnvoller hätten eingesetzt werden können, in eine gehaltvolle und problemorientierte Forschung zur Frage, warum Roma (und vergleichbare Minderheiten) ausgegrenzt werden - beispielsweise. Da das Büro für demokratische Institutionen und Men schenrechte nicht gerade zu den üblichen Institutionen der Wissenschaffsförderung zählt, hätte andererseits - eine vor dem Hintergrund der derzeitigen NGO-Struktur illusionäre, fast revolutionäre Forderung - das Geld auch den Betroffenen respektive einem kleinen Teil derselben zugute kommen können, z. B. den Angehörigen der Opfer „antiziganistischer“, in jedem Fall aber rassistischer Gewalt in Ungarn. Denn dieses
Buch erreicht sicherlich keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Diese wäre aber nötig, um die angesprochenen Probleme zu lösen und auf eine Gleichstellung und Gleichberechtigung der Roma und aller anderen Zigeuner genannten Minderheiten hinzuwirken. Bonn Südost-Forschungen 72 (2013) Marco Heinz 577
Kunstgeschichte, Volkskunde Farkas-Zoltán Hajdú, Tiir nach Osten. München: IKGS Verlag 2008.146 S., zahir. Anm., ISBN 978-3-9811694-1-6, € 14,50 Ziel des Buches von Farkas-Zoltán Hajdú ist, den Leser in die Welt eines Teils von Siebenbürgen zu führen. Die versammelten Texte verbinden einen lebhaften Wechsel der Erzählstandpunkte, eine genaue historische Beschreibung, ironische Mitteilungen, ethnogra fische Erläuterungen und philosophische Beobachtungen. Die Zielsetzung von Farkas-Zoltán Hajdú ist komplex: die Lebensweise der Szekler aus dem südöstlichen Siebenbürgen und den Ostkarpaten soll erfasst werden, indem der Autor ein zusammenfassendes Bild sowie eigene Betrachtungen und Meinungen über einen Teil der madjarischen Volksgruppe präsentiert. Die Denkweise, der Inhalt und die Mitteilungen des Autors basieren hauptsächlich darauf, dass er selbst zu der besagten Volksgruppe gehört und ein ausgewiesener Kenner seiner Herkunftslandschaft ist. Das Buch von Farkas-Zoltán Hajdú ist belehrend und unterhaltsam zugleich; der Autor erfasst die in sich geschlossene und traditionelle Denkweise der Szekler, und ergänzt seine Überlegungen zuweilen mithilfe mancher humorvollen Erzählung. Farkas-Zoltán Hajdú verteilt seine Geschichten auf fünf Kapitel, und jedes Kapitel be schäftigt sich mit einem Aspekt seiner Erinnerungen. Das Buch wird von einem Vorwort von Hans Bergei eingeleitet. Darin findet man eine kurze Darstellung des Autors und des Buches sowie dessen Entstehungsgeschichte. Hans Bergei, 1968 aus Rumänien in die Bun desrepublik emigriert, kennt sowohl die Geschichte des
europäischen als auch das Gefühl der Trennung von den eigenen Wurzeln, von Herkunft und Dasein in einer neuen, fremden Welt. So versteht er Motivation und Facetten des Schreibens von Farkas-Zoltán Hajdú sehr gut. Das 1. Kapitel des Buches trägt den Titel „Menaság“ (der Name eines Dorfes in der Region) und beschäftigt sich mit der verschwindenden Bauernwelt Siebenbürgens. Der Autor beweist seine essayistische Begabung, wenn er die Landschaft beschreibt und Bilder aus seinem eigenen Leben entwirft. Die Geschlossenheit und Selbstsicherheit dieser Welt erscheint in einem knappen Satz: „Ich verbrachte die ersten zwanzig Jahre meines Lebens dennoch in dieser warmen, Sicherheit verbreitenden, aber beschränkten Welt“(ll). Der Autor wird immer zwischen zwei Aspekten des Daseins hin- und hergerissen: zwischen dem sicheren, bekannten, gewöhnlichen Leben und der Beschränktheit und manchmal belastenden Strenge der Existenz. Farkas-Zoltán Hajdú sucht den Standort des Szeklertums im kulturellen Universum der Ungarn, analysiert die problematischen Aspekte von Sitten und Gebräuchen, beschreibt das Pendeln vom Dorf in die Stadt („Im Bus hatte auch das Sitzen eine eigene Hierarchie“, 27). Geschäfte, Freundschaften und Liebesbeziehungen treten vor uns hin (obwohl der Autor auf S. 74 prägnant zusammenfasst, dass „ein großer Teil der jungen Leute nicht aus Liebe heiratete“). Die Geschichte Menaságs spielt eine wichtige Rolle für die Darstellung. Die qualvollen Wochentage werden zusammen mit glücklichen Feiertagen veranschaulicht, und am Ende des Kapitels formuliert der Autor eine Art
Zusammenfassung und Mahnung: „Wenn wir aufeinander Acht geben, können wir einander finden“ (86). Im 2. Kapitel mit dem Titel „Exodus?“ findet der Leser ein narratives Mischgenre: Erin nerungen wechseln sich ab mit der Schilderung des Lebens von außerhalb, einer Welt der Kindheit und Jugend. Diese Welt verlor der Autor, und widmet sich ihr gerade deswegen 578 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen sehr eingehend. In diesem Teil von Europa lebt man mit dem Gefühl, „am falschen Ort zur Welt gekommen“ (92) zu sein, aber „schweren Herzens trennt man sich von bekannten, eingeübten, eingefahrenen Leiden“ (104). Das „Nirgendwohingehören“ lastet schwer auf Farkas-Zoltán Hajdú, und schließlich bedeutet Exodus doch keine Freiheit. Das 3. Kapitel trägt den Titel „Kretisches Tagebuch“. Die Erzählung über den Ausflug des Autors mit einem Freund ist in helleren Farben gemalt; trotzdem fehlt bei der Landschafts beschreibung die Ironie keineswegs. Die scharfe Beobachtungsgabe von Hajdú lässt keine Einzelheiten außer Acht, schildert die innersten Erlebnisse und liest sich folgendermaßen: Die Kreter seien im Übrigen ebenfalls die größten Künstler darin, rein geschäftliche Inte ressen in „aufrichtige Gefühle“ zu verpacken (119). Das 4. Kapitel mit dem Titel „Zeitige Abreise“ stützt sich zum Großteil aufdie Erzählung eines Freundes. Der Freund mit dem Namen Ovidiu D. versucht in einer Kleinstadt am Neckar mit seiner Frau Wurzeln zu schlagen, zugleich aber möchte er seine Doktorarbeit in Klausenburg abschließen. Verzweiflung, Bestrebungen und Arbeitsbemühungen des Freundes, ebenso die rumänische Bürokratie mit ihren Fußangeln, werden von Farkas-Zoltán Hajdú mit bittersüßem Humor geschildert, und über das Ergebnis der Doktorstudien er fahren wir: „Mein lebenspraktischer Freund Ovidiu schmückt seine Visitenkarte mit einem elegant designten Dr. phil., und über Heimweh klagt er seither auch nicht mehr“ (133). Das letzte Kapitel ist der Tochter gewidmet und schildert ein
„Begräbnis in Hermann stadt“. Der Leser kehrt damit nach Siebenbürgen zurück, zu einem seltsamen moslemischen Begräbnis in Hermannstadt und zum katholischen Leichenschmaus des Stiefschwiegervaters von Farkas-Zoltán Hajdú. Das Buch soll den Lesern als Wegweiser zur Literatur über Siebenbürgen dienen. Die Popularität einer deutschen Literatur außerhalb Deutschlands ist nicht gering, trotzdem ist es nötig, den Inhalt, die Ausdrucksweise, die Symbolik und vielleicht einige Aspekte der Sprache dieses Werks dem Leser zu erschließen. Die philosophischen, kulturellen und religiösen Ideen, die im Buch von Farkas-Zoltán Hajdú auftauchen, bereichern die Welt anschauung des Lesers. Der Autor von „Tür nach Osten“ wird hoffentlich nicht nur von Germanisten wahrgenommen werden, auch das breite Publikum braucht die Möglichkeit, alle Aspekte mit den Augen eines Wissenschaftlers, eines Kenners der Region zu betrachten und einige persönliche Überlegungen des Autors kennenzulernen. In der ungarischen Literatur über Siebenbürgen genießt Farkas-Zoltán Hajdú eine wohlverdiente Popularität, aber im Rahmen der deutschen Literatur ist er wenig bekannt, obwohl der gebürtige Siebenbürger seit 1987 in Heidelberg lebt. Neben einer erfolgreichen akademischen Laufbahn (1998 Promotion zum Dr. phil. an der Babeş-Bolyai-Universitât Klausenburg, Herausgabe einer deutschsprachigen Anthologie mit dem Titel „Siebenbür gen - Magie einer Kulturlandschaft“ 1999,1 Übersetzung des Romans „Der geköpfte Hahn“ von Eginald Schlattner ins Ungarische 20062) kann Farkas-Zoltán Hajdú auch Erfolge im Film aufweisen: 2005
hat er bei der Ungarischen Filmwoche in Budapest den Preis für den besten Dokumentarfilm mit seinem Werk „Az árulás“ (Der Verrat) erhalten. „Tür nach Osten“ von Farkas-Zoltán Hajdú ist 2008 München im IKGS Verlag er schienen. Das Buch präsentiert aus interessanten Gesichtspunkten heraus das Leben in einem abgegrenzten Teil Siebenbürgens, seine Sprache ist ein Ergebnis anspruchsvoller Südost-Forschungen 72 (2013) 579
Kunstgeschichte, Volkskunde wissenschaftlicher Forschung und essayistischer Darbietung. Die gesammelten Texte des Erzählbandes bieten dem Leser eine ethnographisch fundierte Erläuterung einer sich im Umbruch befindenden Region. Cluj-Napoca Anita-Andrea Széli 1 Farkas-Zoltán Hajdú/Lajos Kántor/ Gyöngy Kovács Kiss/Sabine Spors (Hgg.), Siebenbür gen — Magie einer Kulturlandschaft. Sandhausen 1999. 2 Eginald Schlattner, Fejvesztett kakas. Kolozsvár 2006. Rea Kakampura, Αφηγήσεις ζωής. Η βιογραφική προσέγγιση στη σύγχρονηΤαογραφική έρευνα [Lebenserzählungen. Biographische Zugänge zur rezenten volkskundlichen Forschung], Athen: Atrāpos 2008. 503 S., zahir. Tab., ISBN 978-960-459-045-2, €27,50 Der von Michalis G. Meraklis eingeleitete Dokumentationsband zum Archiv oraler Lebenserzählungen in der pädagogischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Athen stellt gleichzeitig eine leicht fassliche methodische Einführung in die orale Autobiographik dar, die in konzentrischen Schritten vom Allgemeinen zum Speziellen überleitet. Wie Meraklis im Vorwort hervorhebt (13-27), ist dies die 2. Monographie der Verfasserin, die sich rezenten Phänomenen der Volkskultur widmet. Die 1. Monographie handelte von Lokalvereinigungen der Bewohner des epirotischen Kreises Konitsa (nahe der albanischen Grenze) in der griechischen Hauptstadt Athen.1 Die Autobiographie-Forschung und die mündlichen Lebensschilderungen zählen auch in Griechenland und Zypern nach wie vor zu den beliebtesten Zweigen der rezenten Feldforschung, und diesbezüglich sind in den letzten Jahren umfangreiche Archive
entstanden. Der 1. Teil der Monographie geht auf die biographische Forschung in den Sozialwissenschaften ein (31-105), zuerst im internati onalen Bereich: die Autobiographie als Literaturgattung; die ersten biographischen Zugänge in der Sozialanthropologie schon im 19. Jh.; soziologische Zugänge (Schule von Chicago); historische Zugänge zu den mündlichen Lebenserzählungen; der Verständniswandel im Jahrzehnt nach 1990, der das erzählende Subjekt ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt; psychoanalytische Zugänge; kulturwissenschaftliche Ansätze; therapeutische Anwendungen der Methode in der Gerontologie; und schließlich Autobiographik als Sozialpolitik. Es folgen ein Kapitel, das die bisherigen Forschungen zur oralen Autobiographik in Griechenland vorstellt,2 sowie ein Kapitel zu den Lebenserzählungen in der Volkskunde. Dieser eher theoretisch-historische Abschnitt ist ausgezeichnet dokumentiert und mit umfassenden bibliographischen Verweisen versehen. Der 2.Teil (109-205) berichtet über die Entstehung des Archivs der Lebenserzählungen in der Pädagogischen Abteilung der Philosophischen Fakultät der Universität Athen und bietet ausführliche statistische Auswertungen des gesammelten Materials. Das 1. diesbezügliche Kapitel enthält systematische Angaben über Zielsetzung, Methodik, Interviewtechniken, Vorbereitung, Ort und Zeit der Befragungen, die Haltung der Interviewer und die Tran580 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen skription der Aufnahmen. Das 2., weit ausführlichere Kapitel enthält die statistische Aus wertung nach folgenden Kriterien: soziales Umfeld (Alter, Religionszugehörigkeit, Anzahl der Geschwister, Bildungsstand, eigener Beruf sowie derjenige von Eltern und Kindern), Geschlecht, Befragungstechnik (freies Interview, Interview mit Fokussierung auf den Beruf, verschiedene Formen des Fragebogeninterviews bzw. des Informationsgesprächs, Interview mit Konzentrierung auf Kindheitserinnerungen), nach Maßgabe des Geburtsortes und des derzeitigen Wohnsitzes (Ruralraum, rural-bürgerliches Milieu, provinzbürgerliches Milieu, Umsiedlung in die Hauptstadt, urbanes Milieu, Emigration ins Ausland) sowie nach geographischem Herkunftsraum (Peloponnes, Festgriechenland, Athen, Thessalien, Epirus, Kreta, Zypern). Ein abschließendes Kapitel geht auf die interdisziplinären Zugänge zu diesem Erzählmaterial ein. Der 3. und umfangreichste Teil ist dem Anhang Vorbehalten (209-471): Hier werden zuerst die Formblätter und Anleitungen für die Interviews (die von Studierenden vorge nommen worden sind) vorgestellt und anschließend eine große Auswahl der Texte selbst. Diese Texte sind z.T. eine spannende Lektüre, manchmal sind sie auch im Ortsdialekt gehalten (in diesem Fall wurden sie mit einem Glossar versehen). Die freien Erzählungen sind manchmal von überraschender Poesie und erstaunlicher Formulierungsgabe; andere Interviews sind dialogartig gehalten. In jedem Fall gewinnt der Leser den Eindruck, dass es sich lohnt, solche Texte zu sammeln und zu veröffentlichen, als subjektive Weltbilder
und Geschichtserlebnis, als Dokumente gesammelter Lebenserfahrung und -Weisheit oder auch als Protokolle eines Leidensweges, voller implizierter Werthaltungen, Lebensanleitungen und Ratschläge, meist mit nostalgischen Erinnerungsbildern aus der Kinderzeit, nicht zuletzt auch als volkskundliche Quellen für eine heute bereits inexistente Welt gemein schaftlichen (Über-)Lebens in einer lebensfeindlichen Realität. Dies alles wird gefiltert durch den zeitlichen Abstand einer fast epischen Distanz und gleichzeitig dramatisiert durch die persönliche Involviertheit der Protagonisten. Die fast literarischen Manipulationen der narrativen Strategien der Selbstinszenierung bzw. des Verzichts auf eine solche sind nicht zu übersehen. Den umfangreichen Band beschließt eine ausführliche Bibliographie (471-503). Was bleibt, ist die Lust auf mehr. Im internationalen Vergleich haben sich diese Lebenserzählungen ja bereits als gut verkäufliche Verlagspublikationen erwiesen, da der Leser meist an diesen subjektiven Vorstellungswelten der anderen und an den kollektiven Mentalitäten breiterer Gesellschaftsschichten emotional partizipiert und sich z. T. mit ih nen identifiziert. Die Autobiographien der Anderen betreffen den Leser in der einen oder anderen Form somit auch selbst. Athen, Wien Walter Puchner 1 Rea Kakampura-Tili, Ανάμεσα στοματικό κέντρο και τις τοπικές κοινωνίες. Οι σύλλογοι της επαρχίας Κόνιτσας στην Αθήνα. Konitsa 1999; vgl. meine Besprechung in Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LVI/103 (2000), H. 4, 567-569. 2 Vgl. im Deutschen auch Michails G. Meraklis, Orale
Biographien von Dorfbewohnern, in: Walter Puchner (Hg.), Studien zum griechischen Märchen. Wien 1996, 209-216; und ders., Lebenserzählungen von messenischen Bäuerinnen, in: Puchner (Hg.), Studien zum griechischen Märchen, 217-222. Südost-Forschungen 72 (2013) 581
Kunstgeschichte, Volkskunde Λαϊκός πολιτισμός και έντεχνος λόγος (ποίηση - πεζογραφία - θέατρο). Bd. Ι-ΙΙ: Πρακτικά διεθνούς επιστημονικού συνεδρίου (Αθήνα, 8-12 Δεκεμβρίου 2010) [Volkskultur und Wortkunst (Dichtung - Prosa — Theater). Akten des internationalen Kongresses Athen 8.-12. Dezember
2010)]. Bd.3: Πρακτικά συμποσίου Ζαχαρίας Παπαντώνιου (Αθήνα, 12 Δεκεμβρίου 2010) [Akten des Symposiums zu Zacharias Papantoniu (Athen, 12. Dezember 2010)]. Hg. Giorgios Bozikas. Athen: Akademie Athen 2013 (Δημοσιεύματα του Κέντρου Ερεύνης της Ελληνικής Λαογραφίας, 30). 801, 722, 135 S., zahir.
Abb., ISBN 978-960-404-260-9 Im Gegensatz zu den zweibändigen Kongressakten der Tagung aus dem Jahre 2003 über den Gründer der neugriechischen Volkskunde „Nikolaos Politis und das Forschungszentrum für griechische Laographie“,1 die erst nach einem satten Jahrzehnt 2012 erschienen sind,2 ist dieser
dreifache, noch weit umfangreichere Kongressaktenband dank der Bemühungen des Herausgebers, der als vielversprechender Nachwuchswissenschaftler auf diesen Seiten schon vorgestellt werden konnte,3 dreimal so schnell publiziert worden. Die Themenstellung ist dem Bereich der „angewandten“ Volkskunde
entnommen,4 speziell der literarischen Ver wertung volkskultureller Fakten und Gegebenheiten in der neugriechischen Literatur seit 1880, dem Zeitpunkt wo die realistische Provinzliteratur den Themenbereich Volkskultur entdeckt und als stilistisches und thematisches Potential bis in die unmittelbare
Gegenwart in allen literarischen Sparten eine mehr oder minder bedeutende Rolle spielt, zwar nicht mehr als
versöhnliches und nostalgisch gefärbtes Landidyll im Stil der Provinznovelle und des Heimatromans, sondern auch naturalistisch-krass oder im Sinne der poetischen Ästhetik des Volksliedes bzw. des blanken Realismus oder grotesken Surrealismus des Schwanks. Die zahlreichen Beiträge sind alphabetisch nach Autorennamen geordnet, so dass spezifische Themenkreise von vornherein schwer auszumachen sind. Überdies gehen viele Beiträge auf ganz spezifische Literaturwerke ein, die außerhalb des hellenophonen Sprachbereichs wohl kaum bekannt sein dürften. In diesem Sinne seien hier nur thematische Fragestellungen angeführt, die ein weiteres Interesse beanspruchen dürfen. So etwa ist im 1. Band von Anti-Sprichwörtern in Athener Zeitungen die Rede (51-75), von der Pflanzenwelt in ekklesialen Texten (87-93), Angaben zur Volkskultur in den Dramenwerken des Kretischen Theaters im 16. und 17. Jh. (129142), von volkhafter Oralität im griechischen Nachkriegsfilm (143-157), von Wallfahrten und Pilgerreisen in literarischen Narrativen (159-183), von Literatureinflüssen auf erzählte Märchen (229-240), von Parolen im Fußbailstadion als originelle anonyme orale Kreationen (297-314). Weiters gibt es Beiträge zum Vampir-Motiv in der neugriechischen Literatur (413-423), zum Sprichwortgebrauch in der Hochliteratur (531-546), zur Dialektverwen dung (581-591), zum Surrealismus des Volkswortes (763-778) und vieles mehr. Der 2. Band bringt Beiträge zur Volkskultur in Vorstellungen des Kindertheaters (7183), zur metaphorischen Qualität der Volksliteratur (139-146), zur Materialkultur in der Literatur
(233-241), zu volkskulturellen Elementen bei den heutigen Theaterkostümen (243-254), zum Märchendrama im aktuellen neugriechischen Theater (291-305), der Bezie hung des Menschen zur Natur in der Literatur (503-519), Beiisar auf dem Schattentheater (585-608) usw. Die Reichweite der besprochenen Literaturwerke reicht vom Altertum 582 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bis zur Gegenwart und dokumentiert die diachronische Osmose zwischen Oralität und Literarizität. Die Beiträge, mit Fußnoten oder Endnoten und Bibliographie, sind nicht nur von der Thematik her so unterschiedlich, dass sie pauschal kaum beschrieben werden können, sondern auch von der Methode her und der Qualität: von impressionistischen Notizen bis zu ausgefeilten Kleinstudien ist hier alles zu finden, und es stellt sich freilich die Frage nach dem Sinn und Nutzen solcher Monster-Kongresse mit über 100 Referaten und ohne innere Binnenstrukturierung. Den Eindruck des unstrukturierten Zuviel kann auch die nur teilweise dokumentierte Round-table-Diskussion einiger Dichterpersönlichkeiten nicht auffangen (681-687). Unter diesen Vorzeichen kommt dem 3. Band, wesentlich schmaler und konzentriert auf die Literatenpersönlichkeit von Zacharias Papantoniu (1877-1940) und den literarischen „Gebrauch“ der Volkskultur in seinen Werken (Dichtung, Prosa, Drama), der Wert eines Gegenbeispiels zu. Besonders bekannt ist seine Dramatisierung des Lenorenmotivs im „Schwur des Verstorbenen“ (1929 in Athen aufgefuhrt, 1932 veröffentlicht), einer der vielen Dramatisierungen des Volksliedes vom „Toten Bruder“ auf der gesamten Balkanhalbinsel.5 Die beschränkte Anzahl der Referate bezieht sich auf die Satire in seinem Literaturwerk (41-47), auf die Rolle der Landschaft (49-61), seine politische Ideologie (63-70), seine Sozialphilosophie (71-90) usw. Es geht jedoch mehr um eine hommage als um einen literamrwissenschaftlichen Kongress. Abweichend von den Gesetzen der Kompensation ist das
Weniger nicht immer ein Mehr, umgekehrt das Zuviel nicht immer eine Steigerung von Viel (nach dem altgr. Sprichwort ούκ έν τώ πολλώ τό εύ). Doch dafür ist der gewissenhafte Redaktor dieser wahrhaft monströsen Bände nicht verantwortlich zu machen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Es handelt sich dabei um das ehemalige Griechische Volkskundearchiv, das Politis 1918 gegründet hat und das nach seinem Tod der Akademie Athen unterstellt wurde. 2 Ο Νικόλαος Πολίτης και το Κέντρον Ερεύνης της Ελληνικής Λαογραφίας. Athen 2012. 3 Vgl. Südost-Fonchungen 68 (2009), 733-735. 4 Zu diesem Begriff Walter Puchner, Εφαρμοσμένη λαογραφία. Ο λαϊκός πολιτισμός σε επιστήμες καί τέχνες. Athen 2013 (Λαογραφία, 10). 5 Vgl. ders., „Exkurs 1: Die Ballade vom toten Bruder“. Die Folklore Südosteuropas. Eine kom parative Übersicht. Wien, Köln, Weimar 2015. Nikos Maliaras, Βυζαντινά Μουσικά Οργανα [Byzantinische Musikinstrumente]. Athen: panas music 2007. 623 S., 207 teils farb. Abb. auf Tafeln, ISBN 978-960-7554-44-4, €45,Es handelt sich um eine vorbildlich minutiöse Quellenstudie des bekannten Musikwis senschaftlers der Universität Athen, der zuerst mit einer Dissertation zur byzantinischen Orgel hervorgetreten ist,1 sodann mit einer Monographie zu Volksliedmelodien bei Manolis Südost-Forschungen 72 (2013) 583
Kunstgeschichte, Volkskunde Kalomoiris2 und neuerdings mit einer Studiensammlung zur griechischen Musik und ihren Beziehungen zur europäischen.3 Das zu besprechende opus magnum ist jedoch von besonderer Relevanz für die Balkan-Musik und Instrumentenkunde sowie die Südosteuropa-Studien allgemeiner. Die Arbeit wertet sowohl byzantinische und arabische Schriftquellen aus sowie die Bildquellen der ekklesialen Ikonographie und der Handschriftenilluminationen. Dies wird im 1. Kapitel abgehandelt (33-63) — die Schriften des anonymen Alchemisten aus dem 11. Jh.,4 die arabischen Quellen5 sowie die Miniaturen in einer Auswahl von byzantinischen Codices: hier sind Flötenformen abgebildet (Querflöte, Doppelflöte usw.), Blasinstrumente in Klarinettenform, Dudelsack, Trompetenformen, Hörner, verschiedene Trommelformen, Klappern, Lauten und andere Zupfinstrumente. Kapitel 2 geht den Saiteninstrumenten nach (64-154): zuerst bei den Schriftquellen (Psalterien, Lexika), zur Problematik der Terminologie, geordnet nach Einzelinstrumenten; dann bei den ikonographischen Quellen (säkulare Abb., Buchmalerei, Pyxidenmalerei, Miniaturen, Bibelilluminationen aus mittel- und spätbyzantinischer Zeit), geordnet nach Einzelinstrumenten, die Situationen des Instrumenteneinsatzes; in einer Zusammenfassung die Identifizierung der Einzelinstrumente durch Schrift- und Bildquellen sowie der typolo gische Vergleich mit westeuropäischen und arabischen Musikinstrumenten. Kapitel 3 ist der byzantinischen Militärmusik gewidmet (155-266) : zuerst die Textevidenz in frühbyzantinischer Zeit (Blasinstrumente und
Schlagzeug, Stellung der Musiker in der Hierarchie, Terminologie usw.), dasselbe dann in den historischen Quellen der mittel- und spätbyzantinischen Zeit (auch auf den Flottenschiflfen, die Rolle der Musik bei Militärpara den und anderen Zeremonien, neue Instrumente im 13. und 14. Jh.); dann die Bildquellen, geordnet in chronologischer Reihenfolge (Bibelillustrationen, David-Darstellungen). Bei den Militärinstrumenten dominieren die Posaunenformen, Hörner und Trommelformen. Auch hier geht ein Anhang den bilateralen Einflüssen zu Westeuropa und dem arabischen Raum nach. Kapitel 4 fasst den Forschungsstand zur schon in hellenistischer Zeit nachgewiesenen vielpfeifigen Orgel zusammen (267-514).6 Dieser Abschnitt geht im Wesentlichen auf die Dissertation des Verfassers zurück und verfolgt die Rolle dieses Instruments im byzantini schen Hofzeremoniell und bei den Wagenrennen im Hippodrom bis ins Detail. Aufgrund von Zeremonienbüchern, Gesandtschaftsberichten und ähnlichem Schrifttum ist das Quellenmaterial besonders reichhaltig. Auch Musikautomaten werden hier beschrieben sowie Einzelzeremonien mit intensivem Musikeinsatz (vgl. die Liste der Orgelverwendung bei den Zeremonien im Jahreslauf und bei speziellen Gelegenheiten, 360-365), endlich auch der Rückgang des Orgelgebrauchs in der palaiologischen Zeit. Ebenfalls wird auch ein Vergleich mit dem Orgeleinsatz im Westen vorgenommen (376-382) sowie eine mu siktechnische Analyse des Funktionierens und der Spielweise des vielpfeifigen Instruments (mit oder ohne Gesang) sowie Informationen über die Bauweise dieser Orgelform
gegeben. Es handelt sich um eine materialreiche, vorbildlich belegte Arbeit zu einem methodisch heiklen Thema, das umfassende Quellenkennmis voraussetzt und eine kritische Kombi nationsgabe bei der Synthese von Schrift- und Bildquellen, die vielfach mit Vorsicht zu benutzen sind, verlangt; die manchmal inkonsistente und irreführende Terminologie und eine gelegentlich unklare Beschreibung wie Abbildung erschweren vielfach die Identifikation 584 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen und Typologisierung der Instrumentenart. Doch ist es dem Verfasser gelungen, einen her vorragend belegten Überblick über die byzantinische Instrumentenkunde in ihrer Zwischen stellung zwischen dem arabischen Raum und Westeuropa zu geben, obwohl die Narration der Darstellung innerhalb der Kapitel an manchen Stellen etwas mäanderförmig verläuft. Die schier überwältigende Nachweislast dokumentiert vor allem der umfassende Apparat im 4. Kapitel der Arbeit, der den Quellen und der Bibliographie sowie den Abbildungen gewidmet ist (445-576). Texteditionen (Lexika, strategische Schriften, Chronographien, Zeremonienbücher, Hochdichtung und demotische Poesie, theologische Schriften, mu siktheoretische Abhandlungen, Verschiedenes) werden umfassend aufgeführt; die Bib liographie ist sehr nützlich unterteilt in Sekundärliteratur zur byzantinischen Musik und Instrumentenkunde, zur altgriechischen und römischen Musik und Instrumentenkunde, zur mittelalterlichen, sodann zur byzantinischen Geschichte, Philologie und Literatur, zur Kunstgeschichte des ausgehenden Altertums und der byzantinischen Periode. Es folgt dann ein Index der Quellen, Autoren und Termini, ein Katalog und Index der ikonographischen Abbildungen, eine chronologische Auflistung der Codices und Handschriften, ein Index der Wandmalereien, gefolgt vom z.T. farbigen Abbildungsteil mit 207 Abbildungen, und am Ende eine Auflistung von 338 Textstellen im Originalgriechisch der Zeit aus den ver schiedenen byzantinischen Quellen. Diese rigorose Offenlegung der Nachweislast in Bild und Wort verleiht der Untersuchung
einen eigenen Reiz, denn der Leser sieht sich in die Lage versetzt, jeden einzelnen Überlegungsschritt der analytischen Ausführungen selbst anhand der Belege überprüfen zu können. Athen, Wien Walter Puchner 1 Die Orgel im byzantinischen Hoížeremoniell des 9. und des 10. Jahrhunderts. Eine Quellen untersuchung. München 1991 (Miscellanea Byzantina Monacensia, 33). 2 Το Δημοτικό Τραγούδι στη Μουσική του Μανώλη Καλομοίρη. Μια ιστορική και αναλυτική προσέγγιση. Athen 2001. 3 Ελληνική μουσική και Ευρώπη. Athen 2012. 4 Ε Sherwood Taylor, A Survey of Greek Alchemy, Journal ofHelbnic Studies 50 (1930), 109139, bes. 122; Text in Marcellin Berthelot/Charles-Émile Ruelle (Hgg.), Collection des anciens alchemistes grecs, 3 Bde. Paris 1888, Bd. 2, 433-441. 5 Henry George Farmer, Two Eastern Organs. London 1928; ders., Studies in Oriental Music, Bd.2: Instruments and Military Music. Neudruck Frankfurt/M. 1997. 6 Vgl. Michael Markovits, Die Orgel im Altertum. Leiden, Boston 2003. Südost-Forschungen 72 (2013) 585
Kunstgeschichte, Volkskunde Norbert Mappes-Niedjek, Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. Berlin: Ch. Links Verlag 2012. 208 S., ISBN 978-3-86153684-0, €26,90 Neben vielen anderen Facetten, die seit der Mitte des 19. Jh.s Mittel- und Westeuropäer an Südosteuropa interessiert, wenn nicht fasziniert haben, muss besonders die kulturelle und sprachliche Vielfalt hervorgehoben werden, die auch heute noch so manchem Zeitge nossen recht exotisch erscheinen mag. Einen Teil dieser kulturellen Melange bilden auch die Roma, deren Hauptwohngebiet - manche sind geneigt zu sagen: Heimat - Südosteuropa darstellt. Und jeder Reisende, der die Region besucht, wird ihrer sofort gewahr, handelt es sich doch ֊ anders als in Mittel- oder Westeuropa - um Minderheiten, die mit bis zu fünf oder gar mehr Prozent an den Gesamtbevölkerungen der Staaten in diesem Raum einen unübersehbaren und ständig präsenten Bevölkerungsanteil stellen. Und da die Staaten Südosteuropas Mitgliedsstaaten der EU geworden sind oder dies zumindest anstreben, werden sie bald auch eine mit wohlwollend geschätzten 12 Mio. Mitgliedern nennenswerte Minderheit innerhalb der Europäischen Union ausmachen, die numerisch die Bevölkerung so manchen Mitgliedsstaates der EU in den Schatten stellt (selbst wenn die Anzahl nicht ganz so hoch angesetzt wird). Damit sie aber ihren Minderheitenstatus dort genießen können, wo sie gerade leben (oder besser: in Armut darben), hat die EU allerlei Programme aufgelegt. Eine Abwande rung der Roma in Richtung Westen soll dadurch verhindert oder zumindest doch
begrenzt werden. Aus diesem Grund hat sie auch den jetzigen Beitrittskandidaten - wie seinerzeit Rumänien und Bulgarien und zuvor bereits Ungarn und der Slowakei - Auflagen bezüglich der Integration der Roma gemacht, deren Einhaltung unabdingbare Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist (und die - nebenbei bemerkt—für diejenigen Staaten, die bereits Mitglied der EU sind, nicht gelten). Ein Südosteuropa-Korrespondent kommt daher gar nicht umhin, sich mit Roma zu beschäftigen, sei es nun aus folkloristischem Interesse, aufgrund sozialen Engagements oder einfach der Tatsache, dass der europäische Einigungsprozess auf der Agenda der Berichter stattung steht. Norbert Mappes-Niediek, der seit über 20 Jahren als freier SüdosteuropaKorrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen schreibt, hat sich dabei als einer der bestinformierten Kenner der Region profiliert. Auch mehrere Buchpublikationen zeugen von des Autors intimer Kenntnis und Vertrautheit mit Südosteuropa, seinen Be wohnern und den aktuellen politischen Verhältnissen. Ein Journalist mit dem Erfahrungsschatz eines Norbert Mappes-Niediek hat zudem während seiner langen Schaffenszeit die vielfältigsten Informationen über Roma angehäuft und wiederholt Reportagen über die Situation der Roma in einem bestimmten Land oder Ort geschrieben. Somit kann Mappes-Niediek aus einem reichen Fundus an Erfahrungen schöpfen, die durch Recherchen und Interviews ergänzt wurden, die zur Realisierung dieses Buches durchgeführt worden sind. Aber: Schon wieder ein Buch über Roma? Ist das denn wirklich nötig
in einer Zeit, in der allwöchentlich ein Buch über Roma oder zumindest doch über Antiziganismus erscheint und die Berichte von Nichtregierungsorganisationen über die Situation der Roma in diesem 586 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen oder jenem Land Bücherregalmeterware darstellen? Denn seit Europarat, EU-Administration und Weltbank sowie all diejenigen NRO meist nordamerikanischer Provenienz, die die Menschen Südosteuropas zu aufrechten Demokraten erziehen wollen, die gesellschaftliche Teilhabe der Roma auf ihre Fahnen geschrieben haben, hat das Thema Hochkonjunktur und bietet zahllose Arbeitsplätze für assimilierte oder selbsternannte Roma, sowie all diejenigen, die seit jeher an der internationalen Entwicklungszusammenarbeit kräftig mitverdienen. Immer, wenn ein Thema derart boomt, bleiben Gehalt, Tiefgang und Sorgfalt auf der Strecke; Schwätzer, die alle derzeit virulenten Modebegriffe genauso gut kennen wie die Formalia der Berichterstattung internationaler Geberorganisationen, beherrschen den Markt. Tiefschürfende Analysen und Hintergrundinformationen sind hingegen Mangelware und zudem völlig untauglich für all diejenigen im Arbeitsbereich der internationalen Ent wicklungszusammenarbeit zur Verbesserung der Situation der Roma Tätigen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen bevorzugen, um den Markt am Leben zu erhalten, der bei einer faktischen Verbesserung der Lebensumstände der Roma keine Existenzberechtigung mehr hätte. Bei dieser Art einer oberflächlichen Betrachtung wird aber zu den altherge brachten und so gerne tradierten Vorurteilen eine Vielzahl erstere trefflich ergänzende neue Stereotype hinzugefügt. Jedem, der sich nur ein wenig mit südosteuropäischen Roma be schäftigt hat, muss aufgrund dieser ständigen Verzerrungen, Verdrehungen, Vertuschungen und Verleumdungen
einmal der Kragen platzen. Norbert Mappes-Niediek ist genau dies nun widerfahren, und diesem Umstand verdanken wir ein wichtiges und lesenswertes Buch, das gerade zur richtigen Zeit erschienen ist, um der derzeitigen Flut von Halb- bis Unwahrheiten Einhalt zu gebieten. Mappes-Niediek räumt nun gründlich mit vielen der sich derzeit in Umlauf befindlichen Vorurteile und Zerrbilder auf, wenngleich auch dieses Buch einige Mängel aufweist und der Untertitel zudem in die Irre führt. Denn von wenigen Exkursen abgesehen, sind diejenigen Roma Thema der einzelnen Reportagen, die eben nicht migrieren, sondern vielmehr in den Elendsvierteln der Dörfer und Städte Südosteuropas verharren (müssen). Die einzelnen Berichte sind thematisch geordnet (wie Armut, Migration oder Kriminali tät), ein roter Faden ist jedoch nur ansatzweise auszumachen. Die wichtigsten Feststellungen werden bereits auf den ersten Seiten getroffen, Schlussfolgerungen fehlen daher. Demge genüber werden im Vorwort („Was läuft falsch?“, 7-10) und im 1. Kapitel („Die Ökonomie der Armut“, 11-43) Fragen aufgeworfen, die letztendlich nicht beantwortet werden. Die zu Beginn als zentral erscheinende These verläuft vielmehr rasch im Sande: Eingangs ֊ der Buchtitel selbst deutet (trotz aller Mehrdeutigkeiten des Begriffs „arm“) auch daraufhin ֊ wendet sich Norbert Mappes-Niediek gegen die in Südosteuropa weitverbreitete Ansicht, die Armut der Roma sei in ihrer Kultur begründet, wenn nicht sogar ein wesentlicher Bestandteil ebendieser Kultur. Der Leser könnte daher erwarten, hierbei handelte es sich um die Leitfrage, die im
Schlusswort hinreichend beantwortet wird. Stattdessen geht der Autor nicht über das im Vorwort Gesagte hinaus: „Arm sind die Roma in Wirklichkeit aus exakt demselben Grund, aus dem auch viele Nicht-Roma in Ost- und Südosteuropa arm sind: Es fehlt an bezahlter Arbeit. Die Beschäftigungsrate ist überall in der Region in den letzten zwanzig Jahren bis auf etwa die Hälfte zurückgegangen. Am stärksten war der Schwund bei den minderqualifizierten, den typischen Roma-Jobs. Nicht Ausgrenzung Südost-Fotschungen 72 (2013) 587
Kunstgeschichte, Volkskunde wie im Westen war in Osteuropa historisch das Problem der Roma, sondern ihre niedrige soziale Stellung. [.] Statt die Armut zu bekämpfen, betreiben die EU und die europäischen Staaten für die Roma Minderheitenpolitik. Natürlich sind die Roma auch,anders“, verfugen über eine besondere Kultur, pflegen bestimmte Werte und Bräuche. Aber ,anders“, anders als die Mehrheit der Franzosen, Briten oder Deutschen, sind auch die Nordafrikaner in der Banlieu von Paris, die Pakistanis in London und die Türken in Berlin, ohne dass die kulturelle Differenz eine besondere Minderheitenpolitik nötig machen würde. Alle sollen unabhängig von ihrer Herkunft in gleichem Maße an allem teilhaben können, das ist das neue Prinzip. Was uns Roma-typisch vorkommt, ist in Wirklichkeit oft einfach Balkan typisch. Die Armut der Roma jedenfalls lässt sich mit ihrer Kultur nicht erklären“ (8f). Dies untermauert er mit hochinteressanten Reportagen und bedenkenswerten Einzelbe legen, nicht jedoch mit einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Beweisführung, auch wenn er die Ursachen zu identifizieren glaubt: „Wenn etwas besser werden soll, müssen die Probleme zunächst bei ihrem richtigen Namen genannt werden. Sie heißen Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsmisere oder unterfinanziertes Gesundheitswesen“ (10). Oder: „Der Zugang zu ärztlicher Behandlung ist nicht per se ein Roma-Problem. Die Mangelwirtschaft und die Korruption im Gesundheitswesen treffen nur die am härtesten, die kein Geld haben“ (197). Das ist selbstverständlich richtig. Norbert Mappes-Niediek begründet diese
Aussagen jedoch nicht, und kann es letztendlich auch nicht, weil sie zugleich richtig und auch falsch sind. Zwar versucht er, Kultur als intervenierende Variable gänzlich auszuschließen und hat mit seinem Hauptargument, Armut und nicht die kulturellen Überlieferungen seien verantwortlich für die derzeitige Situation durchaus ein wichtiges Argument auf seiner Seite. Dies erklärt jedoch nicht, wie die Roma in ihre derzeitige Armutssituation am Rande der südosteuropäischen Gesellschaften gelangt sind. Es belegt allein, dass die politisch Verant wortlichen in diesen Ländern, mit dem Rekurs auf rassische oder ethnische Unterschiede, die tatsächlichen Zusammenhänge verschleiern wollen. Dass die Roma besonders in der Transformationsphase nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verarmt sind, nachdem sie als Erste entlassen wurden, ist ebenfalls völlig richtig, wie auch der Hinweis, dass dies in der schlechten Ausbildung begründet sei. Aber warum sind die Roma denn so schlecht ausgebildet und warum sind ausgerechnet Roma als Erste entlassen worden? Nicht allein die offenkundige gesellschaftliche Diskriminierung, die auch erst einmal begründet werden will (!), sondern durchaus auch gruppeninterne Mechanismen sind aber dafür verantwortlich zu machen, dass die Roma am Bildungssystem ihrer Heimat länder nur marginal partizipieren können. Denn allen Roma ֊ und nicht nur den sich besonders gegen ihre soziale Umwelt abgrenzenden, stammesgebundenen (ehemaligen) „Wanderzigeunern“ wie Lovara, Cergarija oder Kalderaša - ist der verwandtschaftliche Zusammenhalt wichtiger als die Außenbeziehungen
zur umgebenden Gesamtgesellschaft, was eben weitreichende Auswirkungen auf den Schulbesuch der Kinder, aber auch auf die Kontinuität der Anwesenheit am Arbeitsplatz hat. Diesen Umstand könnte man nun damit schönreden, die Roma seien als sozial und wirtschaftlich marginalisierte Gemeinschaften zum auch physischen Überleben zu dieser besonders engen Kohäsion gezwungen (was durchaus richtig ist). Diesen Umstand - wie auch die allgegenwärtige Diskriminierung ֊ 588 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen kann man jedoch nicht einfach ignorieren. Es handelt sich bei der sozialen Distanzierung (welche die Diskriminierung dann so einfach macht!) zudem um eine kulturelle Tradition im eigentlichen Sinne. Auch diese Tatsache ist nicht zu leugnen. So schießt Norbert Mappes-Niediek nicht nur bei seiner zentralen These, sondern auch im Folgenden das ein oder andere Mal über das Ziel hinaus. Diese Mängel in seiner Dar stellung sind darauf zurückzuführen, dass er Unvergleichbares vergleicht: Zum einen vermischt (und verwechselt) er Vorurteile, die in Mitteleuropa vorherrschen, mit solchen, die allein in Südosteuropa virulent sind. Beide Gruppen von Vorurteilen sind geeignet, Roma dauerhaft zu stigmatisieren und zu diskriminieren, stellen aber kein geschlossenes System dar, sondern entstammen verschiedenen Diskursräumen und Vor stellungswelten. Sie beeinflussen sich daher auch nicht gegenseitig und sind größtenteils auch nicht aufeinander bezogen. Zum anderen ist die Position der Roma — und dessen ist sich Norbert Mappes-Niediek eigentlich auch bewusst (und spricht es wiederholt an) - in beiden europäischen Regionen eine völlig andere: hier Außenseiter, dort unterste Unterschicht. Eine Gleichsetzung beider Minderheitensituationen ist nicht möglich. Zwar ist die Situation vieler nach Westeuropa migrierter Roma durch deren Lebenslage in Südosteuropa erklärbar. Doch gilt dies längst nicht für alle Roma-Gruppen, und selbst dort, wo kausale Zusammenhänge bestehen, kommen weitere Faktoren hinzu, die zur Ausprägung dieser Situation beitragen. Generell häufen sich
Fehleinschätzungen immer dann, wenn Norbert Mappes-Niediek sich geographisch zu weit von Südosteuropa entfernt. Seine wenigen Exkurse in mitteleu ropäische Themenfelder hätte er besser unterlassen und sich auf die Region beschränkt, aus der er Erfahrungen aus erster Hand besitzt. Darüber hinaus bleibt Norbert Mappes-Niediek meist auf einer oberflächlichen Ebene. Seine Analysen gehen selten in die Tiefe. Dass er mit seiner Einschätzung dennoch fast immer richtig liegt, ist in seinem journalistischen Talent begründet, weniger aber in seiner methodischen Vorgehensweise. Doch bei nur sehr oberflächlicher Kenntnis der Kultur und Geschichte der Roma sind Fehlinterpretationen nicht zu vermeiden. All diese Mängel und Einschränkungen ändern jedoch nichts an der (bereits hervorgeho benen) Bedeutung seines Buches und dem Gehalt seiner Erkenntnisse. Seine allgemeinen Aussagen verdienen daher Beachtung, da sie, anders als es der interessierte Leser aus dem Großteil der bisherigen Literatur gewohnt ist, ein realistisches Bild der Roma zeichnen (so lange sich diese Aussagen - wie gesagt - auf Südosteuropa beziehen): „Es gibt viele familiäre und örtliche Gemeinschaften und auch ein vages Gemeinschaftsgefühl von Roma über die Grenzen hinweg, aber es gibt keine organisierte Roma-Gesellschaft und auch keinen Grund, eine solche zu entwickeln. Trotzdem wird - teils bewusst, teils unbewusst — fleißig daran gearbeitet - mit dem Versuch, eine ,Roma-Elite“ zu schaffen, und mit unzähligen Projekten, die von Stiftungen und internationalen Organisationen gefördert werden. Hervorgebracht haben sie
eine ,Gypsy-industry“ aus Nichtregierungsorganisationen, die oft nur aus ihrem Vorsitzenden und dessen Bankkonto bestehen und deren Know-how sich im Schreiben von Projektanträgen erschöpft. Den Roma in ihren Slums nützt das Treiben höchstens einmal punktuell; ihre soziale Lage hat sich seit dem Aufblühen der Projektkultur um die Jahrtausendwende eher noch verschlechtert. Wenn Fonds mehr oder weniger ausdrücklich Südost-Forschungen 72 (2013) 589
Kunstgeschichte, Volkskunde nur för Roma bereitgestellt werden, schafft das in den verelendeten Regionen des Balkan überdies noch Neid und böses Blut“ (9f.). Das Fazit ist daher eindeutig: Brillant sind ֊ trotz der ihnen notwendigerweise inne wohnenden journalistischen Untiefe — seine Beschreibungen und Analysen der „gyspy industry“ sowie die Beantwortung der Frage, warum es keine Roma-Nationalbewegung und erst recht kein geeintes „Volk“ der Roma geben kann. Auch wenn er dabei längst nicht alle Faktoren berücksichtigt, wiegen diese beiden, den Hauptteil des Buches ausmachenden Kapitel (135-190) alle Unzulänglichkeiten mehr als auf und erheben ֊ trotz der geäußerten Kritik - diese Schrift zu einer Pflichtlektüre für alle, die sich für Roma interessieren und besonders jene, die so gerne über Roma reden und schreiben. Nicht empfehlenswert ist das Buch jedoch för Antiziganismusforscher, da es geeignet ist, liebgewonnene Vorurteile erfolgreich zu bekämpfen und festgefügte Ansichten nachhaltig zu beschädigen. Bonn Marco Heinz Christian Marchetti, Balkanexpedition. Die Kriegserfahrung der österreichischen Volkskunde. Eine historisch-ethnographische Erkundung. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde 2013. 456 S., ISBN 978-3-932512-73-5, €29,Die „Kunsthistorisch-Archäologisch-Ethnographisch-Linguistische Balkanexpedition“ erforschte im Sommer 1916 im Auftrag österreichisch-ungarischer Wissenschaftsinstitu tionen und Behörden und mit Unterstützung des Militärs die besetzten Gebiete in Serbien, Montenegro und Nordalbanien. Der bereiste Raum lag in einem für die Doppelmonarchie
historisch bedeutsamen Grenzgebiet. Die wissenschaftliche Raumaneignung stand dabei in enger Verbindung mit der militärischen Eroberung desselben Gebietes. Dass der österreichi sche Volkskundler Arthur Haberlandt eine Kompetenz zur „Abgrenzung der Volkskultur“ als wissenschaftlichen Kriegsbeitrag für sich beanspruchen konnte, verweist auf einen wichtigen Schnittpunkt zwischen der Entwicklung dieser sich gerade erst etablierenden Disziplin, der Kriegssituation und einem bestimmten Forschungsfeld. Dem Kulturwissenschaftler Christian Marchetti gelingt es, die Bedeutung dieser Balkan expedition für die Entwicklung der Österreichischen Volkskunde vom Ersten Weltkrieg bis in die musealen Sedimente der Gegenwart herauszuarbeiten. Sie ist für ihn der Handlungszu sammenhang, in dem sich die verschiedenen Dimensionen seiner Untersuchung verknüpfen. Die Vorgeschichte und das Zustandekommen, die Durchführung und die Nachwirkungen der Expedition sowie die daran beteiligten Institutionen und Akteure und deren Praktiken und Diskurse werden einer historisch-ethnographischen Betrachtung unterzogen, um die enge Verbindung von österreichischer Volkskunde, dem Ersten Weltkrieg und dem Balkanraum aufzuzeigen. Dabei wird versucht, den komplexen Zusammenhang zwischen Wissenschaft als sozialer und kultureller Praxis, Krieg als spezifischem Handlungs- und 590 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Erfahrungsraum und einem geographisch und historisch als Grenzraum wahrgenommenen Forschungsfeld auszuloten. Das umfangreiche Werk Marchettis behandelt vielfältige Themen wie den k. u. k. Kolo nialismus in Bosnien und Herzegowina und Nordalbanien, die Rolle der wissenschaftlichen Institutionen (z. B. der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften oder des Balkaninstituts in Sarajewo), die Verflechtung von Militär und Wissenschaft (am Beispiel der Orientabtei lung des k. u. k. Kriegsministeriums und soldatischer Volkskundler), das komplexe Wech selspiel von Besatzungspolitik und Wissenserwerb (Schulpolitik, Literarische Kommission, erste albanische Volkszählung u. a.), die Verwandlungskünste der Forscher im Dienste der Wissenschaft (Maskerade, Kleiderwechsel usw.), das Verhältnis der Forscher zu ihren ein heimischen Informanten (vom Helfer und Bewacher bis zum Partner und Kollegen), die Kulturtechniken der Volkskunde (Fragebogen, Fotografie, Kartographie usw.), die Grenz ziehungen zur Ordnung der Balkankultur und die musealen Sedimente der disziplinären Kriegserfahrung (Museen in Tirana, Wien und Kittsee). Das 1. Kapitel, „Balkanexpedition im Ersten Weltkrieg“, gibt eine Einführung über den Zusammenhang zwischen dem 1. Weltkrieg und der Entstehung der anthropologischen Wissenschaften. Im 2. Kapitel, „Volkskunde im Vielvölkerstaat“, wird die spezielle Position der österreichischen Volkskunde in der multiethnischen Doppelmonarchie im Unterschied zu Nationalstaaten oder Imperialmächten mit Uberseekolonien geschildert, wobei die Annexion Bosnien-Herzegowinas als
spezifische Form eines „Kolonialismus der Nähe“ unter dem Zeichen eines „Grenzorientalismus“ dargestellt wird. Das 3. Kapitel, „Gren zanthropologie“, widmet sich der wissenschaftlichen Praxis des Reisens mit besonderem Blick auf die mentale Geographie der österreichischen „Frontiervolkskunde“ zur Be- und Durchgrenzung des südosteuropäischen Raums und dessen Erschließung als Forschungs feld. Im 4. Kapitel, „Reiseagenturen: Soziale Brennpunkte der Wissenschaft“, geht es um die institutioneile Absicherung und die institutionalisierende Wirkung der Reisen sowie um die als wichtige Knotenpunkte im wissenschaftlichen Netzwerk fungierenden sozialen Institutionen wie Akademien, Vereine und Gesellschaften, in denen sich die österreichi schen anthropologischen Wissenschaften bildeten. Es wird aufgezeigt, wie sich die Akteure im wissenschaftlichen Feld über Reisetätigkeiten die verschiedenen Forschungsräume und Kompetenzen aneigneten und in wissenschaftliches Kapital ummünzten. Das 5. Kapitel, „Die Kunsthistorisch-Archäologisch-Ethnographisch-Linguistische Balkanexpedition“, be schreibt am Beispiel der genau rekonstruierten Forschungsreise die Reisepraxis während des Ersten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht dabei die Relation der Volkskunde zu den anderen an der Erforschung des Balkanraums beteiligten Disziplinen. Im 6. Kapitel, „Besatzung und Wissen“, wird die Frage nach einem wissenschaftlichen Kriegsbeitrag der historisch ethnographischen Wissenschaften beantwortet, indem verdeutlicht wird, inwieweit bei der Bereisung des Raumes entstandene wissenschaftliche Wissensbestände für
die Besatzung der Gebiete genutzt wurden, wie Wissenschaftler durch die Kollaboration mit dem Besatzungs regime profitierten und auf welche Weise Wissenschaft und Besatzung zur wechselseitigen Ressource wurden. Das 7. Kapitel, „Reisekleider: Zur Trachtenkunde der Ethnographie“, stellt die Relevanz der Kleiderfrage für die reisende Balkanerforschung und die Rolle der vestimären Diskurse für die Erschließung der Kriegserfahrung ins Zentrum der Betrachtung. Südost-Forschungen 72 (2013) 591
Kunstgeschichte, Volkskunde Im 8. Kapitel, „Begegnungen und Gegenüber“, werden die personelle Infrastruktur und die interpersonellen Aspekte der Forschung thematisiert, was insofern von Bedeutung ist, als diese Themen bisher von der Forschung meist vernachlässigt worden sind. Das 9. Kapitel, „Kulturtechniken der Volkskunde“, präsentiert die Medien der Wissensgenerierung, die disziplinären Praktiken und die materielle Kultur von wissenschaftlichen Expeditionen sowie die volkskundlichen Sammel- und Ausstellungstätigkeiten in Kriegszeiten. Im 10. Ka pitel, „Grenzziehungen“, erfahren wir etwas über die Dingpraxis der Volkskunde und die semiophorischen Bearbeitungen zur Ziehung und Verschiebung temporaler und kultureller Grenzlinien anhand der materiellen Kultur und Folklore der beforschten Gebiete. Das abschließende 11. Kapitel, „Disziplinäre Kriegserfahrung und museale Sedimente“, fasst die in den vorherigen Kapiteln gewonnenen Erkenntnisse zusammen und gewährt einen Einblick in museale Sedimente der Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Zu den wichtigsten Erkenntnissen von Marchettis Untersuchung zählt die führende Rolle der sich im Zuge des Krieges transformierenden österreichischen Volkskunde in der Erforschung Südosteuropas. Der damals jüngsten wissenschaftlichen Disziplin gelang es, durch selbstbewusstes Auftreten und Betonung der politischen und wirtschaftlichen Instrumentalität der eigenen Forschung für die Beherrschung der eroberten Gebiete - z. B. mittels Programmen zur Formung der untersuchten Kultur — eine Förderung durch die staatlichen Behörden zu erwirken. Sie
beanspruchte für sich die Funktion einer Art Schnittstelle zwi schen der Vorgefundenen Kultur der besetzten Gebiete und ihrer „kulturellen Durchdrin gung“, wobei Musealisierung als Motor der Modernisierung und Inkorporierung in den Innenraum der Doppelmonarchie aufgefasst und eine kulturräumliche Umorientierung der Wiener Volkskunde weg von den „ost-westlichen Wechselbeziehungen“ hin zu einem germanozentrischen „Nordstandpunkt“ vollzogen wurde (368). Das Selbstverständnis der sich während des Ersten Weltkriegs zwischen verschiedenen Nachbardisziplinen positio nierenden und innerhalb der anthropologischen Wissenschaften abgrenzenden Volkskunde war das einer „frontier ethnology“, die nicht nur neue Territorien und Bevölkerungen in die Habsburger Monarchie integrieren, sondern auch einen kulturellen Ausgleich innerhalb des Vielvölkerstaates herstellen sollte (4l4f.). Ein weiteres Ergebnis der Untersuchung ist, dass der Krieg nicht nur neue Forschungs räume, sondern auch neue und intensivierte Begegnungen und Verbindungen zwischen militärischen, politisch-administrativen und wissenschaftlichen Akteuren und Institutionen bot. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass eine Instrumentalisierung der Wissenschaft durch das Besatzungsregime nicht auf dem Weg einer Einvernahme der Wissenschaftler durch das Militär erfolgte. Standessen erwarb sich das Militär mit der Etablierung der Orientabteilung und der dort rekrutierten wissenschaftlichen Expertise in programmati scher Hinsicht eigene Handlungsfähigkeit in Richtung Südosteuropa. Es waren gebildete Diplomaten wie August Kral,
die durch Kulturprojekte wie der Literarischen Kommission in Shkodra (212-215) oder der ersten albanischen Volkszählung (215-218) einzelnen Wissenschaftlern Handlungsräume boten, die den erhofften Kriegsbeitrag, die ersehnte Frontfreistellung oder die Akkumulation wissenschaftlichen Kapitals in Form von ver öffentlichungswürdigen Forschungsresultaten ermöglichten. Dabei wurde der Typus des abenteuerlichen Einzelgängers, dessen Know-how anfangs noch genutzt wurde, von dem 592 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Typus des akademisch etablierten Wissenschaftlers abgelöst, was der Verschiebung vom vorkrieglichen Entdeckungsdiskurs zum im Krieg entstandenen Entwicklungsdiskurs im Sinne einer kulturellen Erschließung des Landes und einer normalisierenden Ordnung der Grenzkultur entsprach (412 f.). Abgesehen von anderen grundsätzlichen Erkenntnissen erfährt man interessante Details über unterschiedliche Ereignisse, Vorfälle und Persönlichkeiten wie die sogenannte,Affaire Lurja“ um den damals jungen Albanologen Maximilian Lambertz (208-211) oder das viel versprechende, jedoch durch den Kriegsausgang verunmöglichte Projekt der Einrichtung eines „Albanischen Nationalmuseums“ (225f.)· Wie überhaupt dieses Werk eine wahre Fundgrube für eine erste Rekonstruktion der damaligen wissenschaftlichen Netzwerke ist - sei es das Balkaninstitut in Sarajewo (132-136) oder die Balkankommission der Aka demie der Wissenschaften in Wien (96-103) —, auf deren Basis weiterführende, vertiefende Arbeiten, z. B. über die Verflechtung von Wissenschaft, Politik und Militär am Beispiel der Balkanologie, getätigt werden können. Mögliche Fragestellungen solcher Forschungsprojekte wären: Sind österreichisch-ungarische Forscher von Akteuren oder Institutionen der habs burgischen Balkanpolitik ausgenutzt worden oder haben sie sich instrumentalisieren lassen? Kann die österreichisch-ungarische Balkanologie als eines der Instrumente eines etwaigen Kulturimperialismus betrachtet werden? Oder war es auch umgekehrt: ein wechselseitiger Einfluss und pragmatische Beziehungen zwischen dem akademischen,
politischen und militärischen Feld mit einer Vielzahl an Akteuren und einem offenen Resultat? Daneben wären einige Detailfragen zu beantworten, wie etwa die Entstehung und Entwicklung des Feldes der österreichisch-ungarischen Balkanologie, ihr Verhältnis zum Feld der Macht (im Bourdieuschen Sinne), die Problematik der Zugehörigkeit einiger namhafter Balkanologen zu mehreren Feldern, die Rolle des sogenannten „Brückenkopfes“ zwischen ÖsterreichUngarn und den besetzten Gebieten, sowie einiges mehr. Graz Kurt Gostentschnigg Vesna Marjanovič, Maske, maskiranje і rituali u Srbiji [Masken, Maskierung und Rituale in Serbien]. Beograd: Cigoja štampa 2008. 343 S., zahir, teils farbige Abb., 7 Verbreitungskt., ISBN 978-86-7558-557-2 Maskenbücher sind in Südosteuropa eher eine Seltenheit geworden. In ihrer Miteinbe ziehung des rezenten Standes von Maskenspiel und Verkleidungsformen nichtritueller und terminunabhängiger Art ist diese flächendeckende Monographie zu Maske, Maskierung und Ritualen bei den Serben am ehesten mit den Büchern von Ivan Lozica für Kroatien1 und Georg Kraev für Bulgarien2 zu vergleichen. Die gut belegte Untersuchung, die bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, ist maskentheoretisch und theaterwissenschaftlich gut fundiert, bilden Maskierungen und Verkleidungsformen doch die Hauptingredienzien für die Konstituierung einer szenischen Wirklichkeit. Hier kann die Verfasserin im EinSüdost-Forschimgen 72 (2013) 393
Kunstgeschichte, Volkskunde leitungskapitel und einem Schlusskapitel zur semiotischen Analyse auf eine ganze Reihe südslawischer Studien zurückgreifen.3 Die Verfasserin hat am Volkskundemuseum der Vojvodina in Novi Sad bereits eine ganze Reihe von Feldforschungsergebnissen zur Mas kenforschung vorlegen können.4 Das Einleitungskapitel über Maske, Maskierung und Ritual (11-22) geht auf den theore tischen Rahmen der Maskenforschung ein, ein weiteres auf die Quellen der serbischen bzw. südslawischen Maskenforschung (23-32). Es folgt eine Kurzdiskussion methodologischer Fragen (33-36), wobei auf die Kontinuí täts- und Dyskontinuitätsfragen seit den frühesten Zeugnissen in den prähistorischen Höhlenmalereien näher eingegangen wird (37-49); einen wichtigen Quellensektor bilden die behördlichen und aufklärerischen Maskenverbote seit dem 18. Jh. (50-61). Sodann wendet sich das Buch dem Hauptteil zu, der Phänomenologie serbischer Maskenformen von den traditionellen Formen bis zu den rezenten Innovationen. Methodisch wird dabei zwischen Planung, Ausführung der Maskierung und abfragbarer Reminiszenz in der Erinnerung der Maskenträger unterschieden. Begonnen wird mit den traditionellen Formen, und zwar den Jahreslaufbräuchen mit sakraler Umzugsstruktur: die koledari praktisch überall, der Barbara-Umzug (4.12.) nur im Donauraum gegen Kroatien und Ungarn zu, ebenso die Sv. Lucije (12.12.), die Krippenspieler (vertep), das Adam- und Evaspiel und der Nikolaus-Umzug, das Sternsingen eher im Nordosten; im Gegensatz dazu sind die sirovari im Südosten gegen Bulgarien und Makedonien zu
angesiedelt, die Wolfsverkleidung (vučari) im Berggebiet westlich von Kragujevac gegen Westbosnien zu. Es lässt sich aus der Verbreitungskarte (72) deutlich eine Art Kulturgrenze zwischen Nordwesten (Donauraum) und Südosten (Zentralbalkan) ausmachen. Die mittwinterli chen koleda-Sänger (71-84), die manchmal auch das Weihbrot des koledarski kolač mit sich führen, sind von dem gleichen martialischen paramilitärischen Charakter mit phallischem Glockenbehang, Tiermasken, Equidenverkleidung, dem Altenpaar majka und dada, ¡tasca und starac, dedica und deda, dem Brautpaar usw. wie in den zentralbalkanischen Regionen und in Siebenbürgen.5 Die reichhaltige Bebilderung des Lesetextes mit seinen Fußnoten verweisen stützt sich auf ältere, aber auch rezente Fotografien, die bereits eine etwas freiere Handhabung der Verkleidungsformen dokumentieren. Der Faschingsumzug der Maskenträger ist praktisch überall nachzuweisen, im Gegensatz zu den Frauenversammlungen, die sich auf die Vojvodina beschränken (110-115). Auch hier dominiert die Scheinhochzeit mit dem Brautpaar, Beistand und Priester, Schwiegerleuten, Tierverkleidungen, den üblichen Obszönitäten usw. Auch hier ist die Einführung neuer Verkleidungstypen und Kostümierungsformen (z. B. industriell hergestellte oder handver fertigte Gesichtsmasken) zu beobachten; die Dokumentierung des falange (Fasching, statt poklade) umfasst auch magyarische und rumänische Minderheiten. Ein bedeutender Teil des Fotomaterials geht auf rezente Feldforschung zurück und gibt ein Bild der Entwicklung der Verkleidungsästhetik bis hin zur Nachahmung der
Figuren aus der bekannten Femsehserie „Dynasty“ („Der Denver-Clan“) in den 1980er Jahren oder dem pajac (Paliazzo), der bereits dem städtischen Karneval angehört (150-159). Im Urbanbereich umfasst die Untersuchung nun auch Maskenbälle, Kinderkarneval und alle möglichen Formen nichtritualisierter Verkleidungsformen. Ein eigener Abschnitt ist den festlichen Frauenversammlungen der todorice in der Batschka und im Banat gewidmet (159-163, „Weiberfasnacht“). 594 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Darauf folgen die Mädchenumzüge des Frühlingsabschnittes: die Behandlung der prak tisch überall in Serbien verbreiteten Lazarusumzüge der liedsingenden Mädchengruppen6, deren Lieder mit dem religiösen Anlass des Palmsamstags oft nur mehr wenig zu tun haben, die Jeremias-Umzüge (1./14.5., 174f.), sodann die bekannte Pfingstköniginnen-Prozessionen der kraljice oder rusalija (176-180),7 ebenfalls ohne zonenspezifische Präferenz, und endlich der Regenbittgang der grün verkleideten dodola (184-186), ebenfalls gesamtbalkanisch im Bereich der Orthodoxie verbreitet, wo immer Feldwirtschaft und Ackerbau anzutreffen ist, aber auch paparuga bei den rumanophonen Minderheiten im Banat,8 Von besonderem Interesse ist das Kapitel über die Verkleidungsformen bei den Hoch zeitsbräuchen (195-198): dies beginnt mit der Braut(ver)kleidung selbst {mlada, nevesta) durch die gesamtkörperlichen Verschleierungsformen, setzt sich im panserbisch verbreiteten Hochzeits-Unterhalter fort {àaul, der ehem, osman. Leibgardist, hat hier mehrere Bedeu tungen: Possenreißer und Hanswurst, aber auch Ausrufer oder Anführer des Hochzeitszu ges, ähnlich vojvoda), dem Spiel um die falsche Braut und anderen Unterhaltungsspielen während der Hochzeitsfeierlichkeiten usw. In einem 2. Hauptabschnitt werden dann die neuen Formen der Maskierung bei profanen Anlässen im Jahreslauf vorgestellt (213-232): Privatunterhaltungen, der moderne städti sche Karneval mit Umzug und Nummernstruktur, freie fantastische Verkleidungsformen, Kinder- und Erwachsenen-Maskeraden, Maskenbälle usw. Es gehört zu den Verdiensten
dieses Bandes, solche gegenwärtigen Strategien der intendierten Identitätsveränderung durch Kleidungsänderung, Eingriffe in Physiognomie, Habituswandel usw. in die Mas kenforschung mit einbezogen zu haben. Das gilt vor allem auch für Maskierungsweisen bei Protestaktionen, Studentendemonstrationen, Krankenhausvorstellungen, aber auch Fußballveranstaltungen, Fan-Club-Versammlungen, der Maskenverwendung bei den Reklame-Kampagnen usw. Ein abschließender Abschnitt beschäftigt sich mit einer Typologisierung von Masken, Maskierung und Larvenverwendung (247-297) zwischen Ritualkontext und freier Unter haltung. Bei den traditionellen zoomorphen Maskentypen herrschen der Widder {ovan/ herbes, rum.) vor, die Ziege {konja), der Vogel {klocalicd), der Storch {roda), der Wolf {vuk), das kleine bosnische Rind {busa), der Bär {medved) usw., viele davon mehr oder weniger theriomorph mit Gesichtsbemalung oder Fellmaske, umgedrehtem Fellkostüm, glockenbehangen und mit Requisiten wie Lärminstrumenten, Axt, dicken Stöcken usw. versehen. Bei den anthropomorphen Verkleidungen dominieren Braut und Bräutigam {mUda i mladoženja), die alte baba oder der alte deda, die falsche Braut {lažna րոևձօ), wo z.T. auch Gesichtsmasken oder Gesichtsbemalungen zur Anwendung kommen können, manchmal von erstaunlicher Ausdruckskraft. Brautkleidung tragen auch die kraljice, doch der heutigen Kostümierungsfreiheit sind keine Grenzen gesetzt (vgl. die Fantasie-Braut (277) bei einer Maskerade in Novi Sad 2007). Zu den Requisiten der Verkleideten zählen neben den genannten Primitivinstrumenten auch die Harmonika bei
Krippendarstellungen, beim Hochzeitszug auch Trommel und Fahne. Die rezenten Maskeraden können auch zu frei improvisierten Aktionen und Miniszenen übergehen. In diesem Abschnitt bilden die zahlreichen rezenten Fotografien bereits einen bedeutenden Anteil der Argumentationsfüh rung. Ein abschließendes theoretisches Kapitel geht auf die Funktionen und die Semiotik Südost-Forschungen 72 (2013) 593
Kunstgeschichte, Volkskunde der serbischen Maskenformen ein (301-307). Es folgen noch ein Schlusswort, ein English summary, die Bibliographie und ein Generalindex. Ohne Zweifel gehört diese Arbeit zu den bedeutenden Publikationen der südosteu ropäischen Maskenforschung im neuen Jahrhundert, aus der Feldforschung erarbeitet, bibliographisch ausgezeichnet dokumentiert, mit Bildmaterial ausreichend versehen, so dass allein schon das Durchblättern eine Augenweide ist. Zudem ist die Arbeit theoretisch fundiert und in weitere Problemstellungen integriert, ebenso beleuchtet sie Phänomenbe reiche, die oft in Maskenbüchern nicht zu finden sind, wenn es darum geht, den rezenten Stand des nichtrituellen Maskengebrauchs zu dokumentieren. Die Übersichtskarten geben zu jeder Zeit ausreichend Auskunft über die Verbreitung einer Maskenform, historische Dokumente, Gemälde, alte Fotografien und rezente Aufnahmen belegen die Entwicklung der Masken- und Verkleidungsformen. In einer umfangreichen Zusammenfassung wird die Maskenverwendung in einer typologischen Zusammenschau kategorisiert nach Gesichtsmas ken, Körpermasken, Maskierungsweisen, Verkleidungstypen und Requisitengebrauch bzw. Musikinstrumenten. Aus einer rein theaterwissenschaftlichen Sichtweise wären vielleicht die Ansätze zu Aktions- und Interaktionsformen etwas stärker zu berücksichtigen gewesen, doch ist die Selektion der methodischen Vorgangsweisen das Recht jedes Autors. Hier stand eben die Maske als solche, als Gegenstand und Prozess der intendierten Identitätsänderung im Vordergrund, und nicht als Vorstufe und Technik
einer „Entwicklung“ zur szenischen Darstellung. Der Dokumentationsbereich beschränkt sich auf die heutigen Grenzen Ser biens, liefert allerdings in seiner Einbeziehung von Minderheiten aus den Nachbarländern Vergleichsmaterial zu einer umfassenderen Sichtweise. Athen, Wien Walter Puchner 1 Ivan Lozica, Izvan teatra. Zagreb 1990; ders., Hrvatski karnevali. Zagreb 1997; ders., Poganska baština. Zagreb 2002. 2 Georg Kræv, Bălgarski maskaradni igri. Sofija 1996; ders., Maska i bulo. Sofija 2003; ders., Obredno i dramatično dejstvo, in: ders. / Irena Bokova (Hgg.), Maska і ritual. Sborník statü. Sofija 1999, 101-113. 3 Ivan Kovačevič, Semiologija rituala. Beograd 1985; ders., Semiologija mita i rituala, Bd. 1-3. Beograd 2001; Radoslav Domé, Znak і simbol. Beograd 2003; Mirjana Prosić, Teorijsko-hipotetički okvir, za proučavanje pokłada kao obreda prelaza, Etnološke sveske 1 (1978), H. 1, 33-49; Dušan Rnjak, Antički teatar na du Jugoslavije. Novi Sad 1979; Anastassia Saminova-Semova, Maskata v čoveškata civilizacija i v teatára. Sofija 2000. 4 Vesna Marjanovič, Maske u tradicionalnoj kulturi Vojvodine. Novi Sad 1992; dies., Maske i rituali u Srbiji, Beograd 2005; dies., Pokladni običaji u Banatu i istočnoj Srbiji, Etno-kulturološki zbornik 1 (1996), H 1, 95-101; dies., Pokladne maske i povorke, Glasnik etnografkog muzeja 67-68 (2004), 155-176; dies., Pokladni ritual u Sremu na trimeru sela. Golubinci i Novi Slankamen, Rad vojvođanskih muzeja 30 (1987), 173-181. 5 Vgl. Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009,
107-150. 6 Vgl. ders., Studien zum Kulturkontext der liturgischen Szene. Lazarus und Judas als religiöse Volksfiguren in Bild und Brauch, Lied und Legende Südosteuropas, 2 Bde. Wien 1991, Bd. 1,48-54, und Bd. 2, 194-209. 596 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 7 Vgl. zur Geschichte und Morphologie der Rusalien in Südosteuropa: ders., Studien zur Volks kunde Südosteuropas, 47-106. 8 Vgl. ders., Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 89-124. Minority Rights in Central and Eastern Europe. Hg. Bernd Rechel. London, New York: Routledge 2009 (BASEES-Routledge Series on Russian and East European Studies, 54). 242 S„ ISBN 978-0-415-45185-7, US-$ 42,55 Minderheitenfragen spielten in der sozialwissenschaftlichen Literatur der letzten Jahr zehnte eine eher marginale Rolle - wie eben die Minderheiten im wahren Leben selbst. Erst im Rahmen der Auflösung der Sowjetunion, des Auseinanderfalls Jugoslawiens und der darauffolgenden Kriege und Konflikte der 1990er Jahre gerieten Minderheiten wieder in den Fokus der Weltöffentlichkeit und mit der üblichen Verzögerung auch in den Blickwinkel der Wissenschaft. Entgegen der Sichtweise vergangener Jahrzehnte, in denen Minderheiten als entweder lobens- oder aber beklagenswerte kulturelle Relikte der Vormoderne einer eher folkloristischen Betrachtungsweise unterworfen waren, gelten sie nun als Problem - als Problem für die Einheit und Überlebensfáhigkeit des Nationalstaates, als Problem für den europäischen Vereinigungsprozess, als Problem für den Weltfrieden und nicht zuletzt aber auch als Problem für sich selbst. Die Betrachtungsweise wird dabei stets auf zwei Bereiche verengt: Da ist einmal das alt bekannte Problem, dass jeder neu entstandene Nationalstaat stets aufs Neue Minderheiten produziert, die wiederum im Prozess ihrer eigenen Nationswerdung weitere Minderheiten entstehen
lassen. Ein bis dato nicht enden wollender, gesetzmäßig ablaufender Vorgang, der als vorläufig letzten Höhepunkt in Europa die serbische Minderheit im Kosovo hervor gebracht hat. Im Rahmen des EU-Vereinigungsprozesses betraf und betrifft dies besonders die Russen als Minderheiten in den ehemaligen Republiken der Sowjetunion, die nun Mitgliedstaaten der EU geworden sind oder dies noch werden könnten. Es betrifft aber da Staatsgrenzen selten auch Sprachgrenzen sind — beispielsweise auch Polen im Baltikum oder in der Tschechischen Republik, Slowaken in Ungarn oder Ungarn in Rumänien und so weiter und so fort. Jenseits jeder staatlichen Grenze, die in Europa gezogen worden ist, finden sich auch Sprecher der Staatssprache, die auf der hiesigen Seite gesprochen wird, ein Problem, das seit 1918 („Selbstbestimmungsrecht der Völker“) weltweite Beachtung, aber noch längst keine Lösung gefunden hat. Dennoch muss jeder neu entstandene Staat legale Regelungen entwickeln, wie - unter den meist kritischen Augen des „Mutterlandes“, das sich gerne als Schutzmacht aufspielt - mit den Sprechern der Sprache des Nachbarlan des umgegangen werden soll (ein Problem, das für bereits existierende Staaten allerdings auch besteht). Allen (nicht nur in diesem Band behandelten) Staaten, die durch Sezession entstanden sind, ergaben und ergeben sich zudem Schwierigkeiten bei der Definition der Staatsbürgerschaft, ein Problem, das für viele ehemalige Staatsbürger der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien beispielsweise bis heute nicht geklärt ist. Südost-Forschungen 72 (2013) 597
Kunstgeschichte, Volkskunde Und daneben haben wir in Europa (und nicht nur hier) ein Konglomerat von ehedem Zigeuner und heute immer häufiger (und fälschlicherweise) Roma genannten Minderhei ten, die so gar nicht zur Nationenbildung neigen, vor allem da sie sprachlich und kulturell so verschieden und auch verschiedenen Ursprungs sind, so dass ein Zusammenfinden allein aus sprachlichen Gründen nicht möglich ist. Auch diese stellen einige der letzten Beitrittsländer und damit nun die EU in ihrer Gesamtheit vor Probleme, deren Lösung noch lange Zeit ausstehen wird. Und da sich die Existenz von Minderheiten in neu entstandenen Staaten in den letzten zwanzig Jahren (erneut) als recht konfliktreich erwiesen hat, haben sich das Europäische Parlament und die EU-Verwaltung dieser Thematik angenommen und sowohl die Veran kerung von Minderheitenrechten in der Gesetzgebung als auch die aktive Partizipation und Förderung der Minderheiten auf ihre Fahnen geschrieben. Alle Beitrittskandidaten nach 1995 sind darauf verpflichtet worden, den Minderheitenschutz gesetzlich zu verankern. Davon handelt dieses Buch: „For those countries hoping to join the European Union (EU), minority protection has become a key criterion in the accession process. But how has this political criterion been translated into practice? [.] While there is little doubt that the EU had in many cases a far-reaching impact on domestic policies and politics in acces sion countries, the initial enthusiasm is gradually giving way to a more sober reflection on where and when the EU really mattered [.]. This is also the
case in the area of minority protection, a policy area that has been largely ignored in the literature on EU accession. [.] By providing a comprehensive assessment of minority rights in Central and Eastern Europe, [.] this book aims to start filling these research gaps“ (3). Die überbordende Fragestellung lautet dabei, welchen Einfluss die EU auf die Gesetzge bung zum Schutz ethnischer Minderheiten im Laufe des Beitrittsprozesses hatte und inwie weit deren Vorgaben umgesetzt worden sind bzw. welche Initiativen von den betreffenden Staaten selbst ausgegangen sind. Das Buch beleuchtet daher den Prozess in allen Ländern, die 2004 und 2007 Mitglied der EU geworden sind: Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, Slowakei, Slowenien, die Tschechische Republik und Ungarn. Derzeitige Beitrittskandidaten fanden keine Berücksichtigung. Das Buch ist ֊ zumindest der Konzeption nach — in drei Teile gegliedert, wobei der letzte jedoch nur aus kurzen Schlussbemerkungen und -folgerungen des Herausgebers Bernd Rechel besteht (227-232). Der 1., einleitende und allgemeine Teil beginnt mit der (eben falls von Bernd Rechel verfassten) Einführung in die Thematik (3-16), in der einerseits die Grundlagen behandelt werden wie beispielsweise die Kopenhagener Kriterien, die im Juni 1993 vom Europäischen Rat beschlossen worden sind, um vor der Osterweiterung die Be dingungen festzulegen, die Beitrittskandidaten vor Verleihung der Vollmitgliedschaft erfüllen müssen. Andererseits werden hier bereits die wesentlichen Feststellungen vorweggenommen. Dieser Teil enthält vier weitere
Beiträge, die den darzustellenden Prozess unter allgemei nen, länderübergreifenden Aspekten beleuchten: Gwendolyn Sasse („Tracing the const ruction and effects of EU conditionality“, 17-31) untersucht den Monitoring-Prozess, mit dessen Hilfe die Fortschritte bei der Umsetzung der Kopenhagener Kriterien in Bezug auf Minderheitenfragen gemessen werden sollten, Guido Schwellnus („Anti-discrimination legislation“, 32-45) die Umsetzung der Richtlinien zur Verhinderung von rassischer und 598 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen ethnischer Diskriminierung und Rainer Hoffmann („The Framework Convention for the Protection of National Minorities“, 46-60) diejenige des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten (FCNM). Peter Vermeersch und Melanie Ram („The Roma“, 61-73) beschreiben dann die besondere Situation der Roma, die eben auch ein wesentlicher Grund dafür ist, dass sich der Europäische Rat und die Europäische Kommis sion genötigt sahen, im Verlauf des Beitrittsprozesses der zehn Kandidatenländer auf die Einführung geeigneter gesetzlicher Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten zu beharren. Die besondere Hervorhebung der Roma ist in ihrer marginalisierten Situation begründet, aber auch in den Tatsachen, dass sie als Minderheiten in allen behandelten Ländern vertreten sind und verschiedene EU-Institutionen ein vitales Interesse an der Gleichstellung der Roma angemeldet haben. Leider ist dieser Beitrag aber nicht von Fachleuten verfasst worden, so dass unklar bleibt, wer überhaupt mit „Roma“ gemeint ist. Es drängt sich der Verdacht auf, als seien nicht nur die eigentlichen Roma angesprochen ֊ also diejenigen Minderheiten, die sich selbst als Roma bezeichnen und Romanes als Muttersprache sprechen -, sondern all diejenigen Gruppen, die üblicherweise als Zigeuner bezeichnet werden, also Minderheiten, die in einer vergleichsweise marginalen Position leben und ähnliche Beschäftigungsfelder abdecken, aber eine andere Muttersprache (hauptsächlich Rumänisch, Ungarisch oder Türkisch) sprechen. Dadurch, dass die Autoren nicht so recht wussten, über wen sie sch reiben, haben sich
auch allerhand lästige Unsicherheiten und ärgerliche Fehlinformationen in ihren Beitrag eingeschlichen. Glücklicherweise - könnte man sagen - handelt es sich um ein vergleichsweise kurzes Kapitel in einem ansonsten grundsolide recherchierten und verfassten Buch. Der 2. und Hauptteil des Bandes besteht aus den Fallstudien der zehn Länder, die 2004 und 2007 Mitglied der Europäischen Union geworden sind. Obwohl alle behandelten Staa ten den Transformationsprozess vom kommunistischen Staatswesen zur westlich geprägten Demokratie durchlaufen haben und auch räumlich nahe beieinanderliegen und teilweise gemeinsame Grenzen haben, sind die Unterschiede in den jeweiligen ethnischen und sprachlichen Zusammensetzungen und den entsprechenden Minderheitensituationen doch recht groß. Entsprechend unterschiedlich sind auch die Reaktionen der Gesetzgeber, auf die (teilweise neu entstandenen) Minderheitenproblematiken wie auch auf die Bedingtheiten des EU-Beitrittsprozesses. Alle Autoren sind dennoch einer gemeinsamen Vorgehensweise verpflichtet, die sich in einer weitgehend gleichen Gliederung der einzelnen Länderdar stellungen niederschlägt: „All of the country case studies cover the major developments since 1989, highlight the salient issues in minority rights politics, try to decipher the role domestic and international factors have played in shaping minority rights, discuss whether there have been any major changes once EU accession was secured, and examine the actual implementation of relevant policies and legislation“ (13). Thema des Buches sind Minderheitenrechte und allein diese
rechtlichen Aspekte werden auch behandelt. Alle Beiträge sind genau auf die Fragestellung und die Vorgaben des He rausgebers fokussiert und halten sich mit selten erlebter und in dieser Beziehung wirklich vorbildlicher Disziplin genau daran. Dabei sind bis auf den kurzen Beitrag über Roma, der von profunder Unkenntnis zeugt, alle Beiträge sehr informativ und geben den aktuellen Stand der Dinge wieder. Südost-Forschungen 72 (2013) 599
Kunstgeschichte, Volkskunde Allerdings handelt es sich um eine (typisch) politikwissenschaftliche Arbeit, rein deskrip tiv, ohne jeglichen theoretischen Überbau oder Versuch, die beschriebenen Phänomene zu erklären. So liegt nun zwar eine umfassende Dokumentation und solide Bestandsaufnahme der Gesetze zum Schutz von Minderheiten und dem Verbot der ethnischen und rassischen Diskriminierung in den Beitrittsländern der Jahre 2004 und 2007 vor, allerdings auch nicht mehr. Es wird nicht thematisiert, welche Auswirkungen die Gesetzgebung auf die jeweiligen Staaten zeigt oder welche Bedeutung die beschriebenen legislativen Vorgänge auf den europäischen Vereinigungsprozess haben. Es wird auch nicht nach den Ursachen gefragt, die hinter den Vorgaben der EU, aber auch den Eigeninteressen der betroffenen Staaten liegen. Auch die historische Entwicklung der Minderheitenpolitiken der einzelnen Staaten wird nicht hergeleitet. Die Minderheiten selbst treten allein als gesetzgeberisches Problem auf. Ihre Reaktionen auf und mögliche Auswirkungen durch diese Gesetzgebung sind daher auch nicht Thema des Buches. Bonn Marco Heinz Angelike Panopulu, Συντεχνίες και θρησκευτικές αδελφότητες στη βενετοκρατούρενη Κρήτη [Korporationen und Bruderschaften auf Kreta während der Venezianerherrschaft]. Athen, Venezia: Istituto di Studi Bizantini e Postbizantini di Venezia 2012 (Thomas Phlanginēs, 7). 551 S„ Abb., Tab., ISBN 978-960-7743-61-9 Das venezianische Kreta (1211-1669) gehört ohne Zweifel zu den am besten erforsch ten Regionalzonen Gesamteuropas in der Frühen Neuzeit aufgrund der großen Anzahl
erhaltener Notariatsakten, die in den weiten Sälen der Staatlichen Archive von Venedig gehortet sind und noch auf mehrere Forschergenerationen warten, die auch die letzten Facetten des Alltagslebens einer faszinierenden Gesellschaft zwischen Ost und West an der Südperipherie des Alten Kontinents in der Renaissance- und Barockzeit ans Licht bringen. Diese Quellenpräferenz bezüglich der Notariatsakten hat sich erst in den letzten Jahrzehnten durchgesetzt, nachdem seit dem Ende des 18. Jh.s vor allem die offiziellen Akten der Administration der Serenissima durchforstet wurden und fast ausschließlich im Vordergrund gestanden haben. Doch die Geschichte „von unten“, die auch Mentalitäten, Alltagspraktiken, individuelle Handlungsmotivationen, Gesellschaftsleben, ethische Normen und Formen der Interaktion in einer Art historischer Kulturanthropologie umfassen, lässt sich mit solchen offiziösen Quellen nicht schreiben. Vereins- und Zunftwesen spielen in jedem Fall eine entscheidende Rolle für das Gesell schaftsleben; im „institutionsarmen“ Südosteuropa der Neuzeit bildet die Großinsel Kreta eine Ausnahme, denn die Organisation der Berufsgilden und Bruderschaften überträgt in Struktur und Terminologie im Wesentlichen die komplexen Gegebenheiten der Lagunen stadt. Daraufverweist das kurze Vorwort von Chrysa Maltezu (9-11). Angeliki Panopulu, heute Redakteurin am Institut für Historische Studien der Nationalen Forschungsstiftung 600 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen in Athen, hat seit 1988 eine ganze Reihe von Spezialstudien zu Facetten ihres Dissertations themas vorgelegt; die Fülle des Archivmaterials und der Reichtum an Detailinformationen sind schier überwältigend. Die Vorlage dieser Monographie bedeutet ohne Zweifel einen großen Fortschritt in der ohnehin dynamischen Forschung der Kultur- und Sozialgeschichte Kretas unter der Venezianerherrschaft, die aufgrund der Quellenlage zu den am besten erforschten Perioden der Großinsel seit der minoischen Kultur zählt. Die Einleitung (13-34) geht auf die Forschungslage zum Zunft- und Bruderschaftswesen in Venedig und im übrigen hellenophonen Raum ein, auf die Spezifik der Notariatsakten und anderer Quellengruppen, auf den Forschungsstand in der internationalen Bibliographie sowie auf den eigenen langjährigen Forschungsweg, der zu diesem bemerkenswerten und gewichtigen Ergebnis geführt hat. Der 1. Teil der Studie beschäftigt sich mit Organisation und Funktion der religiösen Bruderschaften und professionellen Berufsgilden, der 2. Teil geht auf die spezifische Situation in Kreta mit der Erfassung aller einschlägigen quellen kundigen Körperschaften, ihrer Aktivitäten und der namentlich bekannten Personen, die in führenden Positionen daran beteiligt waren, ein. Im 1. Teil (35-164) steht zuerst der institutioneile Aspekt im Mittelpunkt - katholische und orthodoxe Bruderschaften (in den Städten bereits seit 1348, besonders ab dem 16. Jh., in den Dörfern eher vereinzelt), wobei die katholischen Bruderschaften durchwegs überwiegen (in Candía 16 katholische und 5 orthodoxe).
Berufsgilden und professionellen Zünfte sind seit ca. 1500 nachzuweisen (in Candía zuerst die Kalfaterer und Schiffstischler, Schuster und dann weitere). Dann folgt eine Analyse der Rolle und Eingriffe der staatlichen und kirchlichen Behörden (Genehmigung, Schlichtungen, Abstellen von Missbrauchen) unter Bevorzugung der Arbeiter in den Reedereien (maestranze), deren Zunftorganisation auch in der Lage war, auf die Obrigkeit Druck auszuüben. Ein Themenkreis betrifft die Organisationsformen (59-88). Um die behördliche Erlaubnis zu bekommen, mussten elaborierte Reglemente und Statuten eingereicht werden, die die Details zu bestimmen hatten: den Schutzheiligen und den Sitz der Bruderschaft bzw. der Berufsgilde (z. B. die Kalafater hatten den Gekreuzigten, die Schuster den Hl. Nikolaos usw.) und die Kirche bzw. das Kloster ihrer Residenz, die ins Auge genommenen Aktivitä ten und die innere Hierarchie. Festgehalten war dies in den einzelnen capitole der Statuten (;mariegole): die Administrationsorgane (Generalversammlung - capitolo, der Verwaltungs rat — banca, der Vorsitzende — vardian!guardian, consiglieri, sindici, der Sekretär — serivan, bei den Bruderschaften der Prior, der vicario, die procuratori, der sacristano), die Embleme (Banner) und das offizielle Ornat. Ein weiterer Themenkreis geht auf die gesellschaftliche Zusammensetzung ein (89-104): Inskription, Aufnahme und Anzahl der Mitglieder, ihre soziale Herkunft und ökonomische Stellung, Frauen als Mitglieder. Danach geht es um die Finanzierungsquellen (105-116): Mitgliedsbeiträge, Pfründe und Zuwendungen, die Art der
Hilfeleistungen. Es folgt die philanthropische Tätigkeit (117-134, bei den Gilden nur für die Mitglieder): Mitgift und Aussteuer für Mädchen, Almosen für Mittellose, Kranke und Bejahrte, Erstellung von Be gräbniskosten, Freikauf von Gefangenen, Versklavten und Verurteilten (bes. bei Matrosen aufgrund der Piraterie), Leitung von wohltätigen Institutionen. Dazu kommt noch der Kirchen(um-/aus-)bau, Restauration und Dekoration des Zunft- bzw. Bruderschaftssitzes Südost-Forschungen 72 (2013) 601
Kunstgeschichte, Volkskunde (135-146), die Errichtung von Grabmälern, die Organisation von Festen und Litaneien (147-164, z. B. Fronleichnamsprozession, Flagellanten am Karfreitag, Festtag des Schutz heiligen). Der 2.Teil der Monographie (165-460) geht dann ins Detail und stellt die Gesamtin formationen zu den einzelnen Zünften und Bruderschaften auf Kreta vor allem im 16. und 17. Jh. zusammen. Hier sind die einzelnen Funktionsträger mit Datum und Quelle genannt, Mitglieder, Aktivitäten usw. Bei den katholischen Bruderschaften (165-243) macht den Anfang die „Sancta Maria Cruciferomm“, gefolgt von „San Vincenzo (del Santissimo Sagramento)“ (mit besonders detaillierten Quellen), die Flagellanten-Bruderschaft „Verbe ratorum Sánete Crucis“, „Santa Barbara di bombardieri“, „di San Sebastiano“, „San Zorzi“, „San Zorzi intitolato Venetico“, „di Santissimo Nome di Dio et San Rocho“, „di Madonna di Santissimo Rosario“, „di San Giovanni Battista“, „del Cordon di San Francesco“, „di San Carlo Borromeo“, „Vergine di Carmeni“ (Karmeliter), „di Cintura/Centuratorum Sancti Augustini“, „del Angelo Custode“ usw. Die orthodoxen Bruderschaften sind weit weniger, dafür umso bedeutender (245-307): „Dei Genitricis Domina Angelorum“ (schon im 14. Jh.), „Santa Maria Trimartiri“ (17. Jh.), „Santo Onufrio“, „San Spiridon“ usw. Die Analyse der Berufsgilden (309-460) beginnt mit den Kalafatern, gefolgt von den Schiffstischlern (marangoni), den Schustern, den Maurern (murari), den Tischlern (marangoni di soffitti), den Matrosen, den Barbieren, den Malern pittori, darunter auch El Greco), den
Schneidern {sartori), den Fassbindern (botteri, barileri), den Kleinhändlern {mereen), den Seilmachern (filacanapi), den Lastenträgern {bastasi), den Bäckern, Fischern, Rudermachern, Sattelma chern, Gärtnern, Wirten usw. Ein weiterer Teil der Monographie geht aufdie Verteilung von Gilden und Bruderschaften auf die Städte und Dörfer des venezianischen Kreta ein (461-476). Den umfangreichen Band beschließen ein Epilog (477-484), die Archivquellen (485-490), eine reichhaltige Auswahlbibliographie (491-506), ein erschöpfendes Namens- und Ortsverzeichnis (507544), das italienische riassunto sowie das Inhaltsverzeichnis. Die Arbeit besticht durch die minutiöse Quellenarbeit, den prosopographischen Reich tum, die zeitraubende Meinarbeit der Detailverifizierung, aber auch durch die ausgewogene Zusammenschau und stilistische Klarheit. Mit Gewissheit wird dieses Buch für lange Zeit ein Referenzwerk zur Kulturgeschichte des venezianischen Kreta bleiben, aber auch Aus gangspunkt für eine ganze Reihe von neuen Fragestellungen, die Facetten des Alltagslebens vor allem im 16. und 17. Jh. betreffen. Athen, Wien 602 Walter Puchner Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Valter PucHNER, Laographia [Volkskunde]. 8 Bände. Athen: Ekdoseis Armos 2009-2013. Bd. 1: Θεωρητική λαογραφία. Εννοιες, μέθοδοι, θεματικές [Theoretische Volkskunde. Begriffe, Methoden, Themen], 2009. 691 S., ISBN 978-960-527-508-2, € 35,66 Bd. 2: Συγκριτική λαογραφία A '. Έθιμα και
τραγούδια της Μεσογείου και της Βαλκανικής [Vergleichende Volkskunde, Bd. 1: Bräuche und Lieder im Mittelmeer und im Balkan], 2009. 362 S., ISBN 978-960-527-547-1, € 20,39 Bd. 3: Συγκριτική λαογραφία В '. Δημώδη βιβλία καιλαϊκά θεάματα στη Χερσόνησο του Αίμου [Vergleichende Volkskunde, Bd. 2:
Volkstümliche Bücher und populare Schauspiele auf der Balkanhalbinsel]. 2009. 252 S., ISBN 578-960-527-558-7, € 17,32 Bd. 4: Ιστορική λαογραφία. Η διαχρονικάτητα των φαινομένων [Historische Volkskunde. Die diachrone Dimension der Phänomene], 2010.750 S., ISBN 978-960-527-610-2, € 45,43 Bd. 5:
Κοινωνιολογική λαογραφία. Ρόλοι, συμπεριφορές, αισθήματα [Soziologische Volkskun de. Rollen, Verhaltensweisen, Gefühle]. 2010.422 S., ISBN 978-960-527-616-4, €28,27 Bd. 6: Η ξεχασμένη νύφη. Από την Ιταλική Αναγέννηση στο ελληνικό λαϊκά παραμύθι [Die vergessene Braut. Von der italienischen
Renaissance bis zum griechischen Volksmärchen]. 2011. 470 S., ISBN 978-960-527-675-1, € 30,99 Bd.7: Μυθολογικά και ά)λα θέματα [Mythologische und andere Themen], 2012. 227 S., ISBN 978-960-527-718-5, € 15,98 Bd. 8: Μελέτες για το είληνικά δημοτικά τραγούδι [Studien zum griechischen Volkslied]. 2013.
542 S., ISBN 978-960-527-753-6, € 33,֊ Walter Puchner/Manóles Barbunēs, Greek Folk Culture. A Bibliography of Literature in
English, French, German and Italian on Greek Folk Culture in Greece, Cyprus, Asia Minor (before 1922) and the Diaspora (up to 2000). Athens: Laographia 2011 (Bulletin of the Hellenic Laographic Society. Supplement, 15)- 732 S., ISBN 978-96089854-5-2 Valter Puchner, Δοκίμιαλαογραφικής θεωρίας [Essais zur volkskundlichen Theorie]. Athen: Ekdoseis Gutenberg 2011. 374 S., ISBN 978-960-01-1428-7, € 25,Den Lesern der Südost-Forschungen das wissenschaftliche Werk Walter Puchners vor zustellen, bedeutet, Eulen an dessen Wirkungsstätte Athen zu tragen. Seit Jahrzehnten fördert Walter Puchner die kulturgeschichtliche, anthropologische und theatergeschicht liche Erforschung der Hämushalbinsel. Als Rezensent vermittelt er Jahr für Jahr zudem wesentliche Neuerscheinungen aus der griechischen Fachwelt. Sein eigenes Œuvre hat Walter Puchner in einer großen Zahl von Aufsätzen vorgelegt, die, in vielen Zeitschriften und Sammelwerken erschienen, nicht immer leicht zugänglich sind. In den letzten Jahren nun hat er die Sammlung dieser Aufsätze sowohl in deutscher wie in griechischer Sprache an die Hand genommen. Anzuzeigen ist hier in erster Linie die bereits acht stattliche Bände mit rund 4 000 Seiten umfassende Werkausgabe volkskundlicher Studien, die den Reihentitel „Laographia“ trägt. Puchners Ansatz, den südosteuropäischen Raum gleichsam von Süden her zu erschließen, aus einem südosteuropäisch verstandenen Griechenland nach Norden zu blicken, warf in den letzten Jahrzehnten wertvolle Früchte ab, denn allzu off wird Südosteuropa primär aus südslawischer Perspektive betrachtet und die
nichtslawischen Kulturen als Annexe behandelt. Südost-Forschungen 72 (2013) 603
Kunstgeschichte, Volkskunde Dabei wird seit dem Rückgang humanistischer Bildung gerade das griechische Element aus Südosteuropa gleichsam ausgeschlossen, eine Entwicklung, der das vom offiziellen Griechenland kultivierte Bild eines mediterranen, vom Balkan abgekoppelten Hellas kräftig zuarbeitet. Puchner betreibt Balkanologie als Sprachkulturen- und religionenübergreifende Kulturwissenschaft und bewegt sich mit beeindruckender Sicherheit in allen kulturellen Ausdrucksformen zwischen den Polen Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wobei Übergangs erscheinungen besondere Aufmerksamkeit gilt. Sein räumlicher Blick umfasst nicht nur den Balkan als ganzheitlichen Kulturraum, sondern geht gleichsam entgrenzt weit in den ostmediterranen Bereich hinaus. Es ist dieser besondere Zugang zur südosteuropäischen Kultur, die gerade Epochen, die von der rein historischen Forschung eher vernachlässigt werden, eine eigene Tiefe und Bedeutung verleiht und darüber hinaus gängige Epochen grenzen relativiert. Im Vorwort zum 1. Band schreibt Puchner, das Wiederaufgreifen älterer Texte zur Volkskunde sei „gewissermaßen eine Rückkehr zu seiner ersten Liebe“. Wie außerordentlich fruchtbar diese Liebe in den letzten rund vier Jahrzehnten war, kann hier nur durch eine Aufzählung der Inhalte angedeutet werden. Die Bände sind dabei nach Themenschwerpunkten untergliedert: Bd. 1 „Theoretische Volkskunde. Begriffe, Methoden, Themen“ stellt als einziger der Bände eigentlich eine eigenständige Monographie dar. Bd. 2 „Vergleichende Volkskunde, Bd. 1 : Bräuche und Lieder im Mittelmeer und im Balkan“ bietet
Aufsätze zu Anprangerung und Tod des Judas, zum Frühlingsbrauch um die Wiedererweckung des Lazarus, zum „Regenmädchen“, zu Richtern und Gerichten im Karneval und zu ekstatischen Tänzen im Balkanraum. Bd. 3 „Vergleichende Volkskunde, Bd. 2: Volkstümliche Bücher und populare Schauspiele auf der Balkanhalbinsel“ enthält die griechische Fassung des Aufsatzes „Zu Rezeptionswegen populärer (Vor-)Lesestoffe der Belletristik in Südosteuropa im 18. und 19. Jahrhundert“1, während die zweite im Band abgedruckte Arbeit Elemente der Studie „Performative Riten, Volksschauspiel und Volkstheater in Südosteuropa“2 weiterentwickelt. In Bd. 4 „Historische Volkskunde. Die diachrone Dimension der Phänomene“ sind Bei träge veröffentlicht u. a. zum Umgang mit heidnischen Götterbildnissen in frühchristlicher Zeit, zum in weiten Teilen des Balkans verbreiteten Brauch der Rosalien, zur Verbrüderung {Adelphopoiia, pobratimstvo), zum venezianisch-osmanischen Krieg 1685-1689 in deut schen Volksliedern, zum anonymen kretischen Gedicht,Altes und Neues Testament“, zu französischen und italienischen Quellen zur frühneuzeitlichen Volkskultur auf Naxos, zu Volksbräuchen im Hirtenmilieu, zum byzantinischen Ödipus und dem apokryphen Judas sowie zu Sabatai Zvi und dem Karneval von Zante im Jahre 1666. Bd. 5 „Soziologische Volkskunde. Rollen, Verhaltensweisen, Gefühle“ beinhaltet stark erweiterte bzw. umgeschriebene griechische Fassungen von Aufsätzen wie „Spuren frauenbündischer Organisationsformen im neugriechischen Jahreslaufbrauchtum“3, „Normative Aspekte der Frauenrolle in den exklusiv femininen Riten des
hellenophonen Balkanraums 4, „Frauenbrauch. Alterssoziologische Betrachtungen zu den exklusiv femininen Riten Süd osteuropas“5, „Die jRogatsiengesellschaften. Theriomorphe Maskierung und adoleszenter Umzugsbrauch in den Kontinentalzonen des Südbalkanraumes“6, „Groteskkörper und Verunstaltung der Volksphantasie. Zu Formen und Funktionen somatischer Deformation 7, 604 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen „Lob- und Ansingelieder als Quellen der historischen Ruralsoziologie“8, „Körpersprache. Am Beispiel Griechenlands“9, „Die Memoiren des griechischen Revolutionsgenerals Markryjannis aus kultursoziologischer Sicht“10. Bd. 6 „Die vergessene Braut. Von der italienischen Renaissance bis zum griechischen Volksmärchen“ bildet zugleich Bd. 1 der „Märchenkundlichen Studien“. Bd. 7 „Mythologische und andere Themen“ (zugleich Bd. 2 der „Märchenkundlichen Studien“) versammelt Abhandlungen zu Märchenstoffen um Ödipus, Orpheus und Pelops, aber auch z. B. eine Studie zur südslawischen Märchensammlung Friedrich Salomo Krauss’, eine Arbeit zum Bild des Griechen in südslawischen Märchen und eine Analyse des Gelehrtenarchivs von Georgios Megas. Bd.8 schließlich umfasst „Studien zum griechischen Volkslied“, darunter ein griechisches Lied zur 2. Türkenbelagerung Wiens (1683) und Studien z. B. zur „Erophili“ des Georgios Chortatsis in mündlicher Überlieferung und zur griechischen Zeitgeschichte im Spiegel des Volksliedes. Die „pièce de résistance“ bildet eine rund 250 Seiten umfassende Forschungs geschichte „Vierzig Jahre Forschung zum griechischen Volkslied“. Diese gesammelten Werke zeichnet aus, dass der Verfasser die einzelnen Beiträge biblio graphisch auf den neuesten Stand gebracht und teilweise auch umgearbeitet hat. Es handelt sich also um weit mehr als einen Abdruck bekannter Arbeiten - vielmehr ist die Werkausgabe „Laographia“ als Fassung (vorerst) letzter Hand zu bezeichnen und zu verwenden. Die stupende Meisterschaft über eine ausufernde Forschungsbibliographie
kennzeichnet Puchners Werk. In Ergänzung zu seiner Werkausgabe hat er als bibliographisches Hilfsmittel zudem eine 730 Seiten starke Forschungsbibliographie zur griechischen Volkskultur vorge legt. 2011 erschien bei Gutenberg in Athen ein Band mit Essays zur volkskundlichen Theorie mit Aufsätzen wie „Wer ist schließlich und endlich das Volk?“, „Der theatrale Charakter der popularen Kultur“ oder „Literarische Verwendungen der Volkskunde“. Ein derart umfangreiches Opus kann kaum auf einen Nenner gebracht werden und entzieht sich daher auch der Gattung der Rezension. Die angesichts der Breite der Themen geradezu andeutungsweise Anzeige in den „Südost-Forschungen“ soll den an südosteuropäi scher (Volks-) Kultur interessierten Leser mit Nachdruck auf diese Werkausgabe hinweisen. Ein Wermutstropfen freilich bleibt: Vielen Südosteuropawissenschaftlern werden die acht Bände aufgrund der Sprachbarriere verschlossen bleiben. Doch gerade dies sollte ein Grund mehr sein, das immer noch vorherrschende Bild eines slawisch geprägten Südosteuropa aufzugeben und gerade die griechische Dimension südosteuropäischer Geschichte, wie sie Walter Puchner so eindrucksvoll vertritt, auch in die Forschungspraxis der Geschichtswis senschaft zu überführen. Wien Oliver Jens Schmitt 1 Südost-Forschungen 65166 (2006/2007), 165-225. 2 Erschienen in: Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes. Wien, Köln, Weimar 2009, 253-298. 3 Schweizer Archiv fiir Volkskunde 11 (1976), 146-170. 4 In: Norbert Reiter (Hg.), Die Stellung der Frau auf dem Balkan. Wiesbaden 1987,
133-141. 5 In: Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raumes, 151-176. Südost-Forschungen 72 (2013) 605
Kunstgeschichte, Volkskunde 6 Südost-Forschungen 36 (1977), 109-158. 7 In: Burkhard Pöttler (Hg.), Innovation und Wandel. Festschrift für Oskar Moser. Graz 1994, 337-352. 8 In: Walter Puchner, Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 169-183. 9 In: Dagmar Burkhart (Hg.), Körper, Essen und Trinken im Kulturverständnis der Balkan völker. Berlin 1991, 149-155. 10 Südost-Forschungen 34 (1975), 166-194. Aura Xepapadakë, Παύλος Καρρέρ [Pavios Karrer]. Athen: Fagotto Books 2013. 504 S., zahir. Abb., ISBN 978-960-6685-52-1, € 28,Die griechische Musikwissenschaft beginnt seit etwa drei Jahrzehnten, sich für ihre nicht unbedeutende westeuropäische Musiktradition zu interessieren. Diese stand seit der Nach kriegszeit im Schatten der Beliebtheit der rebetika-hieået und der Popularität von Kompo nisten wie Mikis Theodorakis, Manos Chatzidakis oder Stavros Xarchakos, die allerdings auch komplexere Kunstmusik produziert haben, die aber nicht so bekannt geworden ist wie die Liedproduktion und die Intonation von Lyrik aus der Feder preisgekrönter Dichter. Die wesdiche Tradition des Musikschaffens im hellenophonen Raum in kontrapunktischem Gegensatz zur byzantinischen Kirchenmusik geht auf das venezianische Kreta zurück (bis 1669).1 Komponisten wie Francesco Leontaritis im 16. Jh., dessen Kompositionen in Handschriften zum Teil erhalten sind, sind über Venedig bis an den Hof nach Salzburg und München gekommen.2 Auf den Ionischen Inseln, wo auch die Kirchenmusik im westlichen Sinne reformiert wurde, wird diese Tradition ungebrochen seit dem 18. Jh. fortgefuhrt, da 1733 das Teatro San
Giacomo in Korfu seine Pforten geöffnet hat und eine Operntradition installierte, die bis zum 2. Weltkrieg reicht, nachdem italienische Opernaufführungen auch in Hermupolis auf Syra, in Patras und Athen importiert worden sind.3 Zu Beginn der 2. Hälfte des 19. Jh.s beginnen griechische Opernkomponisten die vor herrschende italienische Schule - allerdings bereits in Konkurrenz mit der französischen Oper, aber immer noch im traditionellen italienischen Stil, wenn auch jetzt mit natio nalpatriotischen Themen aus der Revolution von 1821 - abzulösen, und einer der ersten wesentlichen Komponisten dieser Tradition ist Pavlos Karrer (1829-1896), der zusammen mit Spyros Samaras (1861-1917), Nikolaos Chalikiopulos Mantzaros (1795-1872), SpyridonXyndas (1810-1896) und Dionysios Rodotheatos (1849-1892)-die Werke der beiden Letzten sind zu einem Großteil verloren gegangen -, die heptanesische Musik-Schule der Ionischen Inseln begründet hat. Darüber gibt auch der Prolog von Giorgos Leotsakos Auskunft (7-13). Ein Teil der Werke von Karrer ist auch diesem Schicksal anheimgefallen, was zu einem Großteil auf die Bombardierungen des 2. Weltkriegs und das katastrophale Erdbeben von 1953 zurückzuführen ist. Die ausgezeichnet belegte und quellenmäßig erschöpfende Monographie von Avrà Xepapadaku, heute Lektorin für Theaterwissenschaft an der Universität Kreta in Rethymno, geht auf ihre Dissertation aus dem Jahre 2005 zurück; die Memoiren des Komponisten 606 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen hatte Leotsakos schon 2003 herausgegeben. Zur Rekonstruktion der italienischen Karriere des Komponisten aus Zante wurde auch die italienische Presse, vor allem die Zeitungen von Milanoherangezogen. Darüber berichtet der Prolog der Autorin (15-18), „Chordisma“ genannt, Einstimmung der Orchesterinstrumente vor der Vorstellung ֊ die Monographie verwendet als Kapitelüberschriften Termini der Opernauffiihrungen: Ouverture, Ano Primo, Atto Secondo, Atto Terzo, Atto Quattro, Tutti (Finale), Encore! Das Einleitungskapitel (19-68) geht auf die Jugendzeit des Komponisten auf Zante ein, auf die Europareise 1842/1843 mit seinem Onkel und die Preisverleihung für seine erste Komposition von der Philharmonischen Gesellschaft auf Korfu 1849 durch Mantzaros. Auf sein Talent aufmerksam geworden, schickte man ihn zu Musikstudien nach Italien - „Atto Primo: Il giovane maestro“. Dies bildete das bisher dunkelste Kapitel in seiner Biographie (Lücke in seinen Memorien von 1850 bis 1856), nun vorbildlich aus italienischen Quellen aufgearbeitet. In den ersten Jahren seines Aufenthaltes im Mailand in den risorgimentofahren dominiert Verdi an der Scala di Milano. Der griechische dilettante Paolo Carrer wird rasch mit eigenen Werken bekannt (das Ballett „Bianca del Belmonte“), im klassischen Sinne „studiert“ dürfte er kaum haben. Seine erste Oper, „Dante e Bice [Beatrice]“ wird 1852 im Theater Carcano von Milano aufgeführt; es folgen das komische Ballett „Cadet, il barbiere“ 1853 im Teatro alla Canobbiana, die Oper „Isabella d’Aspeno“ als erster großer Erfolg, gefolgt von der „Rediviva“
1856; nicht alle Partituren aus dieser Zeit sind erhalten. Noch während der Arbeiten an der Oper „Marco Bozzari“ über den Freiheitshelden der Griechischen Revolution, Libretto von Giovanni Caccialupi, und nach den erfolglosen Verhandlungen mit der Scala, dort eine seiner Opern aufzuführen, bekommt Karrer Sehnsucht nach seiner Heimatinsel, dem fior di Levante (1857). Darüber berichtet das 2. Kapitel (69-132). Im Theater ,Дро11оп“ von Zante werden seine weiteren Werke aufgeführt. Hier heiratet er Isabella latra. Auf Korfu spielt man seine „Rediviva“, 1858/1859 spielt er in Athen König Otto I. auf dem Klavier Teile des „Marco Bozzari“ vor, doch wegen des nationalpatrioti schen Themas lässt der Wittelsbacher Monarch, 1843/1844 durch eine Volkserhebung zur konstitutionellen Monarchie gezwungen, die Oper nicht aufführen. Karrer wendet sich nach Bologna, seine Frau wird zur primadonna··, Tourneen führen nach Athen und Smyrna. In Patras wird 1861 der „Marco Bozzari“ uraufgeführt, stößt jedoch auf die Feindschaft des Metropoliten und konservativer Kaufmannskreise, da die Aufführung in die Fastenzeit der Oster-Quadragesima fiel. Die folgenden Jahre des Kampfes um die Einigung der Ionischen Inseln mit Griechenland und des blutigen Arkadi-Aufstandes in Kreta 1866 finden Karrer unter anderem in Hermupolis auf Syra, wo eine Benefizvorstellung des „Marco Bozzari“ zugunsten der aufständischen Kreter stattfindet, diesmal bereits in griechischer Sprache. 1867 schreibt er die Musik für „Fior di Maria“, Libretto ebenfalls von Caccialupi, 1868 die „Kyra Frosyni“ mit der bekannten
melodramatischen Episode aus dem Ali Pascha-Mythos auf Griechisch, gefolgt von der italienischen Oper „Maria Antonetta“. Das 3. Kapitel (133-213) ist den Versuchen Karrers gewidmet, nach 1875 den Athener show business- und Theater-Markt mit seinem Tingel-Tangel der cafés chantants und den französischen Operettentruppen mit den Offenbach-Hits zu erobern. Hauptinstrumente dieser Strategie bilden seine griechischen Opern mit Themen aus dem historischen Na tionalmythos; zu diesem Zweck vertont er auch Lieder bekannter Dichter der Zeit. Die Südost-Forschungen 72 (2013) 607
Kunstgeschichte, Volkskunde ersten Vorstellungen finden im Musikkonservatorium von Athen statt. Zu den National opern kommt nun noch die „Despo“, von Karrer selbst ins Italienische übersetzt. Doch die Erfolge steilen sich eher außerhalb der im Taumel der belle époque und der eingängigen Operettenmelodien befindlichen Hauptstadt ein. In den 1880er Jahre kehrt er wieder nach Zante zurück. Dort verfasst er seine erste grand opéra „Marathon-Salamis“ und zwei Opernfragmente „Lambros, il brulottiere“ (über den Freiheitshelden Lampros Katsonis) und „Don Pigna“ (neben der ebenfalls unvollendeten griechischen Operette „Conte Spurgitis“ nach dem Libretto von I. Tsakasianos). Die Vorstellungen bewegen sich nun auf der Achse: Ionische Inseln, Patras, Italien; der Athener Markt bleibt weiterhin schwierig. Die Eröffnung des dortigen Munizipialtheaters 1888 wird einer französischen Truppe übertragen. Gegen Jahrhundertende wird der Athener Opern-Markt zu Lasten von Korfu, Zante, Hermupolis und Patras immer dominanter; zu den traditionellen Opernspielplätzen kommen nun der Piräus und Thessaloniki. In Smyrna und Alexandria sowie in Konstantinopel stößt man auf die italienische Konkurrenz; 1888 wird eine griechische „Melodramatische“ Truppe gegründet, in deren Repertoire sich auch Opern von Karrer befinden (seine letzte Oper mit dem altgriechischen Thema bleibt weiterhin ungespielt). Diesem Prozess der wachsenden Konkurrenz ist das 4. Kapitel gewidmet (215-249). Wie so viele andere griechische Truppen sucht auch diese Operntruppe mit Karrer im Repertoire den Erfolg im Ausland: 1889/1890
Marseille, Triest, Brăila, Galaţi, Bukarest, Odessa,4 Konstantinopel, Alexandrien, Kairo, Port-Said. Karrer folgt den eingefahrenen Routen der ambulanten griechischen Truppen der Zeit, die die hellenophonen DiasporaKommunitäten im Ostmittelmeer, im Balkanraum und in der Schwarzmeer-Region und ihre Nostalgie nach Vorstellungen aus der Heimat zu ihrem Überleben brauchen.5 Man sammelt auch Geld für die kostspielige Aufführung von „Marathon-Salamis“, doch diese wird charakteristischerweise erst im Jahre 2003 in Szene gesetzt, dann aber gleich mehrfach. Karrer bemüht sich von seiner Heimatinsel aus, wo er bis zu seinem Tode 1896 zurückge zogen lebt, die Aufführung seiner letzten Oper zustande zu bringen, jedoch ohne Erfolg. Das Kapitel schließt mit „post mortem“, seinem Nachruf und dem Nachleben bzw. der griechischen und weltweiten Rezeption seiner Opernwerke; seine griechischen Opern hatten auch im 20. Jh. eine nicht unbedeutende Rezeption im Balkanraum. Das 5. Kapitel („Tutti“, 251-355) bringt eine Analyse der Opernwerke mit der Liste der dramatis personae (und ihrer Stimmkategorie) und einer detaillierten Inhaltsbeschreibung nach Akten sowie dem Forschungsstand zu Libretto und Partitur, Musikeinflüssen und Vergleichen mit anderen Opern oder Vertonungen desselben Librettos. Darauf geht dann ausführlich und zusammenfassend das letzte Kapitel ein (357-386), gegliedert in euro päische Einflüsse (Donizetti, Verdi der Früh- und Mittelphase, französische grand opéra) und Einflüsse der Nationalopern-Bewegung (Karrer als Vorläufer der nationalgriechischen Schule von Manolis
Kalomoiris Anfang des 20. Jh.s); Kurzkapitel erhellen nicht realisierte Pläne und unbekannte Seiten seiner Biographie (z. B. das fehlende politische Engagement im italienischen risorgimento und in der Rizospasten-Bewegung auf den Ionischen Inseln für die Vereinigung mit Griechenland). Ein umfangreicher Anhang bringt die in theaterwissenschaftlichen Arbeiten übliche Auf führungsliste der Einzelwerke (387-408). Seine Zeit haben eigentlich nur die griechischen 608 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Opern überlebt: der „Marco Bozzari“ mit 45 Vorstellungen bis 1988, die „Kyra-Frosyni“ mit 12 Vorstellungen bis 1910 und die „Despo“ mit 5 bis 2008; „Marathon-Salamis“ wurde erst 2003, 2005 und 2010 in Athen aufgeführt. Es folgen die zahlreichen, kapitelweise geordneten Fußnoten (409-449) sowie die Bibliographie (450-485), unterteilt in Studien und Monographien, Musikalisches Material, phonographische Aufnahmen, Libretti, Vor stellungsprogramme und Theaterzettel, unveröffentlichtes Archivmaterial sowie Literatur werke, Chroniken und Memoiren. Die hervorragend dokumentierte Arbeit ist von einem Namensindex beschlossen (486-504). Die Monographie von Avrà Xepapadaku ist ein ausgesprochener Lesegenuss. Versehen mit zahlreichen Illustrationen, gibt sie ein umfassendes Bild des Musiklebens und der Opernkultur der Zeit sowohl auf den Ionischen Inseln als auch in Italien zur „Studien“Zeit des Komponisten in Milano, verfolgt mit breiter Quellenkenntnis seine Versuche, in Athen Fuß zu fassen, und begleitet ihn auf den Tourneen nach Frankreich, in die Ägäis, ins Donaudelta, in die Schwarzmeer-Region, an den Bosporus, ins Ostmittelmeer und an den Unterlauf des Nils. Die Arbeit ist ausgezeichnet belegt und löst eine ganze Reihe von Forschungsfragen, die sowohl die Biographie des Komponisten als auch so manche verschollenen Einzelwerke betreffen. Sie ist das Ergebnis langjähriger Recherchen und wird noch lange als ein Meilenstein der musik- und theaterwissenschaftlichen Forschung um die Anfänge der griechischen Nationaloper und der westlichen Musiktradition in Hellas im
Allgemeinen wie auch als Referenzwerk in der einschlägigen Bibliographie zur Musik- und Theatergeschichte Griechenlands zitiert werden. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. Nikolaos Panagiotakis, Μαρτυρίες για τη μουσική στην Κρήτη κατά τη Βενετοκρατία, Thesaurismata 20 (1990), 9-169. 2 Ders., Φραγκίσκος Λεονταρίτης. Κρητικός μουσικοσυνθέτης του δεκάτου έκτου αιώνα. Venedig 1990. 3 Zum Repertoire auf den Ionischen Inseln im 18. Jh. siehe Platon Mavromustakos, Το ιταλικό μελόδραμα στο Θέατρο Σαν Τζιάκομο της Κέρκυρας (1733-1798), Parabasis I (1995), 147-192; zum Repertoire während der britischen Herrschaft vgl. Walter Puchner, Η ιταλική опера στα Επτάνησα επί Αγγλοκρατίας (1813-1863). Πρώτες παρατηρήσεις με βάση τα βιβλιογραφημένα λιμπρέτα, Porphyras 114 (2005), 591-624. 4 Vgl. nun Irena Bogdanovič/Walter Puchner, Ελληνικό θέατρο στην Οδησσό 1814-1914. Athen 2013; als eBook unter http://theatre.uoa.gr . 5 Vgl. nun Walter Puchner, Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Wien, Berlin, Münster 2012, 83-159, bes. 151-159: Erfolgsrepertoire und nationalpatriotisches stage business der fahrenden Truppen. Südost-Forschungen 72 (2013) 609
Rezensionen Sprache und Sprachwissenschaft Εύττλοια. Εόρτιος τόμος για τη к δεκαετηρίδα του Τμήματος Γλώσσας, Φιλολογίας και Πολιτισμού Παρευξείνιων Χωρών [Euploia. Festschrift der Abteilung für Sprache, Phi lologie und Kultur der Schwarzmeerländer zum 10-jährigen Bestehen]. Thessaloniki: Adelphön Kyriakidi 2010. 317 S., mehrere Abb., ISBN 978-960-467-187-8 „Euploia“ bedeutet im Altgriechischen die Seetauglichkeit fur Schiffe. Seit byzantinischer Zeit sind an den Schwarzmeerküsten rund um den für seine plötzlichen Stürme gefürchteten Euxeinos Pontos (als „fremdenfreundliches Meer“ stellt die Bezeichnung einen Euphemis mus für das Gegenteil dar) hellenophone Merkantil-Kommunitäten entstanden, die sich vorwiegend mit dem Seehandel beschäftigt haben. An den Nordküsten von Kleinasien und im Hinterland haben sich ausgedehnte hellenophone Enklaven noch im Osmanischen Reich erhalten, die als Pontus-Griechen einen besonders altertümlichen Dialekt, der noch heute lebendig ist, gesprochen haben. Nach dem missglückten Kleinasienfeldzug in der Nachfolge des 1. Weltkrieges wurden diese Minderheiten 1922 zwangsweise ausgesiedelt, wobei eine ähnliche demographische Bewegung an den südrussischen Nordküsten des Schwarzen Meeres aus Furcht vor den Repressalien der Roten Armee (Einzug in Odessa 1920) vor ausgegangen war. Die Volkskunde der Pontus-Griechen bildet als Flüchtlingsethnographie seither einen eigenen, besonders interessanten Zweig der griechischen Volkskulturforschung. Diesem Forschungszweig hat sich das Institut für Kleinasiatische Studien in Athen gewid met, weil diese
Erinnerungskultur nach den Gesetzen der Konservativität der Peripherie und der Minderheiten kulturelle Strata erhalten hat, die teilweise auf das byzantinische Jahrtausend zurückführen. Und dies ist nicht nur an der Dialektologie abzulesen, sondern auch am Brauchtum und seiner Nomenklatur. Die seit 1997 bestehende Abteilung für Schwarzmeer-Studien an der Universität in Komotini bringt zu ihrem 10-jährigen Bestehen einen Festschriftband heraus, den Iakovos Aksoglu, Evangelia Thomadaki, Georgios Salakidis und Manolis Sergis redigiert haben. Letzterer ist als Mitherausgeber des zweibändigen Handbuches zur griechischen Laographie' bekannt geworden; seine Arbeiten wurden auf diesen Seiten schon mehrfach vorgestellt.2 Der Band ist als Leistungsausweis dieser für die vergleichende Balkanistik unmittelbar interessanten universitären Institution gedacht, und beginnt mit Tätigkeitsberichten, die für jegliche Eva luierung eine Auflage sine qua non darstellen. Aufgrund des gesamtkulturellen Spektrums der Abteilung sind in den Abhandlungen ganz verschiedene Beiträge zwischen Geschichte, Rechtswissenschaft, Kulturforschung, Philologie, Linguistik und Landeskunde vertreten. Den Beginn macht Paschalis Valsamidis zu unveröffentlichten Dokumenten zu Wahlen der Epikospatshelfer in der Zwischenkriegszeit im kleinasiatischen Raum (31-54), gefolgt von Vasilios E. Grammatikas zum Begriff und der Praktik der Repressalien seit dem Al tertum und Mittelalter (55-91). Evangelia Thomadaki beschäftigt sich mit semantischen Typologien der Adjektive im Griechischen (93-109), Panagiotis G. Krimpas geht
in einem spanischen Artikel auf die Schwierigkeiten der Übersetzung juridischer Terminologie im internationalen Handelsrecht ein (111-120), Theophanis Malkidis beschäftigt sich mit der Kurdenfrage (121-139), Christina Marku geht in einem balkankomparativen Artikel auf die semantischen Nuancen und die phraseologischen Kontexte des Wortes Herz (kardia, 610 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen särce) im metaphorischen und wörtlichen Gebrauch im Griechischen und Bulgarischen ein (141-154), und Ioannis Th. Bakas fokussiert seine Ausführungen auf die Geschichte des makedonischen Erziehungsvereins in Serres in der 2. Hälfte des 19. Jh.s als ein Beitrag zur Organisation und Tätigkeit griechischer Erziehungs- und Kulturvereine im spätosmanischen Reich (155-182). Ähnlich gelagert ist der englische Artikel von Ioannis M. Mpakirtzis, „National Identity in Xanthi at the End of the 19th and the Early 20th Century“ (183-202). Der Historie verpflichtet sind auch die folgenden Artikel von Iuliana Pogosova zum „Freundesbund“ (Filiki Etairia) und den Dekabristen als Beitrag zur Erforschung der Ein flüsse der griechischen Revolution in Russland (203-209) sowie von Martha Pylia zum „Tableau général de l’Empire Othoman“, dreibändig von 1787-1820 in Paris aus der Feder des Armeniers Mouradgea d’Ohsson (Istanbul 1740 - Paris 1807), Protegé der Schwedischen Botschaft am Bosporus, erschienen (211-220). Der nationaltürkischen Literatur wendet sich dann Giorgos I. Salakidis zu (221-248), und der Identitätsforschung Manolis I. Sergis, der über eine lokale Kommunität von ausgesiedelten Pontus-Griechen in den Rhodopen im Zeitraum 1923-1970 berichtet (249-269). Den durchwegs heterogenen, aber nicht uninteressanten Band beschließen die Beiträge von Tsiprian-L. Sutsiu über griechische Übersetzungen rumänischer Literatur nach 1945 (271-295) und von Eleftherios Charatsidis über das ethnographische Denken im zaristischen Russland vom 17. bis zum 20. Jh. (297-317). Die meisten
Beiträge sind mit einem englischen oder auch französischen bzw. spanischen Abstract versehen und bringen Verweise in Fußnoten oder als „References“ am Ende des entsprechenden Beitrags. Wenn Leistungsausweis thematische Vielfalt bedeutet, so ist der eigenreflektive Festschriftband durchaus gelungen; die Koordination der Einzelforschungsrichtungen in einer facettenreichen Synthese wäre dann der nächste Schritt. Ob die Abteilung das universitäre Fusions- und Sparprogramm mit dem schönen Titel „Athena“ überleben wird, darüber wagt jedoch derzeit niemand eine Aussage zu machen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Ελληνική Λαογραφία. Ιστορικά, θεωρητικά, μεθοδολογικά, θεματικές. Athen 2012. 2 Zu den Lebenslaufriten im kleinasiatischen Pontus-Gebiet siehe Südost-Forschungen 67 (2008), 571f.; zur Volkskunde der Pontus-Griechen Südost-Forschungen 68 (2009), 757f. Vgl. auch Österreichische Zeitschrififür Volkskunde LV/104 (2001), 75-78. Andreas Pásztort, Brevis Grammatica Bulgarica. Hgg. Kiril Kostov / Klaus Steinke. Nachwort v. Sigrun Comati. München, Berlin, Washington/DC: Verlag Otto Sagner 2013 (Bulgarische Bibliothek, 19). XVI, 129 S„ 129 Abb., ISBN 978-3-86688-375-8, €32,Als früheste Literaturwerke des Neubulgarischen gelten die „Damaskini“ seit dem Ende des 16. Jh.s, denen noch die „Istorija slavenobolgarskaja“ des Paisij Chilendarski von 1762, mit der man gewöhnlich die Geschichte des Neubulgarischen beginnen lässt, nahesteht. Südost-Forschungen 72 (2013) 611
Sprache und Sprachwissenschaft Versuche, eine neubulgarische Norm zu schaffen, setzen aber erst mit der 1824 in Kron stadt erschienenen Fibel Petar Berons und der „Bolgarska grammatika“ des Neofit Rilski (Kragujevac 1835) ein, obwohl noch 1907 Gustav Weigand konstatieren musste, dass das Bulgarische weiterhin eine feste Norm vermissen lasse (X). Während die bisher genannten Werke für die Hand der lernenden bulgarischen Jugend bestimmt waren, stehen bei dem hier vorzustellenden Werk andere Motive im Vordergrund. Andreas Pásztory, fur dessen Lebensweg in der vorliegenden Arbeit lediglich auf einen Aufsatz Kostovs von 201 Iі verwiesen wird (IX, XV), musste nach dem gescheiterten un garischen Aufstand von 1848 fliehen und gelangte in den Raum Plovdiv, wo er 1852 bis 1867 als Lateinlehrer in der Gemeinde bulgarischer Katholiken tätig war. Hier entstand seine „Brevis Grammatica Bulgarica“, von der Pásztory selbst auf dem Titelblatt sagt, sie sei von ihm aus der deutschsprachigen Grammatik der Brüder „A. D. CankoF, die 1852 in Wien im Druck erschienen war, übersetzt und dem alltäglichen Sprachgebrauch der Bulgaren angepasst worden (III, IX). Als vermeintlich bloße Übersetzung hat diese handschriftlich gebliebene Grammatik, die lediglich 65 Blätter umfasst (gegenüber den VT+218 Seiten der Vorlage), in der Bulgaristik wenig Beachtung gefunden. Sie blieb im Besitz der katholischen Gemeinde von Kaläcli (heute Teil der Stadt Rakovski), der größten Paulikianergemeinde im Raum Plovdiv, bis sie nach der Auflösung der Bibliothek 1971 in die Bulgarische Nationalbibliothek in Sofia kam, wo
Kiril Kos tov 1973 auf sie aufmerksam wurde. Als Frucht über 30-jähriger Beschäftigung mit dem Text legt er nun zusammen mit Klaus Steinke die Edition dieser Grammatik vor (III£, XIII). Die Edition umfasst außer dem Faksimile mit Übersetzung ins Deutsche und in Fuß noten kommentierter Transkription des Sprachmaterials ins Kyrillische ein Vorwort der Herausgeber (Ulf.) und Anmerkungen von Steinke zur Anlage der Ausgabe (V-VIII) sowie ein Nachwort von Sigrun Comati (ЇХ-XIV). Ihr danken die Herausgeber im Vorwort dafür, dass sie den für das Faksimile notwendigen Mikrofilm besorgt und die Aufnahme der Edition in die Reihe der Bulgarischen Bibliothek ermöglicht habe. In ihrem Vorwort geht Comaţi knapp auch auf den historischen Rahmen der Entstehung des Textes ein. Für die Edition wäre es freilich wünschenswert gewesen, die Pásztory-Grammatik durch gehend mit der Cankov-Grammatik und auch mit der 1862 entstandenen italienischen Version der Pásztory-Grammatik zu vergleichen, von der die Herausgeber sagen, dass in ihr „die Darstellung des Bulgarischen konziser und einheitlicher“ sei als in der lateinischen Fassung (III). Wenn sie es freilich „unbegreiflich“ (IV) nennen, dass „von der Grammatik der Cankofs bisher noch kein Reprint angefertigt wurde“, so trifft der Vorwurf nicht, denn ein solcher ist 2011 bei Nabu Press erschienen. Die Cankov-Brüder Алгол (um 1818-um 1891) und Dragan (1828-1911), die beide unter anderem in Wien philologische Studien betrieben und sich Verdienste um die Bulga rische Wiedergeburt errungen haben, nennen in der Vorrede als Motiv für die Publikation
ihrer Grammatik in deutscher Sprache „das lebhafte Verlangen, unsere geliebte Mutter sprache, wie man sagt, in die Welt einzuführen, und ihr gegen mannigfache Unbilden, die ihr von verschiedenen Seiten angethan wurden, gerechte Würdigung und Anerkennung zu verschaffen“ (V). Vor allem ging es ihnen darum zu zeigen, dass das Bulgarische Teil des slawischen Stammes sei. Das dürfte der Grund dafür sein, dass sie für die Publikation das 612 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Deutsche wählten, die Hauptsprache der aufstrebenden Slawistik, und eine wissenschaftliche Orthographie, wie sie bei Slawisten allgemein im Gebrauch war. Ganz anders das Anliegen Pásztorys: Nicht Wissenschaftlichkeit, sondern praktische Verwendbarkeit steht bei ihm im Vordergrund, und nach der Formulierung auf dem Titelblatt könnte man sogar vermuten, dass Pásztory, der bei seiner Ankunft in Bulgarien dieser Sprache noch nicht mächtig war (IX), seine Grammatik zunächst als bloßes Exzerpt aus der Cankov-Grammatik fur den persönlichen Gebrauch zusammengestellt habe. Dafür spricht eine Reihe von Fehlem, auf die die Herausgeber eingehen. So hat Pásztory cvêtkov-ùt vol „Florians Ochs“ der Vorlage missverstanden als „florens vinilus“ ( 1423), das Femininum vrùf„Strick2 mit dem Masku linum vräh „apex“ verwechselt (27бб 29бѕ ), findet sich (55ш) ein Genusfehler (Mastilloto [.] è tvarde gasto, nalejte malko voda vav nej für Mastílo-to je tvürdegustó, nalejte mâlko vodu fnègo „Die Tinte ist sehr dick, gießen Sie ein wenig Wasser hinein“), unterscheidet er gegen die Vorlage fälschlich drei Genera im Plural der Possessivpronomina (73ш) gibt es syntaktisch falsche Sätze wie As seta ghi dam vi „ego dabo ea vobis“ (69159), und von seiner Darstellung des bulgarischen Tempus- und Aspektsystems sagen die Herausgeber einleitend, dass sie „nur sehr fragmentarisch und fehlerhaft“ sei. „Die Vorlage ist erheblich gekürzt und wohl teilweise auch missverstanden worden, worauf etliche Fehler zurückzuführen sind“ (9O1S9). Besondere Probleme hat Pásztory offenbar mit irrealen
Bedingungssätzen, in denen er das Imperfekt durch eine nichtexistente Formen, die er Optativ nennt, ersetzt, z. B. Ako bèh as tólkos čestit „Würde ich so glücklich gewesen sein“ durch Ako bi beh as tolkos eestit (93ı*) oder Asflézuvah vütrê, ako ne bê'hù tólkos mlógo hóra tam „Ich würde hineingegangen sein, wenn nicht so viele Leute da gewesen wären“ durch Asfleguvahfotre, ako bi ne bi beha tolkos hora tam (I2I224). Vier Jahre später, als Pásztory am 24.10.1856 seine Grammatik beendet (129), ist dann aus seinen Exzerpten samt Verbesserungen eine Grammatik geworden, die er auch anderen zur Verfügung stellen will. Diese anderen sind wie er Katholiken und befasst mit der Verbreitung des Katholizismus unter den Bulgaren; allen gemeinsam ist als Klerikern die Vertrautheit mit dem Lateinischen (X). Zur Wiedergabe des Bulgarischen verwendet Pásztory nicht die wissenschaftliche Transkription, sondern ein System, das ähnlich, unter Orientierung am italienischen Modell, auch bei den Kroaten üblich war (e für c, sc für /, x für z, z für c unterschieden von j für z; für ã schreibt er manchmal ä, meist aber nur a). Das ergibt sich allerdings nur aus seinem Gebrauch, denn statt einer Beschreibung der Sprachlaute (in seiner Vorlage immerhin mehr als sieben Seiten) findet sich bei ihm nur der eine Satz, „Sed in lingva bulgarica hae iterum fumunt diversas pronuntiationes quas homo usu potest adiscere“ (V). Kroatische Einflüsse lassen sich auch sonst feststellen, so bei der Verbalform liubimo „amamus“ und kada liubimo (10020ւ-101շօշ) ohne Vorbild in der Vorlage. Die Herausgeber erklären auch
die Endung -e neben -i im Plural der Adjektive durch kroatischen Einfluss (IO19). Als Katholik und Lehrer bei Paulikianern stößt sich Pásztory eher an archaischen, durch das Kirchenslawische konservierten Formen, die es in der Cankov-Grammatik noch in größerer Zahl gibt. So gebraucht er nur den Dativ na Bogha, wo die Cankov-Grammatik neben na-Bóga noch bógu kennt (3982), und im Vokativ hat er 0 Gospode, eine Form, die auch sonst bei Paulikianern belegt ist (schon 1651 imЛбагар, fol. 5՝ Twcnwde), statt Gospodi Südost-Forschungen 72 (2013) 613
Sprache und Sprachwissenschaft der Vorlage (39ѕз) das allerdings daneben an anderer Stelle (33) unter den unregelmäßig gebildeten Vokativen genannt wird. In dieselbe Kategorie fällt wohl auch die Ersetzung von istete (Istete li da jedéte ribui) durch volkssprachliches ískate {Iskateli da jodete ribat) (44ւօշ). Erstaunlich ist allerdings, dass Pásztoiy sogar das Wort bogát {Ti si tvürdê bogát) seiner Vorlage durch den Turzismus zengin {Tisi tvardezenghin „Tu es valde dives“) ersetzt (119շււ); vielleicht, da es ihm unpassend vorkam, den Namen Gottes etymologisch mit weltlichem Reichtum in Verbindung zu bringen. Einen gewissen Wert hat die Pásztory-Grammatik als Quelle für die historische Dia lektologie; Cornati weist ausdrücklich auf das Vorhandensein ostbulgarischer Dialektzüge und Lexik des Plovdiver Raumes hin (IX). Als Beispiele seien genannt: die Ersetzung von prikdzuvami der Cankov-Grammatik durch bortuvame (2IQ oder das Vorhandensein der Kurzform des maskulinen Artikels {Toj cesto vidi zara fur Toj često vidi caret [42и]). Wenn andererseits Steinke von Pásztory sagt, dieser habe ekavisch-westbulgarische Züge bevorzugt (VII), so ist das vor dem Hintergrund der Herkunft der Cankov-Brüder aus Svištov im westbulgarischen Dialektraum nicht auffällig, zumal die Textbeispiele und Paradigmen der Pásztory-Grammatik fast ausnahmslos dieser Vorlage entnommen sind (VIII, 6). Für die Geschichte des Neubulgarischen ist die Pásztory-Grammatik wegen der unvoll kommenen Sprachbeherrschung ihres Verfassers von nur untergeordneter Bedeutung; sie steht somit durchaus zu Recht im
Schatten der Cankov-Grammatik, die weit eher eine nähere Untersuchung verdient hätte. Positiv ist in jedem Fall, dass die Edition eine bislang unbekannte Quelle zur bulgarischen Sprachgeschichte zugänglich macht, ärgerlich hingegen, dass die Besonderheiten dieses Denkmals erst im Vergleich zur Cankov-Grammatik deutlich werden, dieser Vergleich aber in der Edition in die Fußnoten verbannt ist. Leserfreundlicher wäre da eine systematische Behandlung gewesen. Bonn Nicolina Trunte 1 Kiril Kostov, Andreas Pásztory und seine Brevis Grammatica Bulgarica, ՍսկՍրԽո-1սհրհահ 2011 (2012), 31-96. Franz Posset, Marcus Marulus and the Biblia Latina of 1489. An Approach to his Hermeneutics. Vorrede Kenneth Hagen. Unter Mitarbeit von Zvonko Pandžić (DVD). Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2013 (Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Neue Folge, Reihe A: Slavistische Forschungen, 74). 250 S. + DVD, ISBN 978-3-412-20756-4, € 44,90 Marko Marulić (1450-1524), der unter dem Humanistennamen Marcus Marulus schrieb und vom Autor Franz Posset so genannt wird, gilt als Vater der kroatischen Literatur, sowohl auf Latein (genannt sei das Drama „Davidias“) als auch in kroatischer (čakavischer) Spra che („Judita“, „Suzana“); ihm sind die „Marulicevi dani“, ein international renommiertes Kulturfestival in seiner Heimatstadt Split, gewidmet, das bereits seit 1991 besteht. Im April 614 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen 2009 wurde in diesem Rahmen mit der „Biblia cum comento“ das Handexemplar der von diesem kroatischen Humanisten verwendeten vierbändigen Bibel vorgestellt (19); die da rin enthaltenen Marginalien von der Hand Marulićs bilden die Grundlage fur das hier zu rezensierende Werk. Die Untersuchung konzentriert sich auf die aussagekräftigsten Stellen und ist dabei erschöpfend, auch wenn Posset in seinem Schlusskapitel (199-211) beschei den nicht wenige verbleibende Desiderata für die künftige Erforschung dieses schriftlichen Denkmals anführt. Die künftige Beschäftigung mit den Marginalia wird erheblich erleichtert durch die Beigabe einer DVD mit der qualitativ hochwertigen Wiedergabe der gesamten „Biblia cum comento“ im pdf-Format, für die Zvonko Pandžić verantwortlich zeichnet. „Biblia cum comento“ [sic!] ist jene Bezeichnung, die Marulić selbst für sein Handexem plar, das auf fast allen Seiten Marginalien von ihm trägt, gebraucht hat ( 15) ; die Bezeichnung weist darauf hin, dass hier der Text der Vulgata - wie damals üblich (24) ֊ typographisch eingerahmt ist von mittelalterlichen Kommentaren zum Bibeltext, wobei der Postille des Franziskaners Nikolaus von Lyra (ca. 1270-1349) die größte Bedeutung zukommt. Lyra fungiert hier auch als Vermittler älterer Kommentare zur Heiligen Schrift, die er zusam menfasst, wobei er daneben aber auch das Verständnis der antiqui hebrei berücksichtigt: Etwa 20 jüdische Bibelgelehrte kommen bei ihm zu Wort (17), allerdings nur, soweit diese seine christologische Interpretation der Schrift stützen können (9f., 18). Da das Titelblatt
zu Marulićs Handexemplar verloren ist, hat die Bibel nur anhand eines Kolophons am Ende des 1. Buches als die älteste illustrierte Bibel in Italien identifiziert werden können, die am 8. August 1489 auf Kosten von Ottavio Scotto aus Monza (Octavianus Seotus Modoetiensis) in Venedig gedruckt worden ist (46-53). Die Marginalien Marulićs in seinem Handexemplar beziehen sich mit zwei Ausnahmen stets auf die Kommentare, nicht auf den Bibeltext selbst ( 16) ; die beiden Ausnahmen sind: 1 Chr 28,9 und 1 Chr 29,10-19 mit dem Gebet Davids (98) undTobit 3,21-23 mit dem nur in der Vulgata überlieferten Gebet Sarahs (lOOfi). Eigener Kommentare enthält sich Marulić, auch hier mit einer einzigen Ausnahme: zu 2 Tim 3,8 führt er eine antike Parallele für das Wort paenuև an und setzt sich damit von der symbolischen Deutung bei Lyra ab ( 182f.). Ansonsten verzichtet Marulić auf eigene Anmerkungen ֊ seine Marginalien sind nie urteilend oder polemisch, wohl, wie Posset meint, weil er sich allzu bewusst war, lediglich Schüler und ein theologischer Autodidakt zu sein (201). Marko Marulić blieb zeit seines Lebens Laie, wenngleich er sich Gedanken um die Hebung des geistlichen Lebens in seiner Vaterstadt Split machte und erfüllt von pastoraler Sorge wohl auch öffentliche, erbauliche Vorträge hielt, da er nicht berechtigt war, von der Kanzel zu predigen; vor allem aber sammelte er erbauliche Texte, die in seine Publikationen einflossen (37-39). Eine solche Publikation war das „Carmen de doctrina domini nostri Jesu Christi pendentis in cruce“, auf das Franz Posset im Rahmen seiner Beschäftigung mit
dem Renaissance-Mönchtum gestoßen ist und das ihn veranlasste, sich ausführlicher mit Marko Marulić zu beschäftigen (14). Franz Posset, den Kenneth Hagen, bis 2001 Professor an der Marquette University, Milwaukee/Wisconsin, der größten Jesuiten-Universität der USA, in seiner Vorrede zur vorliegenden Publikation als „lay Catholic historian and theologian“ bezeichnet (10), teilt mit seinem Doktorvater, bei dem er 1984 promoviert hat, das Interesse an der ReformaSüdost-Forschungen 72 (2013) 613
Sprache und Sprachwissenschaft tion und insbesondere an Luther im katholischen Kontext,1 daneben die Kontinuität, die vom mittelalterlichen Mönchtum, hier besonders Bernhard von Clairvaux, zur Reforma tion führt.2 Es geht Posset dabei stets um die Verbindung von Renaissance-Humanismus und Bibelexegese. Mit Marulić verbindet ihn, dass auch dieser „lay theologian“ (13) war, wenngleich Posset ihn ebendort und im Folgenden als „Bible scholar“ bezeichnet. Diese Bezeichnung ist allerdings angesichts der fehlenden sprachlichen Ausbildung Marulićs kaum gerechtfertigt. Zwar hat er in Split bei Hieronymus Genesius Picentinus „basic Greek“ gelernt (20), dieses blieb aber so rudimentär, dass sein einziger Versuch, aus William Britos (ca. 1230-1300) Kommentar zu Hieronymus’ Prolog eine Marginalie in griechischen Lettern herauszuziehen (fol. 6r), kläglich gescheitert ist (66). Obwohl er Erasmus von Rotterdam bewunderte (22, 30), besaß er dessen Ausgabe des griechischen Neuen Testaments nicht (41). Das Hebräische blieb ihm völlig verschlossen, selbst die von Papst Leo X. gebilligte Übersetzung des Psalters nach dem Hebräischen nahm er nicht zur Kenntnis (41). Der Text der Vulgata, Werk seines „Landsmanns“ Hieronymus (45), genügte ihm völlig (40), und griechische Kirchenväter, die bei ihm durchaus eine prominente Rolle spielen, kannte er nur in lateinischer Übersetzung (43). So verstand er auch den Einwand, den Paul von Burgos (Pablo de Santa Maria, ca. 1350-1435) gegen Lyras Identifizierung des Gottesna mens m.T mit dem Namen Jesu (¿’läT!՜) vorbrachte, nicht (79); statt sich zu Ex 3,14
mit zeitgenössischen Spekulationen um die Entfaltung des unaussprechlichen Tetragrammatons zum Pentagrammaton (ГШГР) als Namen Jesu zu beschäftigen, notierte Marulić fol. 83r lediglich einen „error Machometanom“. Damit ist Marulić auch einem Laientheologen wie Johannes Reuchlin (23) deutlich unterlegen. Marulićs eigentliches Interesse war das eines Laienseelsorgers: „a lay Seelsorger or a want-to-be preacher“ (211). Mit diesem Interesse erklärt Posset auch Marulićs Interesse gerade für die spirituelle Auslegung der Schrift: „The spiritual meanings of the Scriptures lend themselves to typical pastoral activities such as spiritual edification and picturesque preaching, [.]. Scholarly elaborations of a Bible expert are relatively pointless (and are actually inappropiate in pastoral care), whereas the skilful application of allegories, parables, metaphors, typologies, and the pursuit of the ‘spiritual senses’, i.e., the search for different ‘levels of meaning’ of the Scriptures, are typical tasks of a good preacher (and teacher)“ (211). Marulićs Arbeit mit seiner Handbibel ist vor diesem Hintergrund vor allem von Bedeutung für die Beurteilung seines eigenen literarischen Schaffens, für das er hier reiches Material fand, das sich um ihn interessierende biblische Gestalten wie David, Judith oder Susanna rankt. Dass trotz seines Interesses für die Gestalt Judiths, von dem sein 1501 vollendetes Werk „Judita“ zeugt, Marginalien zu diesem biblischen Buch fast völlig fehlen (101), könnte vielleicht damit erklärt werden, dass ihm bei der Vorbereitung dieses Werks seine Handbibel noch
nicht zur Verfügung stand,3 denn Material für die zu seinen Lebzei ten nicht gedruckten „Davidias“ hat er sehr wohl durch Marginalien kenntlich gemacht. Die vorliegende Arbeit hat ihren Wert daher vor allem für Literaturwissenschaftler, kaum aber für Theologen und Bibelwissenschaftler. Insofern ist es passend, dass der Zagreber Schriftstellerverband Posset aufgrund des hier rezensierten Werkes inzwischen für den Davidias-Preis 2013 nominiert hat.4 616 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Das Buch Possets beginnt nach dem Vorwort seines Doktorvaters Kenneth Hagen (9f.) und einigen Praeliminaria (13-19) mit einer Skizze zu Marko Mamiié und seiner Zeit (2039), zu der von ihm verwendeten Bibel (40-57) und seinen Marginalien darin (58-62). Da nach werden im Hauptteil die interessantesten Marginalien in der Reihenfolge der biblischen Bücher besprochen (63-195). Den Abschluss des Buches bildet vor der Zusammenfassung im Schlusskapitel die Behandlung der Messias-Frage bei Lyra (196-198). Der Nachweis alttestamentlicher Hinweise auf Jesus als Messias hat Mamiié in besonderer Weise bewegt. Danach folgen eine Bibliographie (212-218) sowie Überblicke über die Verteilung der von Mamiié verwendeten Symbole (Christogramme, Kreuzzeichen, maniculae und Darstel lungen von Kelch und Hostie als eucharistische Symbole sowie die Nennung theologisch wichtiger Termini) in den Marginalia (219-231). Der folgende Namensindex (232-236) ist freilich minimalistisch. Nicht recht befriedigend sind hier die in Klammern beigegebenen Informationen zu den genannten Autoren, die teils sehr ausführlich sind,5 während sich Kirchenväter wie Termihän, Basileios der Große, Johannes von Damaskus oder Hilarius von Poitiers mit dem Eintrag „theologian“ begnügen müssen; als „church father“ hervor gehoben werden erstaunlicherweise nur Ambrosius, Augustinus und Hieronymus. Diese Ungleichbehandlung ist selbst bei einem dezidiert katholischen Autor, zumal angesichts der erwähnten Bevorzugung griechischer Kirchenväter durch Mamiié, auffällig. Die Liste der als „heretic“ bezeichneten Autoren
umfasst Apollinarius, Arius, Mani, Sabellius und Valentinianus, wobei sich die Einordnung hier anders als für die Bezeichnung als Kirchen vater offenbar aus den Marginalien Marulićs selbst ergibt, der auch Muhammad unter die Häretiker zählt (200), zu seiner Zeit durchaus üblich und nicht weiter auffällig. Wertvoll für die Arbeit mit dem Buch sind das Verzeichnis der Bezüge auf den Text der Heiligen Schrift (237-243) und ein thematisches Register (244-250), die zusammen mit der DVD andere Gelehrte, die sich für das literarische Œuvre Marulićs interessieren, vorzüglich in den Stand setzen, an das von Posset Geleistete anzuknüpfen. Bonn Nicolina Trunte 1 Siehe dazu seine Publikation: Franz Posset, The Real Luther. A Friar at Erfurt and Wittenberg. St. Louis/MO 2011. 2 Zu nennen ist ders., Renaissance Monks. Monastic Humanism in Six Biographical Sketches. Leiden 2005. 3 „[.] for his literary work for Judit he does not seem to have consulted his Biblia Latina cum comento“ (101). 4 Für diese Information danke ich Zvonko Pandžić. 5 So werden zu Abraham Abenhazara die Nebenformen Abraham ben Meir, Ibn Ezra, Aben Esra, Abnhaçara [sid] und die zusätzlichen Informationen „rabbi, cabalist“ genannt. Südost-Forschungen 72 (2013) 617
Rezensionen Literatur- und Theaterwissenschaft Roderick Beaton, Byron’s War. Romantic Rebellion, Greek Revolution. Cambridge: Cambridge University Press 2013.338 S., 14 Abb., 2 Karten, ISBN 978-1-107-03308-5, £30,Der schottische Byzantinist und Neogräzist Roderick Beaton, Autor dieser neuen ByronBiographie, ist Koraes Professor of Modern Greek and Byzantine History, Language and Literature am Centre for Hellenic Studies im King s College in London, bekannt vor allem fur seine philologischen Studien als Liedforscher,1 zum byzantinischen Roman2 und dem Digenes Akrites-Epos,3 seine Monographie über Seferis,4 aber neuerdings auch als Herausgeber eines Kazantzakis-Studienbandes5 und Verfasser einer griechischen Literaturgeschichte des 19. und 20. Jh.s.6 In der vorliegenden Monographie beschäftigt er sich in einer minutiösen Untersuchung mit einem eher historischen Thema, allerdings mit deutlich philologisch literarischem Interesse, und mit einer Schlüsselgestalt der europäischen Romantik, die für die griechische Staatsbildung, aber auch für die griechische Literatur des 19. Jh.s eine herausragende Rolle gespielt hat. Die erschöpfende Quellenerfassung, die trotz der über 200 existierenden Byron-Biographien eine ganze Reihe von unveröffentlichten oder bisher kaum berücksichtigten Korrespondenzen, Memoiren, Tagebuchnotizen usw. einschließt, fuhrt sowohl nach England, Italien und in die Schweiz wie auch nach Griechenland selbst. Damit wird der geistige Werdegang eines Dichter-Idols seiner Zeit Schritt für Schritt nachgezeichnet und viele Missverständnisse und Klischees bereinigt,
die der Byron-Kult in Griechenland und in Gesamteuropa hervorgebracht hat. Dies hängt auch mit Fachkompetenzen zusammen. Die griechischen Historiker verfügen über ein eher stereotypes Zerrbild von dem extravaganten Lord, der sich in Mesolongi 1824 zum Revolutionsführer und Politiker aufspielte, ohne die tieferen Zusammenhänge der Lokalakteure und die Mentalitäten der Waffenführer zu kennen. Die griechischen Literatur wissenschaftler beschäftigen sich eher mit der etwas einseitigen patriotischen Rezeption seines Literaturwerkes in Griechenland im 19. Jh. und den mannigfaltigen Einflüssen, die er auf die griechische Romantik, sowohl die eher klassizistische hochsprachliche,Athener Schule“ als auch die mehr demotizistische der Ionischen Inseln, ausgeübt hat. Die mittel- und westeu ropäischen Literaturwissenschaftler, Anglisten und Komparatisten stehen seiner politischen Tätigkeit während der Griechischen Revolution eher hilflos gegenüber, die in so eklatantem Gegensatz zu dem Rest seines Lebens steht (überdies gab es in dieser Zeit von Byron keine nennenswerte Literaturproduktion mehr), weil sie weder den reichhaltigen Fundus von Originalquellen und die Sekundärliteratur zu seiner Aktivität, in Zusammenhang mit den komplizierten Vorgängen des wechselhaften Revolutionsverlaufes und der großen Anzahl der Akteure auf hellenischem Boden, einsehen können noch mit den neueren Synthesen und Einschätzungen der griechischen Fachliteratur zur Erhebung von 1821 vertraut sind. Doch erst die Zusammenschau all dieser Informationsquellen, erarbeitet in ausgedehnten Archivstudien in
Griechenland und England, zusammen mit der Analyse von Byrons aus gedehntem Literaturwerk selbst, ergibt das komplexe, widersprüchliche und nicht immer konsequente Bild eines komplizierten und unberechenbaren Literaten, der am Ende seines Lebens jedoch auf dem Weg ist, politisches Feingefühl und diplomatisches Geschick, vor 618 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen allem aber langfristiges Planungsvermögen und die Fähigkeit zum konsequenten Verfolgen von Zukunftszielen zu entwickeln. Das Klischeebild des exzentrischen Aristokraten und ausschweifenden Poeten des romantischen Orientalismus ist vor allem durch die abrupte Gegensätzlichkeit der Gemütsverfassungen und die skandalträchtigen Normübertretungen charakterisiert, die in den literarisierten und dem historischen Journalismus nahestehenden Biographien weidlich ausgeschlachtet werden. Beaton geht diesen Normübertretungen ohne Scheu nach; seine Fachkompetenz ent hebt ihn auch des Verdachts orientalistischer Stereotype, die als Erklärungshilfen vielfach angeboten werden. Er lässt vor allem die Quellen selbst sprechen, autobiographische, Korrespondenz, Tagebucheintragungen und Memoiren von Verwandten, Freunden (wie die Shelleys, des Pisa-Kreises usw.) und Akteuren seiner politischen Tätigkeit, vor allem englische, italienische, griechische und französische, die durchwegs ins Englische übersetzt sind. Die Monographie wendet sich an ein durchschnittliches englisches Leserpublikum, so dass vielfach pragmatologische Erklärungen von Personen, historischen Gegebenheiten, Fakten und Vorgängen der Griechischen Revolution für ein hellenophones Publikum wegfallen dürften. In Manchem ähnelt diese Monographie Beatons Seferis-Biographie, die ebenfalls den geistigen Werdegang, die Dichtung und politische Tätigkeit des Nobelpreisträgers in einer derart integrativen Weise untersucht hat, dass das Lebenstotum eines Intellektuellen, Poeten und Diplomaten in einem faszinierenden master
narrative entfaltet wird.7 Diplomatisch war letztlich auch die Aktivität von Byron im aufständischen Griechenland: er war weder militärischer Kommandeur, obwohl mit seinem Vermögen gewisse militärische Aktionen finanziert wurden, noch Staatsmann, dies war vielmehr der phanariotische „Prinz“ Alex andras Mavrokordatos von der Zentralregierung, mit dem Byron eng zusammenarbeitete und die Vision eines zentralistischen Nationalstaates teilte; die Vision von der Gründung eines modernen Nationalstaates im Geiste einer konzessionsbereiten Realpolitik der Zeit, mit der anzustrebenden Zustimmung der Großmächte und einer konsequenten Finanz politik (die Rolle Byrons beim Zustandekommen der ersten Finanzanleihe aus England für die Aufständischen war entscheidend), indem er gleichzeitig den bürgerkriegsähnlichen Zuständen 1824 entgegenarbeitete, kann am ehesten mit der Terminologie der Diplomatie beschrieben werden. Ob dieser 1830 gegründete unabhängige Nationalstaat wirklich die erste moderne Nation des Europäischen Kontinents bildete (272), mögen die Historiker entscheiden. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt deutlich auf den griechischen Konnexen des Byron-Themas, vor allem von 1823 bis zu seinem Tod am 19. April 1824 im historischen Mesolongi, das nach dem legendären Ausbruchsversuch der Belagerten 1826 in ganz Eu ropa in aller Munde war und das selbst die Schulkinder kannten. Doch lebensprägend in vielerlei Hinsicht war Byrons grand tour in jungen Jahren 1809-1811 nach Griechenland gewesen, ein fast zweijähriger Aufenthalt, der nicht nur in die Verse von „Childe Harold s
Pilgrimage“ eingegangen ist, sondern Byrons kurzes Leben (er ist 36-jährig verstorben) wie ein Rahmen umspannt; der Mittelteil seines Lebens hatte mit Griechenland allerdings nicht viel zu tun. Als sich der Lord nach seinem langjährigen Aufenthalt in Italien 1823 der griechischen Sache annahm (der Aufstand ging damals schon ins dritte Jahr), eine Südost-Forschungen 72 (2013) 619
Literatur- und Theaterwissenschaft Entscheidung, bei der Shelley und Byrons Bekanntschaft mit Alexandras Mavrokordatos eine gewisse auslösende Rolle gespielt hatten, war er einer der besten englischen Kenner von Land und Leuten, wenn ihn auch die einst bewunderten suliotischen Krieger als lebendige Verkörperung des Kleften-Ideals schließlich in ihrer Wankelmütigkeit enttäuschten. Bei den vielen Theorien, was eigendich die Todesursache Byrons gewesen sein mag, entscheidet sich Beaton dahingehend, den psychischen Schock über den Hochverratsprozess gegen Karaiskakis und seine Verurteilung, ein diplomatischer Schachzug von Mavrokordatos, um die eigene Stellung in der Zentralregierung zu festigen, als zentral anzusehen, obwohl spastische Krisen auch schon vorher zu belegen sind. Byron sah den Sinn des ganzen Unternehmens in Frage gestellt und war bereit abzureisen. Beatons Monographie ist in vier Hauptkapitel eingeteilt: „The Rebel Imagination (1809-1816)“ (3-50), „The Road to Revolution (1816-1823)“ (51-142), „Greece: ,Tis the Cause Makes А1Г (July-December 1823)“ (143-210) und „Missolonghi: the Hundred Days (January-April 1824)“ (211-263). Beaton spielt im letzten Hauptkapitel erkennbar auf Byrons Ideal Napoleon an. Die Erzählung wertet veröffentlichte und unveröffentlichte Privatquellen und Sekundärliteratur aus, ebenso wie die Literaturwerke selbst, die in ihrer Thematik und mit ausgewählten Textbeispielen selbst zur Darstellung kommen. Dies wird in einer geschickt angeordneten einheitlichen Erzählung zusammengebunden. Beatons Erzähltalent und der Sprachstil des master
narrative lassen die Lektüre des Bandes zum nachhaltigen Genuss werden, seine Werkkenntnis von Byrons Literaturproduktion ist ebenso stupend wie seine Belesenheit und Quellenkenntnis zu allen Ereignissen, die auch nur irgendwie mit Byron zu tun haben. Ob alle Historiker mit gewissen Einschätzungen Beatons glücklich sein werden, mag der Detailkritik aus geschichtswissenschaftlicher Sicht Vorbehalten sein; sein literaturwissenschaftlicher Spürsinn jedenfalls stellt Zusammenhänge her, die der umfangreichen Forschung zu seinem Literaturwerk bisher entgangen sein dürf ten. Insofern ist die Monographie nicht nur ein schätzenswerter Beitrag zur europäischen und englischen Literaturgeschichte und Komparatistik, sondern auch ein bemerkenswerter Beitrag zur Reiseliteratur über Griechenland, zur Geschichte der Griechischen Revolution und zur vergleichenden Balkanologie, da die historischen Kontexte der Ereignisse weit über den Raum des heutigen Nationalstaates Griechenland hinausreichen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Roderick Beaton, Folk Poetry ofModem Greece. Oxford 1980; dazu ausführlich Walter Puch Studien zum griechischen Volkslied. Wien 1996, 237-247. 2 Roderick Beaton, Η ερωτική μυθιστορία του ελληνικού μεσαίωνα. Athen 1996; vgl. meine ausführliche Besprechung in Südost-Forschungen 57 (1998), 414-419. 3 Ders./David Ricks (Hgg.), Digenes Akrites. New Approaches to Byzantine Heroic Poetry. Aldershot 1993; vgl. meine Rezension in Südost-Forschungen 53 (1994), 599-605. 4 Roderick Beaton, George Seferis. Bristol, Athen 1991; rezensiert in Südost-Forschungen 53 (1994), 605-607. 5
Ders., Εισαγωγή στο έργο του Καζαντζάκη. Επιλογή κριτικών κειμένων. Heraklion 2011; rezensiert in Südost-Forschungen 71 (2012), 687-690. ner, 620 Südost-Forschungen TI (2013)
Rezensionen 6 Ders., An Introduction to Modern Greek Literature. Oxford 1994; rezensiert in SüdostForschungen 55 (1996), 560-564, und Parabasis 3 (2000), 425-427. 7 Vgl. auch die stark erweiterte griechische Ausgabe; ders., Γιώργος Σεφέρης. Περιδένοντας τον Αγγελο. Βιογραφία. Athen 2003; vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 63I6A (2004/2005), 658f. Hans Bergel, Von Palmen, Wüsten und Basaren. Reisenotizen aus Israel. Berlin; Frank Timme Verlag 2013. 86 S„ ISBN 978-3-86813-019-5, € 14,80 Zeitbedingte Notwendigkeiten schaffen sich Formen und Zielsetzungen, auch in der Literatur, und wenn man feststellt, dass die Komponente Wissensvermittlung heute die Fantasie und die Gestaltungsvielfalt, die Informationsfulle die individuellen Weltentwürfe ersetzt, so ist das weder sonderlich neu noch überraschend. Der Zeitgenosse muss sich heute wie in der Antike oder in der Zeit des bürgerlichen Humanismus in einer ausufernd vielfältigen Welt von Fakten und konkreten Zusammenhängen zurechtfinden, die durch ein sprunghaftes Anwachsen neu erschlossener Wissensgebiete gekennzeichnet ist. Durch die extreme Mobilität kann er sich überdies den Zugang zu früher kaum erreichbaren Welt gegenden und sozialen Brennpunkten erschließen. Die Literatur ist ein Teil der Eröffnung und Erschließung dieses fast inkommensurablen Weltganzen. Bücher vermitteln Wissen über die Geschichte von und die Existenzbedingungen in abgelegenen Gegenden, aus denen sogenannte Migranten in die europäischen Länder mit ihren bekannten Beziehungsmustern einwandern und sich dann in Biographien oder auch in historischen
Romanen mit einer für den einzelnen Leser schwer anzueignenden Fülle an Mitteilungen über Lebens- und Denkformen zu Wort melden. In ausufernden Zeitromanen, in Reisegedichten oder in Reportagen werden faktenreiche Überblicke über politische und soziale Entwicklungsver läufe vorgelegt, in denen spannende Handlungen nur das Verständnis für die Tatsachen erleichtern sollen. Für die Fiktionen bleiben als gesonderte Genres Fantasy-Romane, Science-Fiction-Entwürfe und Ähnliches. Dass viel gereist wird, ist nicht neu, aber die Periodizität und der Stellenwert des Reisens im Alltag der Gesamtbevölkerung der Industrienationen hat sich beträchtlich geändert. Das Schrifttum, das in Erinnerungsstenogrammen die Erkenntnisse der Reisen festhält und die Leser auf die Reisen vorbereitet, hat in Form von Reiseberichten, -führern, -erinnerungen und -romanen deutlich zugenommen. Jede dieser Darstellungsformen verfügt über eine literarische Tradition und eigene Gesetzmäßigkeiten, die respektiert oder durch Neuansätze überwunden bzw. gesprengt werden können. Dies gilt auch für das Reisetagebuch. Dass dort das Ich nach Belieben seinen eigenen Rhythmus auslebt, diejenigen Eindrücke aus drückt und in den Vordergrund stellt, die eine Reise erlebenswert machen, dass die innere, nicht die äußere Route nachvollzogen wird, dass man sich Abweichungen von historischer Faktizität erlauben darf - das alles ist bekannt und kann - muss aber nicht - Eigen-Art hervorbringen, denn man kann zweifelsohne auch einfache Chronologien und sparsame Notate von Tagesabläufen präsentieren. Südost-Forschungen 72 (2013)
621
Literatur- und Theaterwissenschaft Hans Bergei, durch seine Erzählungen und Romane, ebenso durch Essays und Feuilletons, durch Übersetzungen und Gedichte bekannt, hat wieder einmal eine Reise unternommen und in einem Reisetagebuch, das vom 24.4. bis zum 11.5.2006 und von München bis Tel Aviv und zurück reicht, seine Erkenntnisse festgehalten. Die erwarteten Realia sind vorhanden: Man erfährt (nicht viel) über die Reiseroute - anders als früher, denn ein Flug mit Hapagfly vergeht schnell, ein Hyundai Getz ist umgehend geleast und die frühen Be schwernisse auf den Zügen von West nach Ost, die Kontakte mit Ländern und Menschen sowie Gefahren aufdem Weg zum Ziel einschlossen, sind heute während des luftigen Fluges undenkbar. Erst die Abstecher von Jerusalem in die Negev-Wüste (nach Mizpe Ramon), in denTimnas-Nationalpark und zum Ramon-Krater erbringen einprägsame Erlebnisse. Diese gehören traditionell zu einer Reise: Entdeckungen, Eindrücke von Menschen und Alltag. Ungewöhnlich ist aber, dass der Autor in diesem Falle bereits ein langes Leben hinter sich hat, aus dem eine atemberaubende Fülle an schriftstellerischen Werken vorliegt und dass er vor 2006 schon mehrfach in Israel war. Diesmal kann er also aus seinem Leben, und seinen Werken zitieren und damit durch Andeutungen und Erinnerungsmarksteine die knappe Wiedergabe der Tagesabläufe ergänzen. Der Text mit Zitaten - von Werken, aus den Werken, aus Gesprächen - wächst in sich und aus sich. Es kommen zahlreiche Dialoge vor mit Menschen, die der Autor trifft. Von diesen Dialogen wird meist der Part wiedergege ben, den die
anderen sprechen. Der Autor selbst ergänzt nachträglich die Äußerungen der Dialogpartner und bringt seine Stellungnahme ein. Das Ergebnis ist kein direkter Dialog, dafür ein aus der Vergangenheit hergeleiteter kommunikativer Ansatz, der fortgeführt und nach der Reise weitergedacht und fortgeschrieben wird. Das alles verbindet sich mit der bleibenden Prägung durch die Landschaft: sie ist sinnlich nur zum Teil fassbar, überfordert das Vorstellungsvermögen des Einzelnen, hat eine Ausdehnung jenseits des Denkbaren und liegt dennoch - wie die Palmenhände - vor dem Schauenden, fast unnahbar und doch unabweislich. Der Erzähler, auf sinnliche Impulse eingestellt, deutet an, was er nicht mehr in Worte fassen kann. Auch hier wird ein Rahmen gesprengt. Kehren wir zu den Erzähltraditionen zurück, die für das Genre des Reisetagebuchs und für die Gepflogenheiten des Autors Bergei symptomatisch sind. Die Berichte von Reisen ins Heilige Land gehören zu den ältesten in europäischen Bezügen: seit dem 13. und 14. Jh. gibt es Pilgerberichte und Ratgeber für Pilger.' Damals war die Reiseroute bzw. die zurückgelegte Wegstrecke ein Anziehungspunkt, denn dort begannen die Fährnisse für das beobachtende Ich. Im Zeitalter der Flugreisen ist dies, wie erwähnt, anders. Der abgesteckte Rahmen reicht von Flughafen zu Flughafen, Besonderheiten sind vorhanden, für den Reisenden aber nicht entscheidend. Die angesprochenen frühen Pilgerreisen verfolgten ein Ziel: den Kontakt mit den heiligen Stätten der Christenheit. Diese vorläufig letzte Nahostreise Ber geis setzt sich ein anderes Ziel: „So wie diesmal,
wird auch künftig das Verweilen, nicht die große historische Reminiszenz das Anliegen sein“ (81). Das erste Anliegen des Verweilens ist zunächst ein literarisches: den Prolog bildet der Besuch bei den Qumran-Schriftrollen, wo die ästhetische Meisterschaft der Essener bewundert wird. Darauf folgen zwei Lesungen Bergeis im Lyris-Kreis und im Goethe-Institut. Hier werden die Begegnungen mit Freun den fortgesetzt, die auf dem Flughafen begannen, wo der Bildhauer und Dichter Manfred Winkler das Ehepaar Bergei erwartet hatte. Die Übereinstimmung Bergeis mit den Hörern 622 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen hat ihre Vorgeschichte, nämlich dessen frühere Besuche in Israel. Jetzt wird diese Geschichte vertieft, was zum „Verweilen“ einlädt, denn die in Israel tätigen deutschsprachigen Juden sind in einer ähnlichen Situation wie der Reisende. Sie sind aus ihrer österreichischen (im Falle der Bukowina ab 1918: rumänischen) Geburtsregion ausgesiedelt (worden), die LydsAutoren und Autorinnen nach Israel, ins Wunschland ihrer Väter, Bergei aus Siebenbürgen ins deutsche Mutterland. Wie man sich jeweils zurechtgefunden hat, wird zu einem Leit motiv der Darstellung. Dabei scheint schon die Doppelrolle des Ich-Erzählers bei Reisen und Tagebüchern auf: der reale Autor, der die Gegenwart hinnimmt und konkrete Fakten vermittelt sowie die angenommene/ausgestaltete Erzählerrolle, was hier bedeutet, die Rolle einer Minderheit gegenüber einer Mehrheit, fur die einiges von den Gewohnheiten der Minderheit kaum verständlich ist und bleibt. Die Rollengestaltung sieht bei Bergei etwas anders aus als bei seinen Gesprächspartnern in Israel: Er kann sich mit den Veränderungen in der Bundesrepublik nicht abrinden und verweist auf die eigene Tätigkeit als streitbarer Journalist und als Repräsentant einer Auflehnung gegen starre Mentalitätsstrukturen und -barrieren.2 In Israel findet er — mitten in den dramatischen Auseinandersetzungen um dessen Zukunft — Freundschaften, Gleichgesinntheit, Kommunikationsfreiheiten, die ihm im deutschen Mutterland mitunter fehlen. Der Suchende, der auf sich selbst und eine auserwählte Gruppe Gestellte öffnet sich deshalb neuen Angeboten und Erkenntnissen mit
einer nüchternen Begeisterung, die den Spannungsbogen der Darstellung ausmacht. Das ist Bergeis bewusstes Ausgestalten einer Ich-Rolle, die alle Beengungen des realen Ichs sprengt, und diese Rollenauffassung ist vor allem im Alter möglich, weil inzwischen die Fesseln der Tagespflichten abgefallen sind, auch bei den Dialogpartnern. Den „Tanz in Ketten“ gibt es nur in der Vorgeschichte. Zur Form des Dargebotenen: Tagebücher sind subjektiv gesteuerte Notate. Für die IsraelReise des Autors ist die Regelmäßigkeit der Tagesaufzeichnungen bestimmend, die Sicherheit und Kontinuität gewährleistet. Dass der Umfang der jeweiligen Tagesdarstellung schwankt, ist selbstverständlich, denn schon dadurch werden Schwerpunkte jeweils dem Augenblick angepasst und damit einmalig. Ein Ablauf, wie man ihn aus Reisedarstellungen kennt, wo die Ankunft am Zielort zunächst eine sehr umfangreiche Präsentation des Neuen auslöst, wonach mit zunehmender Aufenthaltsdauer die Notate kürzer werden, sodass erzählte Zeit und Erzählzeit disproportional sind, ist hier nicht denkbar, denn die Reise ist die Wieder holung früherer Israel-Kontakte des Ehepaars Bergel.3 Nach akribischen Details über die Fluglinie, die Reisegesellschaft, den empfangenden Freund, die Sicherheitsvorkehrungen beim Abflug und das Flugwetter endet das Tagebuch mit einem Resümee: „Wie klein und wie groß zugleich ist unsere Welt“ (81). Das könnte ein Motto fur jede einzelne Feststellung der Tagebucheintragungen sein. Weil es sich um Wiederholungen handelt, spielen im Verlauf der Darstellung Leitmotive eine verbindende Rolle. Das beginnt im
Detail, wenn etwa bei jeder Begegnung mit dem General Aaron als Konnotat sein „männliches“ Auftreten erwähnt wird; Männlichkeit und Militärisches werden auch bei dem TV-Erlebnis der Unabhängigkeitsfeier in Jerusalem verknüpft, bei der Bergel die Männlichkeit und Ordnung der Parade bewundert und ein Hinweis auf die Rolle deutscher Offiziere für die israelische Armee hervorgehoben wird, als ein Kennzeichen für einen Staat, der in erster Linie auf Selbstbehauptung angewiesen ist und Südost-Forschungen 72 (2013) 623
Literatur- und Theaterwissenschaft alle Mittel, die dazu beitragen können, sachlich genau abwägt. Daran schließen sich Exkurse über die interne Bedrohung Israels an: durch die Zuwanderung aus Russland, durch die ein Antisemitismus (!) ins Heilige Land importiert wird; durch die orthodoxen Juden, die die Grundfesten der israelischen Demokratie in Zweifel ziehen; und durch die Zunahme der Beduinen in der Negev-Wüste, die sich nicht in die demokratische Ordnung des Landes integrieren. Männlichkeit und staatliche Funktionssicherheit sind ein Leitmotiv, und dem Reisenden geht es um die innere und äußere Sicherheit eines Landes, das er gut kennt. Ein weiteres Leitmotiv ist das Eintauchen in die außergewöhnliche Landschaft. Wer Bergeis Werk kennt, weiß sehr gut, was ihm die Geborgenheit und das Eingebundensein in Natur und Natürlichkeit bedeuten. Bergei findet eine faszinierende neue Facette dieser Naturverbundenheit in den Wüsten des heiligen Landes, die ein ständiges Engagement, eine unaufhörliche Hingabe an Kargheit, Härte und Schönheit zur Voraussetzung haben. Auch hier steht am Anfang ein Prolog: in Jerusalem ist es ein Besuch des Museums der Anna Tycho, einer bedeutenden Landschaftsmalerin Israels, der die Versuche einleitet, die Besonderheiten der Leute und des Raumes zu begreifen. Die Harmonie zwischen Mensch und Landschaft, in Bild und Wirklichkeit, ist Bergeis zweiter Schritt zu einem Einvernehmen mit dem besuchten Land. Durch die Begegnung mit weiteren Malern und Bildern sowie durch die Fahrten in Israels Süden werden die Eindrücke bestätigt und vertieft. Es verfestigt
sich Schritt für Schritt das Bewusstsein einer Zugehörigkeit zu Kultur und Geschichte, zu Natur und Menschen, die ein Anliegen veranschaulicht, das durch Ver weilen begünstigt wird: die Sorge um das Wohl und den Frieden in diesem Land, das bei einem Deutschen zur geistigen Heimatfindung beitragen kann. Das geschieht auch: er ist unter Freunden, in einem Israel, das vielen Wünschen des Betrachters entgegenzukommen scheint, er fühlt sich dort zu Hause. Dazu passt das letzte Leitmotiv, auf das wir hinweisen: sein Erlebnis Israels mit Freunden, vor allem aber mit seiner Frau Elke. Diese ist der erste Ansprechpartner, sie vermittelt zusätzliche Erkenntnisse, weil sie - wie der Ich-Erzähler - auf die Menschen zugeht und Fragen stellt, manchmal auch Fragen beantwortet und an den Überlegungen beteiligt ist, die der Autor anstellt. Das Reisetagebuch wird zum Instrument des Hineinfindens in die große Familie des bereisten Landes und zugleich einer Bestätigung menschlicher Harmonie und Glücksfindung in der kleineren Familie, der Zweierbeziehung. Eine Reise zum Ich und zum Wir, die durch dieses in sich einheitlich geformte Buch nach vollziehbar und erkennbar wird und damit die Grenze von Einzelnem, von Einzelheiten und von kurzlebigen Tageserlebnissen überschreitet. Wuppertal Horst Fassei 1 Vgl. Werner Paravicini (Hg.), Europäische Reiseberichte des späten Mittelalters. Eine analy tische Bibliographie, Bd. 4/1: Deutsche Reiseberichte, bearbeitet v. Christian Halm. Frankfhrt/M. 22001 ; Reinhold Röhricht, Deutsche Pilgerreisen nach dem Heiligen Lande. Innsbruck 1900, unter
https://archive.org/details/deutschepilgerrOOrhgoog , 13.11.2013. Einzeldarstellungen z. B. bei Christian Geyer, Die Pilgerfahrt Ludwigs des Jüngeren von Eyb nach dem Heiligen Lande (1476), Archiv für Geschichte und Altertumskunde von Oberfranken 21 (1901), H. 1, 1-54, 16-52; Folker Reichert, Von Dresden nach Jerusalem. Albrecht der Beherzte im Heiligen Land, in: André Thieme 624 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen (Hg.), Herzog Albrecht der Beherzte (1443-1500). Ein sächsischer Fürst im Reich und in Europa. Wien, Köln, Weimar 2002, 53-72. 2 Vgl. dazu Renate Windisch-Middendorf, Der Mann ohne Vaterland. Hans Bergei - Leben und Werk. Berlin 2010; Raluca Rädulescu, Europäertum eines Inseldaseins. Identitats- und Alteritätsbewusstsein im Werk Hans Bergeis. Mit einem Nachwort von George Gutu. Bukarest 2009; siehe auch Hans Bergel, Gedanken über Europa. Wien 2005; ders., Das Motiv der Freiheit. München 1988. 3 Erwähnt sei hierfür z. B. Hans Bergel, Israelische Trilogie, deren erster Teil 1999 für die Jubi läumsausgabe der Zeitschrift „Mosaik“ ins Hebräische übersetzt worden war. Nicolae Gheorghiţă, Byzantine Chant between Constantinople and the Danubian Principalities. Studies in Byzantine Musicology. Bucharest; Editura Sophia 2010. ѴШ, 256 S., zahir. Abb., Musiknoten, ISBN 978-973-136-227-4 Das Interesse an der Phanariotenzeit bis 1821 hat auch in Rumänien zugenommen. Das dokumentiert etwa der zweisprachige Band von Lia Brad Chisacof zur griechischsprachigen Literatur in den Donaufurstentümem,1 die Monographie von Matthias Kappler zu den der osmanischen Lyrik nachgestalteten mismagies der Konstantinopolitaner Phanarioten2 oder die Bukarester griechischen Satiren, die sowohl klerikale wie weltliche Themen anschneiden.3 Im Bereich der Ethnomusikologie besteht eine Tradition von der „Geschichte des transalpi nischen Dacien“ von Franz Josef Sulzer (Ende des 18. Jh.s) bis Béla Bartók, doch „Byzance après Byzance“ im musikologischen Bereich war bislang eher eine Ausnahme.4 Dies
scheint sich nun zu ändern. Nicolae Gheorghiţă, Assistenzprofessor für Musikwissenschaft an der Universität Bukarest mitpost-graduate-Studien in Athen, Cambridge und St. Petersburg, hat bereits einige Monographien zur postbyzantinischen Kirchenmusik in Rumänisch, Englisch und Griechisch vorgelegt. Hier nun handelt es sich um einen Studienband von 14 kürzeren oder längeren englischen und griechischen Beiträgen, großteils bereits veröffentlicht, die die Dynamik dieser Studienrichtung im postsozialistischen Rumänien dokumentieren. Dies beginnt mit „Byzantine Chant in the Romanian Principalities during the Phanariot Period (1711-1821)“ (1-36),5 eine Überblicksstudie mit insgesamt 29 Abb., gefolgt von einer anderen umfangreichen Studie: „Secular Music at the Roman Princely Courts during the Phanariot Epoch (1711-1821)“ (37-82), ein reich belegter und mit zahlreichen Illustrationen versehener Überblicksartikel über die Tradition osmanischer Musik an den Phanariotenhöfen in Bukarest und Jassy. Es folgen zwei Kurzartikel für „The Canterbury Dictionary of Hymnology“, über Dionysios Photeinos, den Autor des „Neos Erotokritos“ (Wien 1818), und Nikephoros Kantouniarēs (83-86, 87-90), weiters „The Anastasimatarion of Dionyios Photeinos (1777-1821)“ (91-102),6 dasselbe ausführlicher im Griechischen (103-126)7 sowie eine weitere griechische Studie zu syntaktischen und morphologischen Anmerkungen zu demselben Anastasimatarion ( 126-134) ,8 Weitere Artikel sind: „Byzantine Music Treatises in the Manuscript Fund in Romania. The Case of Gr. MS no. 9 from the National Archivs in Drobeta Turnu-
Severin“ (135-162); ein kurzer griechischer Artikel zu musikologischen Studien zur Byzantinischen Musikin Rumänien (163-66), ähnlich auch Südost-Forschungen 72 (2013) 625
Literatur- und Theaterwissenschaft in Englisch (167-170); „Some Observations on the Structure of the „Nouthesia pros tous mathitas“ by Chrysaphes the Younger from the Gr. MS no. 840 in the Library of the Ruma nian Academy (A. D. 1821 )“ ( 171 -190);9 „The Kalophonic Idiom in the Second Half of the 18th Century. The Koinonika Aineite ton Kyrion in the First Authentic Mode“ (191-200);10 „The Structure of Sunday Koinonikon in the Post-Byzantine Era“ (201-224);11 schließlich „Observations on the Technique of Transcription (exegesis) into the New Method ofAnalyti cal Music Notation of the Sunday Koinonikon of the 18th Century“ (225-248).12 Hier tut sich ein breites Forschungsfeld auf, das sowohl in sprachlicher Hinsicht interdisziplinär ist (griechisch, rumänisch, osmanisch) als auch in musikologischer (byzantinische und westliche Notation). Der Band endet mit einem Index der Namen und termini technici (249-255). Athen, Wien Walter Puchner 1 Lia Brad Chisacof, Antologie de literatura greacă din Principatele Române. Proză şi teatru, secolele XVIII-XIX. Bucureşti 2003. 2 Matthias Kappler, Türkischsprachige Liebeslyrik in griechisch-osmanischen Liedanthologien des 19. Jahrhunderts. Berlin 2002. 3 Walter Puchner, Satirische Dialoge in dramatischer Form aus dem Phanar und den transdanubischen Fürstentümern 1690-1820, in: ders., Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums, Bd. 1. Wien, Köln, Weimar 2006, 115-132. 4 Vgl. etwa John Plemmenos, „Micro-music“ of the Ottoman Empire. The Case of the Phanaiot Greeks of Istanbul. Cambridge 2001. 5 Zuerst
veröffentlicht in: Ivan Moody/Maria Takala-Roszczenko (Hgg.), Composing and Chanting in the Orthodox Church. Proceedings of the Second International Conference on Orthodox Church Music. Joensuu 2009, 76-97. 6 Zuerst erschienen in Acta Мшісае Byzantinae 4 (2002), 99-109. 7 Zuerst erschienen in Polyphonia 16 (2010), 88-111. 8 Zuerst in: Grigorios Stathis (Hg.), Theoria and Praxis of the Psaltic Art: The Oktaechia. Acta of the Third International Congress of Byzantine Musicology and Psaltic Art, Athens 17-21 October 2006. Athens 2010, 351-366. 9 Zuerst erschienen in Acta Мшісае Byzantinae 7 (2004), 271-289. 10 Zuerst erschienen in Acta Musicae Byzantinae 5 (2003), 45-50. 11 Zuerst erschienen in Eastern Christian Studies 8 (2008), 33T355. 12 Inzwischen erschienen in: Nina-Maria Wynek (Hg.), Psaltike. Neue Studien zur Byzantinischen Musik. Festschrift für Gerda Wolfram. Wien 2011, 125-144. Aleksandra Gojkov-Rajić, Nemačka drama na vršačkoj sceni [Das deutsche Drama auf der Werschetzer Bühne]. Vršac: Visoka Škola strukovnih studija za obrazovanje vaspitača „Mihajlo Palov“ 2013 (Biblioteka Istraživačke studije, 61). 359 S., ISBN 978-86-7372177-4 Aleksandra Gojkov-Rajić hat in Neusatz/Novi Sad studiert und unterrichtet an der Pä dagogischen Hochschule in Werschetz/Vršac deutsche Sprache und Literatur. Am gleichen 626 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Hochschulinstitut werden neben den serbischen auch rumänische und anglistische Lehr veranstaltungen angeboten. Wie in der Auslandsgermanistik üblich, hat Frau Gojkov-Rajić auch aus dem Deutschen ins Serbische übersetzt („Im Krebsgang“ von Günter Grass, ebenso eine Auswahl seiner Prosa),1 und sie hat sich — auf Anregung des bekannten serbischen Germanisten Tomislav Bekić — schon früh mit donauschwäbischen Schriftstellern aus der Region, speziell mit Johannes Weidenheim und seinem Roman „Rückkehr nach Maresi“, beschäftigt.2 Dass sich die Verfasserin auch mit der Rezeptionstheorie und -geschichte aus einandergesetzt hat, war nicht nur für die jetzt vorgelegte Arbeit von Bedeutung.3 Die gute Zusammenarbeit der einzelnen Ethnien an der Hochschule in Werschetz konnte ich 2007 vor Ort selbst miterleben: Bei den Diskussionen nach meinem Vortrag über das deutsche Theater in Werschetz konnte man in serbischer, rumänischer oder deutscher Sprache das Wort ergreifen. Die vorliegende Arbeit ist eine Fortsetzung der Promotionsschrift der Autorin,4 die Schwerpunkte setzt, die dort nicht in gleichem Umfang hätten beachtet werden können. Der Aufbau des Buches verrät die Unterschiede: Zunächst wird - wie in der Dissertation von 2012 - ein Abriss der Geschichte des Banats im 18. Jh., der österreichischen Sied lungspolitik und der kulturellen Ansätze im Banat gegeben, dessen südwestlicher Teil 1920 an den SHS-Staat abgetreten wurde und der heute Teil der zu Serbien gehörenden Vojvodina ist. Die Autorin stützt sich hier auf Regionalhistoriker wie Franz Wettel und Felix Milleker,
die sich mit der Stadtgeschichte von Werschetz beschäftigt haben. In den folgenden Kapiteln steht Theatergeschichte im Vordergrund: Zunächst werden - auf Anregung von Vlado Obad, der sich mit den deutschen Wandertruppen in Osijek/Essegg auseinandersetzte -5 die wichtigsten Theaterunternehmer beachtet, die auch in Werschetz spielen ließen. Im nächsten Kapitel geht die Autorin auf das Laientheater in Werschetz ein, was schon deshalb sinnvoll ist, weil aus diesen Dilettantenaufführungen, aus der Tä tigkeit der einzelnen Vereine das Stadttheater entstanden ist. Dieses Stadttheater, dessen soziale Voraussetzungen die Autorin in ihrer Promotionsschrift eingehend untersucht hat, als sie auch einen Bezug zu den gewählten Bühnengenres (historische Gemälde, Pos sen, Schwänke, Volksstücke, Genrebilder) herzustellen versuchte, wird - ebenso wie das Laien- und Schultheater — mit Hilfe sehr ausführlicher Überblickstabellen präsentiert. Danach geht die Arbeit auf die wichtigsten deutschsprachigen (deutschen, österreichischen, lokalen) Dramatiker ein, die auf der Bühne von Werschetz zu sehen waren, ausgehend von Nestroy und Raimund (dem Wiener Volkstheater) bis zu den Autoren der 2. Hälfte des 19. Jh.s. Was die Arbeit auszeichnet, ist die Verwendung neuer Quellen. Das sind zunächst einmal die späten Theaterjournale aus Werschetz (1871-1872, 1873), die Sammlungen des Stadtarchivs und des Stadtmuseums Werschetz und - in ganz besonderem Maße - die Informationen aus dem „Werschetzer Gebirgsboten“, die diejenigen der Theaterjournale und des Archivs ergänzen. Aus diesen Quellen gespeist,
entsteht für die Entwicklung des Theaters in Werschetz ein exaktes Bild der Jahrzehnte von 1850 (vor allem nach 1855) bis 1880. Außerdem verhilft die Beibehaltung der Schreibweisen von Namen und Titeln in ihrer in Werschetz verwendeten Form im 19. Jh. dabei, sich eine Vorstellung des dortigen Sprachgebrauchs und der Bildungssituation zu machen. Allerdings wäre es manchmal Südost-Forschungen 72 (2013) 627
Literatur- und Theaterwissenschaft wünschenswert gewesen, ungenau wiedergegebene Sprachformen durch Anmerkungen zu kommentieren bzw. sie zu korrigieren.6 Ein Verdienst der Untersuchungen ist es auch, dass sie der Mehrsprachigkeit Rechnung trägt, wenn sowohl deutsch- als auch serbischsprachige Inszenierungen der Vereine und Schulen registriert wurden. Für das Jahr 1861 werden die Aufführungen von Jovan Sterija Popovič erwähnt,7 fur 1867 u. a. die Aufführungen von Stücken des Jovan Subotič.8 Mit Bezug auf die Arbeiten von Alojz Ujes hätte man ausführlicher auf das Nebeneinander von serbischsprachigem und deutschsprachigem Schultheater eingehen können, denn immerhin fanden die ersten serbischen Schulaufführungen in Werschetz 1793 zeitgleich mit jenen in der Banater Hauptstadt Temeswar statt (ein serbisches Berufstheater war schon 1814 geplant, als drei Serben versuchten, den deutschen Theaterdirektor Kunz dazu zu veranlas sen, auch in serbischer Sprache spielen zu lassen). Werschetz war zunächst nicht in erster Linie wegen seines deutschen Theaters bekannt, sondern durch serbische Aufführungen. Mit zwei Lustspielen von Michail Kreide begann 1793 in Werschetz die Tätigkeit des serbi schen Schultheaters.9 In Werschetz gingen ähnliche Versuche weiter, denn es war keinesfalls Zufall, dass der „serbische Lessing“, Jovan Sterija Popovič (1806-1856), der später dafür sorgte, dass 1841/1842 und 1847/1848 in Belgrad serbischsprachige Theateraufführun gen stattfanden, hier geboren wurde.10 Ob man letztere auch in der Provinz zeigte, ist bis heute nicht bekannt, aber an den großen
Sohn der Stadt Jovan Sterija Popovič erinnert die Werschetzer Stadtbibliothek, die seinen Namen trägt. Die Mehrsprachigkeit der Aufführungen und ihrer Rezeption belegen auch mehrsprachige Theaterplakate: 1881 kam der ungarische Theaterdirektor Gyula Polgár nach Werschetz und zeigte am 26.11.1881 Robert Planquets komische Operette „Cornevilli harangok / Die Glocken von Corneville / Zvona Kornevilska“; für den 24.4.1892 warb Direktor Sándor Dobós Truppe für das Lustspiel „Paraszttrumf/ Bauern Trumpf/ Seljačka dosetka“ von Árpád Gabányi; und am 3.(15.)12.1898 begann die Srpsko narodno pozorište ihre Spiel zeit in Werschetz mit dem Lustspiel „Prisni prijateli/A jó barátok/Die guten Freunde“ von Victorien Sardou. Diese mehrsprachigen Plakate sind ein Indiz, dass man Zuschauer aus verschiedenen ethnischen Gruppen werben wollte, die auf ihre Muttersprache nicht verzichten wollten. Mehrsprachige Aufführungen im Rahmen des gleichen Theaterabends, wie man sie aus Orawitza/Oraviţa kennt, sind bislang für Werschetz nicht nachweisbar. Da beide Städte miteinander verbunden waren - als sogenannte Vereinigte Stadttheater -, wäre zu erwarten, dass es viele Analogien gibt, und hierzu zählen vielleicht auch mehrsprachige Aufführungen im Rahmen der gleichen Veranstaltung. Eine Untersuchung der mehr sprachigen Plakate hätte die multikulturelle Atmosphäre, auf die die Verfasserin eingeht, noch deutlicher gemacht, ebenso eine Beschäftigung mit den serbischen und ungarischen Gastspielen seit den neunziger Jahren des 19. Jh.s. Sehr übersichtlich und reichhaltig sind die Angaben über die Vereins-
und Schulauffüh rungen von 1857 bis 1870 (79-105). Sie sind chronologisch angeordnet und lassen erken nen, wie die Repertoirekonstanten der Berufstheater sich auf die Laienkünstler auswirkten. Man kann dabei vor allem die Arbeiten von Paul S. Ulrich zu Rate ziehen, der statistischkomparatistische Gegenüberstellungen der Spielpläne unterschiedlicher Stadttheater vor genommen hat.11 Ebenso informativ sind die Tabellen mit den im Stadttheater von 1870 628 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bis 1874 gespielten Stücken. Anstelle einer chronologischen Abfolge werden die Stücke nach Dramatikern in alphabetischer Reihenfolge wiedergegeben, was dem nächsten Kapitel dazu verhilft, der Rezeption deutscher bzw. österreichischer Bühnenwerke in Werschetz auf die Spur zu kommen. Dabei werden die beliebtesten Dramatiker (Nestroy, Raimund) ausführlicher behandelt, die anderen aber in ihrer Bedeutung ebenfalls berücksichtigt. Zur Untersuchung der Besonderheiten des multikulturellen Milieus in Werschetz hätte eine weitere regionale Komponente hinzukommen können: die regionalen Theaterunio nen. Schließlich war auch das Stadttheater unter der Leitung von Karl Zeh als eine Union zwischen Werschetz und Orawitza konzipiert, wo die jeweils gleichen Stücke vom selben Ensemble dargeboten wurden. Aber Werschetz war — zum Beispiel unter Karl Rémay dem Älteren - in den 1860er Jahren in den Verbund von Arad, Lugosch/Lugoj und Großbetschkerek/Zrenjanin eingebunden, wobei in der jeweiligen Arena in Werschetz (hier gab es eine solche seit 1852) und Großbetschkerek die Sommersaison bestritten wurde. Die regionale Einheit hätte Gojkov-Rajić berücksichtigen können, indem sie etwa bei den einzelnen Direktoren, die sie im 2. Kapitel der Arbeit präsentiert,12 auf deren Simultantätigkeit an unterschiedlichen Standorten hinweist. Wie vielfältig die Bühnengenres sind, die man dem Repertoire der deutschen bzw. ös terreichischen Dramatik entlehnte, kann man aber anhand der Detailangaben bei GojkovRajić sehr gut erkennen. Mit ihren beiden Büchern über das deutsche Stadttheater in
Werschetz (2012) und über die Rezeption deutscher Dramatik auf den Bühnen von Werschetz (2013) hat die Germanistin zu einer eingehenden Kenntnis der Theatertätigkeit in ihrer Heimatstadt beigetragen. Damit hat ֊ nach Zemun/Semlin, wofür Vasilija Kolaković Vorarbeiten er bracht hat -13 auch die Meinstadt Werschetz eine solide Grundlage zur Beurteilung ihres vielsprachigen Kulturlebens, speziell die Theatertätigkeit, anzubieten. Für diese wichtige theatergeschichtliche Arbeit ist der Verfasserin zu danken. Wuppertal Horst Fassei 1 Vgl. Günter Grass, Hodom raka. Prevela sa nemačkog Aleksandra Gojkov-Rajić. Beograd 2002; ders., Pisma: 1959-1994. Ginter Gras, Helen Volf. Vorw. Daniela Hermes. Übers. Aleksandra Gojkov-Rajić. Beograd 2005. 2 Aleksandra Gojkov-Rajić, Povratak u zavičaj u savremenoj srpskoj i nemačkoj književnosti (komparativna analiza romana Johanesa Vajdenhajma Povratak u Marezi i Miodraga Matickog Idu Nemci). Vršac 2002 (Biblioteka Bibliosfera, 3). 3 Dies., Pristup književnom delu iz ugla teorije recepcije. Vršac 2008 (Biblioteka Istraživačke studije, 38). 4 Dies., Vršacko. Gradsko pozorište kao posrednik nemačke knijževnosti. Das Werschetzer Stadt theater als Vermittler deutscher Literatur. Vršac 2012; vgl. dazu meine Besprechungen in Germanistik 53 (2012), H. 3-4, 678. 5 Vlado Obad, Njemačke putujuće družine na pozornici osiečkoga kazališta u 100. godina Hr vatskoga narodnog kazališta о Osjeku. Povjest, teorija i praksa. Zagreb, Osijek 2008. 6 Vgl. „Eugen Sue“ (Eugène Sue), „E Offenbach“ (Jaques Offenbach, jeweils 83); „Börösmárty“ (Vörösmarty, 85); bei der
Posse „Ein Fuchs“ von „Juin“ (eigentlich Carl Giugno) hätte man - wie Südost-Forschungen 72 (2013) 629
Literatur- und Theaterwissenschaft in anderen Fällen auch - den Namen des Komponisten (Karl Binder) angeben können (99); „Poni“ (Emil Pohl, 104); bei dem Stück „Der Tod der Barbara Ubrik“ (104) hätte auch der Autor Lajos Urményi genannt werden sollen, eventuell auch der Übersetzer bzw. Bearbeiter; „Souppe“ (Suppe, 104£); „Die Reise nach Gratz“ (Graz); „Ein jüdischer Honvéd“ (Honvéd); „Dramolet“ (Dramoleti); „Localer Schwank“ (Lokaler Schwank); „Kaballe und Liebe“ (Kabale, alle 122); usw. 7 „Milosch Obilich“, „Svetislav і Mileva“, Kir Janja“, vgl. 81, ebenso eine deutsche Fassung des Dramas „Der Tod des Serben-Czars Urosch“ von Karadzic (das Stück wurde von Eduard Reimana 1862 in Temeswar aufgefuhrt). 8 Vgl. u. a. „Sana na javi“, Scribes „Die erste Begegnung“ (serbisch von Đorđević) sowie Schillers „Kabale und Liebe“ (ebenfalls serbisch von Đorđević). 9 Alojz Uješ, Prva školska pozorišna predstava na srpskim jeziku u Vršku 1793. godine. Vršac 2004. 10 Ders., Duhovna srodnost Lesingovog i Sterijinog nacionalnog pozorista (Hamburg 1767, Beograd 1841/42 i 1847/48), in: Ljubomir Simović (Hg.), Jovan Sterija Popovič 1806-1856-2006. Beograd 2007 (SANU naučni skup, 117), 179-201. 11 Paul S. Ulrich, Die Spielplangestaltung des deutschsprachigen Theaters in Elbing im 19. Jahr hundert im Lichte der Statistik (vor allem von 1846 bis 1888), in: Artur Pelka u. a. (Hgg.), Migratio nen/Standortwechsel. Deutsches Theater in Polen. Łódź, Tübingen 2007 (Thalia Germanica, 11), 25-60; ders., Die Spielplangestaltung und das Personal des deutschsprachigen Temeswarer Theaters im 19. Jahrhundert
statistisch betrachtet, insbesondere für die Jahre 1822-1860, in: Horst Fassel (Hg.), Das Deutsche Staatstheater Temeswar nach 50 Jahren vor dem Hintergrund deutscher Thea terentwicklung in Europa und im Banat seit dem 18. Jahrhundert. Tübingen, Temeswar 2005, 51-74. 12 Ausführlichere Informationen über die Tätigkeit der deutschen Theaterdirektoren in der 2. Hälfte des 19. Jh.s hätte man in Horst Fassel, Rückblick auf das deutsche Theater in Werschetz. Ausgangspunkte und Forschungsperspektiven, Estudios Filológicos Alemanes. Revista del Grupo de Investigación Filología Alemana 19 (2009), 9-39 vorfinden können, der auf meinen Vortrag in Wer schetz im November 2007 zurückgeht. 13 Vasilija Kolaković, Pozorištni život Zmuna u XIX veku. Kroz dokumenta zemunskog magistrata 1800-1875, Godišnjak grada Beograda 18 (1971), 163-198, unter http://www.mgb.org.rs/images/ stories/MGB/pdf/GodisnjakXVIII/GodisnjakXVIII 163-198,pdf , 4.12.2013. Hayal perdesinde ulus, değişim ve geleneğin icadı [Stellen Sie sich die Nation als Höhe punkt, als Veränderung und Erfindung der Tradition vor]. Hg. Peri Efe. Istanbul: Tarih Vakfi Yurt Yayınları 2013. XII, 246 S., zahir. Abb., ISBN 978-975-333-291-0, TRY 28,Die Anerkennung des Schattentheaters als beschützenswertes Kulturerbe der Türkei durch die UNESCO und das Kulturprogramm der Bosporus-Metropole Istanbul als euro päische Kulmrhauptstadt 2009, wo die Karagöz-Schattenspiele im Zentrum standen, haben den Studien zum osmanisch-türkischen Schattentheater neuen Aufwind verliehen, auch wenn monumentale Ausgaben bereits seit dem Millenium eine
ungewöhnliche editoriale Beweglichkeit dokumentieren.1 Die hervorragend illustrierte Kulturzeitschrift „Toplumsal Tarih“ hatte 2009 ihre 181. Nummer dem balkanischen und türkischen Schattentheater gewidmet, wo auch meine balkanische Übersichtsstudie zur Geschichte und Geographie des osmanischen Schattentheaters in Südosteuropa erschienen ist.2 630 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Nach der Vorstellung der Autoren in Kurzbiographien und der Einleitung von Peri Efe folgt der 1. Beitrag von Fan Pen Chen, dem Verfasser einer Monographie zum chinesi schen Schattentheater,3 zum Schattenspiel in Asien von der Türkei bis China (1-47)4 mit umfassender Bibliographie. Es folgt eine Studie zur Komik des osmanischen KaragözSpiels von Daryo Mizrahi (48-61).5 Es folgt mein Übersichtsartikel über das osmanische Schattentheater auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft (64-88).6 Sodann folgt der klassische Artikel zum Einfluss des osmanischen Schattentheaters auf das ru mänische Puppenspiel (89-110) von Eugenia Popescu-Judetz.7 Ihrem Angedenken ist auch der ganze Band gewidmet. Nach Bosnien führt dann die kurze Studie von Svetlana Slapšak (111-119).8 Die Herausgeberin selbst, Peri Efe, liefert dann eine Studie über den griechischen Karagiozis und den Schattenspieler Sotiris Spatharis (120-138). Mit dem psychologisch-soziologischen Interpretationsmodell des osmanischen Schattenspiels durch Sabri Esat Siyavuşgil9 setzt sich Sertan Batur auseinander (139-161), gefolgt von einem eher theoretischen Gemeinschaftsartikel zur Ästhetik der Schattenspielfiguren (162-174). Von unschätzbarem Wert ist jedoch die Bibliographie von M. Sabri Koz (175-240), wo insgesamt 51 Spielhefte aufgelistet sind,10 171 selbständige Publikationen und 282 Ar tikel und Studien - insgesamt mehr als 500 Angaben. Damit ist zusammen mit meinen 1200 aufgelisteten Publikationen zum griechischen Schattentheater (wo auch arabische, osmanische und balkanische Angaben enthalten
sind)11 eine umfassende bibliographische Dokumentation des traditionellen ostmediterranen Schattentheaters gegeben, die eventuell auch eine separate Publikation rechtfertigt. Doch die Bibliographie bietet noch mehr: etwa 150 Abbildungen von Spielheften, Handschriften und Deckblättern von Publikationen mit Nummernverweis auf die Bibliographie (225-240). Den Band beschließt ein Namen- und Ortsindex (241-246). Eine Zusammenfassung in eine der europäischen Hauptsprachen wäre vielleicht zu überlegen gewesen. Dennoch bildet das Buch einen gewichtigen Beitrag für die Schat tenspielforschung in Südosteuropa und ist zugleich ein Indiz dafür, dass die einschlägigen türkischen Publikationen an wissenschaftlichem Gewicht gewinnen und komparatistische Zugänge mit einigem Tiefgang zunehmend rezipieren. Athen, Wien Walter Puchner 1 Torn is the Curtain, Shattered is the Screen, the Stage all in Ruins. Yapı Kredi Karagöz Collec tion. Istanbul 2004; Gölgenin Renkleri / Colours of Shadows / Couleurs de Reflet. Ankara 2008; sowie die Wiederauflage der Stückausgabe 1968-70 von Cevdet Kudret, Karagöz. 3 Bde. İstanbul 2004. 2 Osmanli gölge tiyatrosunun. Yayılışı, işlevi, asimilasyonu, Toplumsal Tarih 181 (2009), 46-69, zurückgehend auf die Studie: Das osmanische Schattentheater auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft. Verbreitung, Funktion, Assimilation, Südost-Forschungen 56 (1997), 151-188 - als Schwarzauge Karagöz und seine Geschichte auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft auch in: Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums, Bd. 1.
Wien, Köln, Weimar 2006, 97-132. 3 Fan Pen Chen, Chinese Shadow Theatre: History, Popular Religion, and Women Warriors. Montreal, Kingston 2007. 4 Zurückgehend auf einen Artikel in Asian Folklore Studies 62 (2003), 23-64. Südost-Forschungen 72 (2013) 631
Literatur- und Theaterwissenschaft 5 Er greift dabei einen einschlägigen Artikel in Toplumsal Tarih 181 (2009), 48-55, wieder auf. 6 Entsprungen aus einem englischen Vortrag beim International Symposium „Ottoman Empire European Theatre. II. The Time ofJoseph Haydn ( 1732-1809). From Sultan Mahmud I to Mah mud II (r. 1730-1839)“, Istanbul 2009. 7 Zurückgehend auf ihre Studie: L’influence des Spectacles Populaires Turcs dans les Pays Rou mains, Studie et Acta Orientala 5-6 (1967), 337-355. 8 Hier ist auch eine neuere Monographie angeführt: Zoran Lukič, Karadjoz. Saraybosna 2002; 2. Aufl. Tuzla 2007. 9 Sabrı Esat Sİyavuşgİl, Karagöz. Psiko-sosyolojik bir deneme. Ankara 1941. 10 Zum Karagöz in der Zwischenkriegszeit vgl. Serdar Öztürk, „Karagöz Co-Opted: Turkish Shadow Theater of the Early Republic (1923-1945)“, Asian TheatreJournal23 (2006), H. 2,292-313. 11 Walter Puchner, „Σύντομη αναλυτική βιβλιογραφία του θεάτρου σκιών στην Ελλάδα“, Laografia 31 (1976-78), 294-324, und 32 (1979-81), 370-378, sowie die Fortsetzung „Σύντομη αναλυτική βιβλιογραφία τον ελληνικού θεάτρου σκιών (1977-2007) με συμπληρώσεις για τα προ ηγούμενα έτη“, Parabasis 9 (2009), 423-496, mit 1198 Nummern. Laura Manea, Literarische Gruppierungen und ihre Funktion in der rumäniendeutschen Literatur nach 1945. Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2012 (Studien zur Germanistik, 45). 297 S„ ISBN 978-3-8300-6495-4, €85,80 Die Entwicklung der neuesten Literatur entzieht sich durch deren unaufhörliche Wan delbarkeit den Klassifizierungsbestrebungen der Literaturhistoriker. Da manche Entwick lungstendenzen dennoch
nachvollziehbar sind, ist man versucht, diese nachzuzeichnen. Man kann zum einen die - als unmittelbar vermutete - Abhängigkeit der Literatur von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen wählen, um Schwerpunkte zu ermitteln.1 Die Abhängigkeit der Kultur/Literatur von Parteibeschlüssen, mithin die Stationen einer Kommando-Kultur sind für Rumänien von Anneli Ute Gabányi dargestellt worden.2 Man kann zum anderen auch interne Literaturentwicklungen, die Kontinuität von literarisch-ästhetischen Traditionen und deren Umfunktionierung ausmachen. Dazu gehört es auch, Gruppierungen zu identifizieren, die regional oder überregional Einfluss auf die Literaturszene hatten. Für Deutschland wird dies von Laura Manea in Kapitel 2 (21-31) versucht, für das rumänische Schrifttum in Kapitel 6 (89-101). Wenn man dabei einen Überblick über die gesamte Nationalliteratur anstrebt, kann dies nur zu Missverständnissen führen; statt auf die Gruppe 47, auf die Gruppe 61, auf die Literatur der Studentenbe wegung, in der DDR, auf 1959 und den sogenannten Bitterfelder Weg einzugehen, die zeitgleich mit den in der rumäniendeutschen Literaturszene präsentierten Literaturkreisen tätig waren, statt in der rumänischen Literatur auf die rumänischen Literaturkreise des Schriftsteller-Verbandes, den „Luceafarul“-Kreis, auf den Kreis um Alexandru Piru (der sich zunächst um die Zeitschrift „Contemporanul“, danach um die „Gazeta literară“ sammelte) oder auf die 61er Poeten einzugehen, werden von ihr auch Gruppen des 19- Jh.s erwähnt. Insgesamt bleibt in beiden Fällen vieles skizzenhaft und - da keine
Entwicklungslinie aus- 632 Südost- Forschungen 72 (2013)
Rezensionen gemacht wird - missverständlich. Das gilt allerdings auch für die anderen Teile der Arbeit, ausgehend von der vorgeblich literatursoziologischen Bestimmung der Begriffe Dichterkreis, Dichterschule, Dichterverein, für die wieder zu weit abliegende Beispiele aufgezählt werden, während wichtigere fehlen. Ein Manko der Arbeit von Manea wird rasch erkennbar: Es sollte erschöpfend erfasst werden, was zu lang- oder kurzlebigen Literaturbestrebungen gehörte, anstatt dass man wenigstens an ausgewählten Beispielen - das Funktionieren, den Wirkungsmechanismus einiger Kreise untersucht hätte. Was ebenfalls fehlt, ist eine plausible Erläuterung der Existenzbedingungen von Literaturkreisen einer deutschsprachigen Minderheit im straff hierarchisch organisierten und zentralistisch gelenkten kommunistischen Rumänien von 1948 bis 1989.3 In dem Einbahnstraßen-Gesellschaftssystem nach 1947, in dem eine einzige Partei, die kommunistische, das Sagen hatte und durch die Zensur (die sogenannte Pressedirektion und die diversen flächendeckenden Uberwachungssysteme in den Institutionen, zum Bei spiel die regionalen Kulturkomitees) auch das Schrifttum im Griff hatte, wurden nationale und regionale Instanzen geschaffen, die staatliche Richtlinien umzusetzen hatten. Es sollte so ein homogenes Kulturleben entstehen, in dem die Spielräume für Einzel- und Eigen initiativen extrem eingeschränkt waren. Dass sich Unterschiede zwischen verschiedenen Etappen - auch auf der Ebene der dominierenden Ideologie — ergaben, ist unbestreitbar, ebenso, dass sich Richtlinien in der Literatur nicht derart
unmittelbar umsetzen ließen wie in berechenbareren, etwa technischen Bereichen. Als oberste Instanz — nach der Parteiführung - gab es den Rumänischen Schriftsteller verband, der seine Zentrale in Bukarest und Filialen in den größeren Städten des Landes besaß, wo die ersten Literaturkreise 1948 ins Leben gerufen wurden. Im Rahmen dieser Kreise gab es in Gebieten mit Minderheiten auch Abteilungen für diese Minderheiten. Eine tatsächliche Liberalisierung erfolgte in den 1950er Jahren nicht, obwohl man die ur sprünglich rumänischen Namen der Literaturkreise durch deutsche oder ungarische ersetzte, zum Beispiel in Temeswar 1952 die deutsche Abteilung des Flacăra-Kreises in NikolausLenau-Kreis umbenannte - die Mitglieder blieben die gleichen, die Unterordnung unter das Diktat der Parteiführung ebenfalls. Dass später regionale deutschsprachige Autoren Namensgeber für Literaturkreise wurden (Michael-Königes-Kreis in Zeiden, Josef-HaltrichKreis in Mediasch, Michael-Albert-Kreis in Schäßburg, Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreis in Temeswar, Nikolaus-Schmidt-Kreis in Arad) änderte nicht viel, zeigte jedoch das Bestreben der Einzelstandorte, die eigenen lokalen Traditionen/Persönlichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Es ist eine andere Frage, ob die gewählten Namen/Autoren in der Lage waren, eine regional-einheitliche Identität zu vertreten. Außer den Literaturkreisen des Schriftstellerverbandes gab es die Kreise, die in Kulturhäu sern/Kulturheimen angesiedelt waren. Sie sollten breiteren Bevölkerungsschichten den Zu gang zur Literatur/Kultur ermöglichen und gleichzeitig deren
Eigenproduktion überwachen. In den Städten gab es solche Kulturhäuser (z. B. in Bukarest das Friedrich-Schiller-Haus, in Klausenburg, Temeswar, Hermannstadt und Jassy die Studentenkulturheime), in den Dörfern nannte man sie Kulturheime, die für Freizeitaktivitäten zur Verfügung standen. In diesen Kulturhäusern/-heimen waren unterschiedliche Tätigkeitsfelder abgesteckt: TanzgrupSüdost-Forschungen 72 (2013) 633
Literatur- und Theaterwissenschaft pen, Chöre, Theatergruppen und Literaturzirkel. Um es — vergleichbar mit der Bewegung „Greif zur Feder, Genosse“ in der DDR - auch den Industriearbeitern zu ermöglichen, über Literatur zu diskutieren (bzw. die erwünschte Literatur kennenzulernen) und selbst schrift stellerisch tätig zu werden, entstanden Literaturzirkel auch in großen Industriekomplexen (nach der Wende von 1989 übernahm der Leiter des rumänischen Literaturkreises der Jassyer Schwerindustrie, Cassian Maria Spiridon, die Leitung der traditionsreichen Literaturzeit schrift „Convorbiri literare“, als man von diesen proletarischen Literaturkreisen absah). Schließlich wurden auch Schüler und Studenten in Literaturkreisen organisiert, von denen bei Manea der Kreis des Temeswarer Lenau-Gymnasiums nicht erwähnt wird, dem in den siebziger Jahren eine eigene Beilage in der „Neuen Banater Zeitung“ zur Verfügung stand. Dass nicht in erster Linie Talente, sondern eine konforme Literatur gefördert werden sollte (n), machte es den einzelnen regionalen Literaturkreisen schwer, eine Tätigkeit zu entfalten, die ihren eigenen Ansprüchen genügte. Das war bis in die späten 1960er Jahre fast unmöglich; dann gab es eine zeidich befristete Phase mit Öffnungen zur europäischen/ westlichen Kulturszene. Diese wollte man wieder zurücknehmen, was allerdings nie end gültig gelang, den Wünschen der Parteiinstanzen zum Trotz. Wenn man diese flächendeckende staatliche Organisation von Zentren für literarische Aktivitäten im Auge behält, die in der deutschsprachigen Literatur des Landes in den oben
genannten Periodika und Verlagen der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollten, dann ist das Thema des vorliegenden Buches von Laura Manea gut gewählt und lässt Aufschlüsse hinsichtlich der Funktion der deutschen Minderheitenliteratur in Rumänien erwarten. Ob man auch die Zeitschriften, die oft als Mittelpunkte gleichgesinnter Literaturäußerungen gelten, und ebenso einzelne Verlage mit den Literaturkreisen gleichstellen sollte, ist jedoch anzuzweifeln. Unbestritten haben die Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ (1949-1992, zunächst 1949-1955 als „Banater Schrifttum“) und die Wochenschrift „Karpatenrundschau“ (nach 1968) in verschiedenen Zeitabschnitten besondere Zeichen gesetzt, waren die „Neue Banater Zeitung“ (mehr als ihre Vorgängerin, „Die Wahrheit“, 1957-1968), die „Hermann städter Zeitung“ (1968-1990) mit regionalen und thematischen Eigenheiten ausgestattet, während die Zeitschrift „Volk und Kultur“ (1956-1985, zuvor 1949-1955 der „Kulturelle Wegweiser“) vor allem für volkstümliche Kultur eingeplant, die Jahrbücher der Universi täten mit germanistischen und komparatistischen Beiträgen für literaturtheoredsche und -historische Untersuchungen (so etwa die Hermannstädter „Forschungen zur Volks- und Landeskunde“ ab 1959). Die Bukarester Verlage Ion Creangă, Albatros und Kriterion, die über deutsche Abteilungen verfügten, waren, ebenso wie der Klausenburger Dacia- und der Temeswarer Facla-Verlag, auf einzelne Literaturschwerpunkte festgelegt, aber sie waren keineswegs Sprachrohre einzelner Literaturkreise, waren keineswegs monolithisch und widerspruchsfrei, so dass
jedes einzelne Periodikum und jede Verlagstätigkeit erst einzeln untersucht werden müssten. Die Zusammenhänge anzudeuten, hätte die vorliegende Arbeit wenigstens ansatzweise unternehmen können, um so die Rolle der Literaturkreise erkennbar zu machen. Auch hätte man die unterschiedlichen Formen der Literamrkreise getrennt präsentieren müssen, um Unterschiede und Vergleichbarkeiten überzeugend definieren zu können. 634 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Die Verfasserin hat die Arbeit als Promotionsschrift bei Horst Schuller-Anger vorgelegt, was ihr Beschränkungen auferlegt. Die letztlich vorgelegte Dissertation hat zwei unleugbare Verdienste. Zum einen hat Manea neben den Printmedien auch Zeitzeugen befragt und ihre eigenen Aussagen fast ausnahmslos auf diese beiden Quellen zurückgeführt (ein einziges Mal wird auch die Literatur selbst herangezogen: Bei dem Mausenburger Literaturkreis der Studenten wird der Roman „Rote Handschuhe“ von Eginald Schlattner zitiert, der die Tätigkeit dieses Kreises karikierend dargestellt hat).4 Zum anderen hat Manea eine vollständige Erfassung der zahlreichen literarischen Gruppierungen nach 1945 angestrebt und eine Informationsfülle zusammengetragen, deren Auswertung Erkenntnisse über das literarische Leben in einer kommunistischen Diktatur liefern sollte. Die beiden Vorzüge der Arbeit unterliegen dem schon erwähnten Dilemma - das Zuviel steht einem Zuwenig gegenüber: 1.) Die Zeitzeugen und ihre Erinnerungen sollten durch Presseaussagen berichtigt/ bestätigt werden. Außerdem wäre es sinnvoll gewesen, für jeden Literaturkreis mehrere Zeitzeugen zu befragen. Da dies unterblieben ist, muss man Ergänzungen und Berich tigungen selbst vornehmen. Ich beschränke mich auf ein Beispiel, Jassy. Als Zeitzeuge für diesen Studentenliteraturkreis füngiert Karl Arthur Ehrmann, der 1972 in der Tou ristikbranche, danach bei der „Karpatenrundschau“ und zuletzt bei der Saxonia-Stiftung tätig war. Ehrmann hat einiges vergessen, obwohl er sich auch auf eigene journalistische Beiträge hätte berufen
können5 - so etwa, dass im Literaturkreis von 1968 bis 1972 Ei genproduktionen der Studenten in einer sonst unüblichen Form besprochen wurden. Ein Student sammelte die Texte und fugte Werke bekannter deutscher Autoren hinzu. Alle Texte standen - ohne Namensangabe - zur Diskussion, und erst nach der Diskussion wurde die Zuordnung der besprochenen Einzelbeispiele zu den jeweiligen Verfassern vorgenommen. Außer den Gedichten und Kurzprosatexten, die zum Teil in der „Neuen Literatur“, der „Universitas“-Beilage der „Neuen Banater Zeitung“ und in „Volk und Kultur“ abgedruckt wurden (zwei Jassyer, Hans Matye und Willi Ehrmann, erhielten Preise bei literarischen Wettbewerben), gab es auch ein Theaterstück von Dietmar Franz („Die Explosion“), das in der Regie des Verfassers aufgeführt wurde (auch Willi Ehrmann hat ein Stück inszeniert, „Opfer Helena“ von Wolfgang Hildesheimer). Die Gespräche über Literatur wurden durch literarisch-musikalische Veranstaltungen ergänzt, die der DAAD-Lektor Dr. Klaus Steinke finanzierte (so konnten angesehene Musiker aus Jassy dazu eingeladen werden). Weder die Lehrstuhlinhaberin Hertha Perez noch Hilde-Marianne Paulini beteiligten sich an der Tätigkeit des Literaturkreises. Paulini, die Lehrveranstaltungen über rumäniendeutsche Literatur hielt, organisierte in den späten 1970er Jahren Lesungen aus Werken rumänien deutscher Autoren, zum Beispiel 1976 eine Lesung zum 70. Geburtstag Alfred Kittners, aber diese Veranstaltungen waren nicht Teil der Aktivitäten des Literaturkreises. Wie wenig die Lehrstuhlinhaberin den Literaturkreis förderte, war nach
der erfolgreichen Aufführung von Peter Hacks „Publikumsbeschimpfung“ zu erfahren:6 Hertha Perez untersagte es, wei tere Aufführungen und Literaturdiskussionen abzuhalten. Der Literaturkreis sollte - wie in allen Hochschulzentren - bloß wissenschaftliche Seminararbeiten aufbereiten helfen, die bei den Jahrestagungen der Fakultät vorzulegen waren. Seit 1972 hat es keine weitere Tätigkeit des von mir geleiteten Jassyer Literaturkreises gegeben, der nominell weiter Südost-Forschungen 72 (2013) 635
Literatur- und Theaterwissenschaft bestand und als Förderer angegeben wurde, wenn es mir gelang, Autoren zu Lesungen nach Jassy einzuladen: Claus Stephani (mehrmals), Gerhard Eike, Bernd Kolf, ebenso als einzigen DDR-Schriftsteller Horst Deichfuss. Man muss im Falle Jassy außerdem in Betracht ziehen, dass die Zahl der Kreismitglieder gering war und nicht durch Mitarbeiter aus anderen Fakultäten ergänzt werden konnte, weil es in der Hauptstadt der Moldau nach 1945 keine deutsche Minderheit mehr gab (demnach auch kein potentielles Publikum). In der rumänischsprachigen Studentenzeitschrift „Opinia“ wurden - durch die Vermitt lung von Andrei Corbea-Hoişie — Beiträge seiner Kollegen publiziert, auch derjenigen aus dem ehemaligen Literaturkreis. Das alles liest sich bei Ehrmann anders und könnte durch weitere Zeugenbefragungen überprüft werden. Ähnliche Erinnerungslücken gibt es zweifelsohne auch bei anderen Zeitzeugen, und nur dort, wo die Periodika die Tätigkeit von Literaturkreisen ausführlich würdigten, ist Exakteres über diese zu erfahren. Am besten steht es dort, wo — wie im Falle Erwin Wittstocks für Kronstadt - Aufzeichnungen über die einzelnen Sitzungen und über die Zielsetzungen des Literaturkreises vorliegen (man hätte diese Aufzeichnungen - die Veröffentlichungsgenehmigung Joachim Wittstocks vorausge setzt ֊ als wichtige Quelle abdrucken können). Für die frühen Jahre des Flacära-Kreises in Temeswar gibt es ebenfalls ausführliche Protokolle des seit den 1920er Jahren bekannten Temeswarer Journalisten Gabriel Sárkányt (er war bis 1949 Feuilletonchef der „Temesvarer
Zeitung“), die am Sitz des Temeswarer Schriftstellerverbandes aufbewahrt wurden. Eine TeilveröfFentlichung dieser Aufzeichnungen wäre ebenfalls sinnvoll gewesen. 2.) Die Präsentation der Literaturkreise erfolgt ausschließlich nach chronologischen und topographischen Gesichtspunkten. Dass die vom Schriftstellerverband angeregten Kreise ihre Tätigkeit anders organisierten als die Kulturhäuser/-heime, dass die Schülerund Studentenkreise anders organisiert waren als die Instanzen des Schriftstellerverbandes und der Kulturkomitees, dass schließlich die Literaturzirkel in Industriebetrieben ihre eigenen Regeln hatten, das wird in der vorliegenden Arbeit nicht klar erkennbar. Die Präsentation der Literaturkreise in einzelnen Ortschaften Siebenbürgens, des Banats und Bukarests beschränkt sich auf Informationen über Entstehungszeit, Mitglieder und das Ende des jeweiligen Kreises. Über die Zielsetzungen und über den Beitrag der Kreise zur deutschsprachigen Literaturszene wird wenig oder nichts mitgeteilt, aber gerade das wäre ein Anliegen, das die vorgenommene Auflistung sinnvoll erschienen ließe. Was konnten Literaturkreise in einzelnen Orten leisten? Was war in den 1950er, was in den 1970er oder in den 1980er Jahren überhaupt möglich? Dass ein Kurzkapitel auf die Zensur eingeht, macht es nicht einfacher, denn auch hier kann nur sehr summarisch verfahren werden. Wie die Zensurinstitutionen funktionierten, wie sie als Steuerungsinstrumente erfolgreich waren (oder auch nicht), wird nicht ersichtlich. Da die Veröffentlichungen in Periodika und bei Verlagen erfolgten, die nicht zu den
Literaturkreisen gehörten, wäre eine Untersuchung von deren Beziehungen zu den Publikationsinstanzen nötig gewesen. Dass es tatsächlich einen Literaturkreis der „Karpatenrundschau“, der „Neuen Banater Zeitung“ oder der „Neuen Literatur“ gab, darf bezweifelt werden. Bei dem erwähnten „Universitas“-Kreis handelt es sich keineswegs um eine feststehende Gruppe, vielmehr publizierten dort Temeswarer Autoren aus mehreren Studentenkreisen, ebenso solche aus Jassy (zeitweise waren diese ebenso zahlreich vertreten wie die Temeswarer). 636 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Dass Literamrkreise nebeneinander gestellt werden, die ihrer Zielsetzung und ihrer Organisationsform nach unterschiedlich waren, erschwert den Überblick. Vergleiche sind aber oft sehr aufschlussreich, wenn sie konsequent angestellt werden. Es war zum Beispiel sowohl bei den Literaturkreisen in Kulturhäusern/-heimen üblich, Literatur neben anderen Kunstformen zu behandeln. Manche der erwähnten Kulturhäuser traten in erster Linie durch ihre Inszenierungen in Erscheinung, zum Beispiel das Bukarester Schiller-Haus, das mit seinen Theateraufführungen mit dem ungarischen Kulturinstitut in Bukarest konkurrierte; an beiden war in den 1950er Jahren der gebürtige Temeswarer Coloman Müller einer der aktivsten Mitarbeiter.7 Das Schiller-Kulturhaus wird allerdings von Manea nur erwähnt, wenn vom dortigen Poesie-Club die Rede ist, so dass eine Gewichtung seiner diversen Einzelaktivitäten nicht erfolgt. Ebenso wird bei Temeswar nicht angegeben, dass die bei den Studentenliteraturkreise (Aktionsgruppe, Arbeitskreis 74) ihre Tätigkeit zum Teil im Studentenkulturhaus entfalteten, wo man auch die Theaterauffiihrungen beachtete. Diese bleiben in der vorliegenden Arbeit unerwähnt, und auch die Untersuchung des Beitrags der Lehrkräfte, die an Aufführungen und Diskussionen beteiligt waren, unterbleibt.8 Es wäre, wie schon erwähnt, wünschenswert gewesen, Vergleichbares zu vergleichen und statt einer topographischen Darstellung nach den Funktionsbedingungen der Literaturkreise zu fragen: also die Kreise des Schriftstellerverbandes, die Studentenliteraturkreise (auch die Literaturkreise
der Gymnasiasten, etwa die des Temeswarer Lenau-Gymnasiums vor und nach 1990),9 die Literaturzirkel der Kulturhäuser/Tieime sowie die Diskussionsforen der Industriebetriebe jeweils getrennt zu betrachten. Ob und wie die einzelnen Kreise die Publikationsorgane in Bukarest, Kronstadt, Hermannstadt, Temeswar und Klausenburg für ihre Zielsetzungen nutzten, ob es tatsächlich einen Universitas-Kreis gegeben hat (dort publizierten neben den Banater Studenten auch solche aus Jassy oder aus Siebenbürgen, die einander in den seltensten Fällen trafen, schon gar nicht regelmäßig, wie es bei Literatur kreisen üblich ist). Auch könnte man daraufhinweisen, dass die Literaturkreise in Temeswar (Arbeitskreis 74, Aktionsgruppe) zunächst als Studentenliteraturkreise fungierten, an der Universität oder im Studentenkulturheim tätig sein konnten und — alle gemeinsam - von der Redaktion der „Neuen Banater Zeitung“ unterstützt wurden. Da sie alle in der Antho logie von Eduard Schneider („Wortmeldungen“) erwähnt werden,10 scheint es einen Dialog untereinander gegeben zu haben, und auch eine Konkurrenz, die sich eventuell anregend ausgewirkt hat. Bei den Kulturhäusern/-heimen, ebenso bei Schüler- und Studentenlite raturkreisen, war die Theatertätigkeit eine normale Ergänzung der jeweiligen Tätigkeit. In diesem Buch gibt es allerdings nur für Hermannstadt eine Darstellung dieser Tätigkeit.11 In anderen Fällen sollten zusätzlich die Berichte in den Medien (Periodika, deutschsprachige Fernseh- und Radiosendungen) herangezogen werden, in einem noch größeren Umfang und übersichtlicher/systematischer,
als es in der Bibliographie (229-296) der Fall ist. Wenn einiges weggelassen, anderes ergänzt, die Systematik konsequent durchgehalten und eine komparatistische Betrachtung eingeführt würde, könnte diese Arbeit zu einer wichtigen (Teil-) Grundlage für die Erforschung der Literaturtätigkeit im kommunistischen Rumänien ausgeweitet werden. Wuppertal Südost-Forschungen 72 (2013) Horst Fassei 637
Literatur- und Theaterwissenschaft 1 In Deutschland etwa: 1949 die Gründung der beiden deutschen Staaten; in der DDR 1953 der Volksaufstand; in der Bundesrepublik die 68er Bewegung; 1989 die deutsche Wiedervereinigung, die zu literarischen Neuorientierungen geführt hätte. In Rumänien die Verstaatlichung der gesamten Wirtschaft 1948 und die Übernahme der Staatsgewalt durch die Kommunisten; die nachstalinistischen Lockerungen nach 1953; das Einschwenken des Parteiführers Gheorghe Gheorghiu-Dej auf einen Nationalkommunismus nach 1958; die 1964-1971 unternommenen „Neuerungen“ seines Nach folgers Nicolae Ceauşescu, die durch die kleine Kulturrevolution 1971 beendet wurden; schließlich die zunehmend restriktivere Diktatur bis zu den grotesk-zerstörerischen Maßnahmen der achtziger Jahre; 1989 der Sturz des Diktators und der Versuch einer Hinwendung zur Demokratie. Für die deutsche Minderheit in Rumänien: 1945 Deportationen in die Sowjetunion; 1951 Deportation der Banater in die Bärägan-Steppe; 1956-1950 politische Einschüchterungsprozesse (darunter 1959 der Prozess gegen fünf siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller, der Schwarze-Kirche-Prozess, 1960 der Weresch-Reb-Prozess gegen Banater Akademiker); 1967 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen Rumäniens zur Bundesrepublik Deutschland; 1977 Beginn der organisierten Aussiedlung der Deut schen aus Rumänien; nach 1991 das Überleben einer schwindenden Minderheit in Rumänien nach dem Exodus 1990/1991. 2 Anneli Ute Gabanyi, Partei und Literatur in Rumänien seit 1945. München 1975. 3 Die zeitliche Begrenzung 1945/1948-1989 wird nicht
expressis verbis erwähnt, aber nach 1989 gibt es andere Voraussetzungen für eine literarische/kulturelle Tätigkeit der deutschen Minderheit in einem Staat, der sich nicht mehr als Diktatur begreift. 4 Allerdings wäre ein Eingehen auf die Berichte Schlattners und anderer aus den 1950er Jahren über diesen Literaturkreis nötig gewesen, um zwischen damals und heute einen Vergleich ziehen zu können, vgl. Eginald Schlattner, Der Bruch, Volkszeitung, Jg. 1, Nr. 21 vom 17.10.1957, S. 4; ders., Volkskunst der nationalen Minderheiten, Volkszeitung, Jg. 1, Nr.30 vom 19.12.1957, S.4; G.N., Kreis für deutsche Sprache und Literatur, Volkszeitung, Jg. 1, Nr. 32 vom 31.12.1957, S. 5; Joachim Wittstock, Literatur im Dienste des Fortschritts, Volkszeitung, Jg. 2, Nr. 54 vom 5.6.1958, S.4. 5 Vgl. z. B. Karl Arthur Ehrmann, Barock-Abend in Jassy, Neuer Weg, Jg. 22, Nr. 6433 vom 21.1.1970, S.2; ders., Um wachzurütteln. Peter Handkes „Publikumsbeschimpfung“ in Jassy aufgeführt, Neue Banater Zeitung, Jg. 14, Nr.2521 vom 27.12.1970, S.6; vgl. auch Horst Fassel, Deutschunterricht in Jassy (1830-1992). Wissenschaftler und Lehrer als Vermittler im West-OstDialog. Tübingen 1993. 6 Die Aufführung fand im November 1970 im Rahmen einer Veranstaltung statt, die sich mit deutscher Literatur und Musik im 20. Jahrhundert beschäftigte. Als Darsteller traten Hilde Buchner, Cornelia Cujbä, Ute Leutschaft, Richard Bloos und Karl Ehrmann auf. 7 Vgl. dazu: A. B., Ein Wochenprogramm des „Friedrich-Schiller-Kulturhauses“, Volk und Kultur 10 (1958), H. 5,42f; Arthur Braedt, Das Kulturhaus Friedrich Schiller.
Bukarest-Rumänien 19571959. Eine Dokumentation. Stuttgart 1983; Mariana Duura u. a. (Hgg.), Das „Friedrich Schiller“ Kulturhaus im Wandel der Zeiten. Bukarest 2006. Dass Theatertätigkeit und Literaturbestrebungen benachbart waren, entsprach der seit dem 18. Jh. bekannten Behandlung des Theaters als Teil der Literatur. Die Bühnentätigkeit des Schiller-Hauses ist häufig beachtet worden, vgl. u. a. Gerhardt Csejka, Theaterarbeit ohne Theater. Gespräch mit dem Schauspieler Emmerich Schaffer über seine Ar beit mit der Theatergruppe des Schillerhauses, Neue Literatur TI (1976), H.7, 100-102; Peter Martini, Vielfältiges Programm. Rückblick und Vorschau auf die kulturelle Tätigkeit im „Schiller“-Haus, Neue Literatur 27 (1976), H.8, Ulf; Emmerich Schaffer, Wir brauchen begeisterte Leute. Kellertheater des Bukarester Schillerhauses gastiert in Braşov, Karpatenrundschau, Jg. 9, Nr. 36 vom 3.9.1976, S. 1,4f; Helga Höfer, Der Luxus von der höheren Gewalt. Horvaths „Glaube Liebe Hoffnung“ im Bukarester Schillerhaus, Neuer Weg, Jg. 28, Nr.8525 vom 12.10.1976, S.3; Wolfgang Wittstock, Den Kinder638 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen schuhen entwachsen. Kellertheater des Friedrich-Schiller-Kulturhauses aus Bukarest gastierte in Braşov, Karpatenrundschau, Jg. 9, Nr. 40 vom 1.10.1976, S.4f. 8 Vgl. zur Temeswarer Theatertätigkeit u. a. Nicolae Wolcz, Oglindele. Studioul de teatru al Centrului universitar timişorean, România literară, Jg. 2, Nr. 37 vom 11.9.1969, S. 25; Ludwig Schwarz, Warum Studententheater? (Gespräch mit Robert Jereb, Student an der Temesvarer Germa nistikfakultät), Karpatenrundschau, Jg. 4, Nr. 14 vom 9.4.1971, S. 12; Walter Konschitzky, Gedichte als Selbstauskunft. Vortragsabend des Temesvarer deutschen Studententheaters, Neuer Weg, Jg. 23, Nr. 6860 vom 28.5.1971, S.6; Emmerich Reichrath, Wenn Amateure Theater spielen. Einige Überlegungen am Rande der Aufführung von Dürrenmatts „Meteor“ in Temeswar, Neuer Weg, Jg. 26, Nr. 7682 vom 19.1.1974, S.3; Richard Wagner, Studentengruppe führt Dürrenmatts „Meteor“ auf, Neue Literatur 25 (1974), H. 2, 106-108; ders., Mockinpott. Das Thalia-Studio des Temeswarer Studentenkulturhauses, Karpatenrundschau, Jg. 15, Nr. 19 vom 14.5.1982, S.4f. 9 Dass es schon in den 1970er Jahren am Lenau-Gymnasium eine Literaturtätigkeit gab, die in einer Beilage der „Neuen Banater Zeitung“ ein Sprachrohr fand, wird in der Darstellung nicht ausgeführt. 10 Eduard Schneider, Wortmeldungen. Temeswar 1972. 11 Vgl. Hannes Höchsmann, Studententheater Hermannstadt 1969-1978, ein Überblick. O.O. 1998, 1. Hierbei handelt es sich um ein unpaginiertes Typoskript, das u.a. im Institut für donau schwäbische Geschichte und Landeskunde vorliegt, von Stefan Sienerth
dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. Die seit 1972 als „Studentenbühne Sibiu“ bezeichnete Einrichtung war für die junge Universität ein Stück Eigenwerbung. Dass sie die Nähe zum professionellen Theater suchte, war ein Hinweis darauf, dass man Qualität anstrebte. Studenten theater gab es in Rumänien in Einzelfällen schon vor 1959, dann aber erst wieder in den Jahren der relativen Entspannung (1965-1975). In Klausenburg gab es 1959 eine Brecht-Aufführung und dann erst 1974 die nächste Inszenierung: vgl. Ernst Fischer, Deutsche Studenten-Laienspielgruppe. „Die Gewehre der Frau Carrar“ Brechts in Klausenburg, Volk und Kultur 11 (1959), H.7, 27; Annemarie Schuller, Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter. Die Germanistik-Abteilung der philologischen Fakultät von Cluj, Karpaten rundschau, 7. Jg. 7, Nr. 13 vom 29.3.1974, S. 6. Ο κόσμος του Ερωτάκριτου και ο Ερωτάκριτος στον κόσμο. Πρακτικά Διεθνούς Επιστημονικού συνεδρίου Σητεία, 31/7-2/8/2009 [Die Welt des „Erotokritos“ und „Erotokritos“ in der Welt. Akten des internationalen wissenschaftlichen Kongresses, Siteia, 31.7.-2.8.2009]. Hg. Tastila M. Markomichelaki. Heraklion: Elliniko Kentro 2012. 208 S., ISBN 978960-86153-4-2, €29,80 Zuanne Papadopulos, Στον καιρό της σχόλης (ĽOccio). Αναμνήσεις από την Κρήτη του 17” αιώνα [In der Freizeit (ĽOccio). Erinnerungen an das Kreta des 17. Jahrhunderts]. Eini. u. Komm. Alfred Vincent. Übers, u. Edition Natalia Deligiannaki. Heraklion: Crete University Press 2012. 331 S., 18 Abb., ISBN 978-960-524-390-6, €20,Κρητικά Χρονικά [Crética Chronica], Bd. 31. Heraklion: Society of Cretan
Historical Studies 2011. 321 S., zahir. Abb., ISSN 0454-5206, € 15,Die Großinsel Kreta, vor allem während der fast viereinhalb Jahrhunderte währenden Venezianerherrschaft (bis 1645/1669), steht nach wie vor im Zentrum eines weit ausgreiSüdost-Forschungen 72 (2013) 639
Literatur- und Theaterwissenschaft fenden komparativen Interesses, was einerseits mit der Qualität der Literatur dieser Epoche zusammenhängt, die einen bedeutenden Teil der nachbyzantinischen Belletristik ausmacht, andererseits mit den umfangreichen Notariatsakten, die in den staatlichen Archiven von Venedig lagern und bedeutende Einzelheiten des öffentlichen und privaten Alltagslebens der Bevölkerung enthalten, an deren Durchforstung und Auswertung noch Generationen von Historikern arbeiten werden. Das wichtigste und umfangreichste Literaturprodukt bleibt nach wie vor der barocke Versroman „Erotokritos“ mit über 10 000 Versen, nachdem vor Kurzem ein anonymes religiöses Gedicht („Das Alte und Neue Testament“) von etwa dem halben Umfang, ebenfalls aus dem 17. Jh., veröffentlicht und kommentiert worden ist.1 Seit dem Kongressband von 2006, der eine umfassende Bibliographie von Stefanos Kaklamanis enthält,2 ist es kaum stiller um den bemerkenswerten Versroman im kretischen Literaturdialekt von Vicenzo Cornaros geworden. Seine Geburtsstadt Siteia in Ostkreta hat im Sommer 2009 einen internationalen Kongress organisiert, der sich ebenfalls mit der Poetik der umfangreichen Verserzählung auseinandersetzt, aber auch mit Fragen der Rezeption, des Einflusses usw. Der l.Teil des schlanken Aktenbandes ist dem Literaturwerk selbst gewidmet. Es setzt mit einer allgemeinen Studie von David Holton ein, „Beim Wiederlesen des Erotokritos“ (29-42), um mit Giorgos Kallinis, „Was ist der Erotokritos und wie ist er zu lesen. Das genre und die Gattung“ (43-61 ) fortzufahren: Aufgrund der Mischung
von lyrischen, narra tiven und dramatischen Elementen ist der kretische Versroman im Laufe seiner Erforschung mit ganz verschiedenen Bezeichnungen belegt worden; der Referent schlägt „sentimentales Erzählgedicht“ vor. In der Folge setzt sich Eratosthenis Kapsomenos mit kulturellen codes im „Erotokritos“ auseinander (63-76), vor allem mit der Ambivalenz der Gegensätze und den Analogien zwischen Mensch und Natur, die auch im Volkslied zu finden sind. Dia Phillipides und Wim Bakker analysieren das Ende des Versromans mit der fast sadisti schen Prüfung der Standhaftigkeit der Aretusa (77-87), wo die Ambivalenz der Gefühle augenfällig und vom fiktiven Erzähler kommentiert wird (Liebe und Angst, Freude und Leid). Den letzten Beitrag zum l.Teil bilden die Ausführungen von Tina Lentari über die Analogie zwischen den Pfeilen des Eros und den Blicken der Aretusa: das decorum des Blickes in „Erotokritos“ (89-103). Der 2. Teil zu Rezeptionsfragen setzt mit Odysseas Tsangarakis ein, der das Heimweh (nostos) des Erotokritos mit der homerischen Tradition in Zusammenhang bringt (107-120) und fährt mit Marina Rodosthenus-Balafa fort, die ihre Ausführungen der petrarkischen Tradition und neoplatonischen Einflüssen auf den „Erotokritos“ und die zyprischen „Canzoniere“ widmet (121-144). Ott giostra im 2. Teil des Versromans wendet sich Alfred Vincent zu und vergleicht sie mit dem italienischen Versgedicht auf die barriera in Chania 1594 (145-171). Es folgen noch Giorgis Giatromanolakis über die Lektüre des „Erotokritos“ durch Seferis (173-189), Maria Prevelaki über den „Neos Erotokritos“ von
Pantelis Preveíalas (191-196) und Tasula Marko michelaki über das Lanzenturnier in den dramatischen Bearbeitungen und Theaterauflührungen von „Erotokritos“ in Vorstellungen von 1929 bis 2005 (197-208). Der Universitätsverlag Kreta hat auch eine griechische Übersetzung der im venezianischen Dialekt geschriebenen Memoiren von Zuanne Papadopoli über seine Jugendzeit auf der Großinsel im 17. Jh., bevor es im venetotürkischen Krieg an das Osmanische Reich fiel, 640 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen bewerkstelligt, wobei in der Einleitung und bei den Kommentaren auf die Ausgabe (mit englischer Übersetzung) von Alfred Vincent3 zuriickgegriffen wird. Diese Ausgabe ist mei nerseits ausführlich besprochen worden,4 so dass keine Ursache besteht, diese unschätzbare Quelle zum Alltags- und Festleben auf der Großinsel noch einmal detailliert vorzustellen. Auf die Einleitung (17-42) folgt der Text (43-179) ohne das venezianische Original und die Kommentare (181-275). Hinzugefugt wurde ein Bildteil (277-289), ein griechisches Glossar (291-294), ein Generalindex (295-306) sowie die Bibliographie (307-331). Damit ist auch einem hellenophonen Leserpublikum eine der wichtigsten Quellen zum Alltagsleben auf der Großinsel im 17. Jh. zugänglich gemacht. Die „Kretischen Chroniken“ sind eines der traditionsreichsten kretischen Periodika, die kretologische Themen von der minoischen Zeit bis auf die heutigen Tage abdecken. 1947 von Andreas Kalokairinos gegründet, erschienen sie Jahr für Jahr bis 1973 in 25 Bänden, dann wurde die Herausgabe des Periodikums mehr oder weniger eingestellt: 1986/1987 erschienen noch zwei Bände, besorgt vom Kretischen Universitätsverlag, 1988-1990 zwei weitere, 1994 ein Index-Band von der Vikelaia-Bibliothek in Heraklion. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass sich die Gesellschaft für Kretische Historische Studien nicht nur entschlossen hat, das Periodikum nach der langen Pause weiterzuführen, sondern auch die 30 umfangreichen bisherigen Bände elektronisch zugänglich zu machen.5 Wie auch in den früheren Bänden, setzen die Studien mit archäologischen
Beiträgen ein, um sich dann der Venezianerzeit zuzuwenden. Auch hier ist der internationale Charakter des Periodikums gewahrt: Neben griechischen Beiträgen finden sich auch solche in den europäischen Hauptsprachen. So veröffentlicht Stefanos Kaklamanis seine umfangreiche Studie auf Italienisch, „Partendo da Candía. Pubbliche manifestazioni in onore di Gian Giacomo Zane, ex Capitano General di Creta (1598)“ (69-138), wo es zu Prozessionen und theaterhaften Festivitäten gekom men ist, Festreden der Akademie und Deklamation von Lob- und Widmungsgedichten; im Appendix der Studie wird die italienische Festbeschreibung veröffentlicht. Ein weiterer Beitrag bedient sich der französischen Sprache: Jean-Laurent Savoye, „Georges Chortatsis et la contre-Réforme: une exigence de réciprocité“ (139-162), wo die Tragödie „Erofile“ mit den Staatstheorien der Zeit verglichen wird.6 Michail Paschalis untersucht in sei nem griechischen Beitrag die Beziehung der vier Zwischenaktintermedien der „Erofile“, die Episoden aus der „Gerusalemme liberata“ von Tasso dramatisieren, mit der Tragödie selbst (163-182). Tasula Markomichelaki fragt sich in ihrem ebenfalls griechischen Bei trag, ob eine Stelle in „Erotokritos“ (El 191-1200) nicht eine intertextuelle Bezugnahme auf die Tragödie „Erofile“ von Chortatsis darstellt (183-194). Auch der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Theater: Alfred Vincent weist einen Aufenthalt des Komödien dichters Markantonios Foskolos (1655, „Fortunatos“) auf Korfu nach (195-202). Komnini Pidonia setzt die 1. Druckausgabe des „Apokopos“ (1509) mit dem Erdbeben
von 1508 in Beziehung (203-206); Aspasia Papadaki beschäftigt der Wein in Texten der kretischen Literatur (207-220); Kostas Lamprinos untersucht die soziale Strukturierung in der Zeit der Venezianerherrschaft: Hierarchien, Terminologie und Kataloge der gesellschaftlichen Stellung (221-239). Die weiteren Beiträge verlassen die Venezianerzeit und wenden sich neueren Epochen zu: Manolis Drakakis zum kretischen Gymnasium in Heraklion 1881-1889 (241-267); Theocharis Detorakis zu unveröffentlichten Briefen von Louis Südost-Forschungen 72 (2013) 641
Literatur- und Theaterwissenschaft Petit and Stefanos Xanthudidis (269-280); und Eugenia Lagudaki zur Bewegung der ,„Anciens Combattants et des Victimes de la Guerre“ in Heraklion 1922-1925 (281-308). Den Band beschließen zwei ausführliche Buchbesprechungen (309-321). Damit setzen die „Kretischen Chroniken“ im Wesentlichen die bewährte traditionelle Strukturierung der früheren Bände fort, und man darf sich wünschen, dass sich dieser Neubeginn als von bleibender Dauer erweisen wird. Athen, Wien Walter Puchner 1 Παλαιά και Νέα Διαθήκη, ανώνυμο κρητικό ποίημα (τέλη 15“-αρχές 16™ αι.). Kritische Aus gabe t Nikolaos M. Panagiotakis. Hgg. Stefanos Kaklamanis / Giannis К. Mavromatis. Venezia 2004 (Graecolatinitas Nostra, Sources, 6); Walter Puchner, „Παλαιά και Νέα Διαθήκη“. Ανώνυμο κρητικό ποίημα. Σχόλια και παρατηρήσεις. Venezia 2009. 2 Stefanos Kaklamanis (Hg.), Ζητήματα ποιητικής στον Ερωτόκριτο. Heraklion 2006,447-538. 3 Zuanne Papadopoli, Memoires of Seventeenth-Century Crete. L’Occio (Time of Leisure). Edited with an English translation, introduction, commentary and glossary by Alfred Vincent. Venice 2007 (Graecolatinitas Nostra, Sources, 8). 4 In den Südost-Forschungen 67 (2008), 355-357. 5 http://www.historical-museum.gr/eng/ekim/view/krhtika-chronika , 12.12.2013. 6 Der Beitrag geht auf die Dissertation des Verfassers, Erophili de Georges Chortatsis. Line tragédie de la Renaissance européenne, an der Universität Paul Valéry - Montpellier III zurück. Ottoman Empire and European Theatre. Volume I: The Age of Mozart and Selim III (1756-1808). Hgg. Michael HÜTTLER/Hans
Ernst Weidinger. Wien: Hollitzer Wis senschaftsverlag 2013 (Don Juan Archiv Wien: Ottomania, 1). 1016 S., 134 teils farb. Abb., Musiknoten, ISBN 978-3-99012-065-1, €82,50 Dieser sorgfältig aufgemachte und redigierte Band bildet die Akten einer Doppelkonferenz in Wien und Istanbul im Frühjahr 2008 ab, organisiert von der privaten Forschungsstiftung Don Juan Archiv Wien, dem International Theatre Institute der UNESCO in Wien und dem Austrian Cultural Forum in Istanbul zum Thema „Ottoman Empire and European Theatre. I. The Age of Mozart and Selim III (1756-1808)“. Diese Doppelkonferenz war gleichzeitig der Auftakt zu einer ganzen Reihe solcher Doppelkonferenzen, die in den Folgejahren in den beiden Metropolen der einstigen Großreiche, an der Donau und am Bosporus, stattgefhnden haben und deren Publikation noch aussteht. Als erste Großpublikation der Reihe Ottomania des Hollitzer Wissenschaftsverlags und des Don Juan Archivs in Wien mit vorwiegend theater- und musikwissenschaftlicher Ausrichtung hebt der voluminöse Band mit einem inspirierten „Proem“ von Hans Ernst Weidinger an (Ѵ-ѴП), der den thematischen Anfangsimpuls der nichtstaatlichen Stiftung Don Juan Archiv vorstellt ֊ den Grundsatz, dass die Anfänge bereits den weiteren Werde gang und die Gesamtentwicklung beinhalten (Weidinger hat eine vielbändige Dissertation zur Entwicklung des Don-Juan-Themas bis hin zu Mozarts „Don Giovanni“ am Wiener 642 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Theaterwissenschaftlichen institut vorgelegt): Don Juan und das Theater; Don Juan und die Türken; sowie Don Juan und die Geschichte. Nach dem Inhaltsverzeichnis, der Abbreviationsliste und einigen remarks folgt in der thematischen Einheit „Ouverture“ das Editorial „Ottoman Empire and European Theatre“ der Herausgeber (3-6). Die Einführung „Orientalism on Stage: Historical Approaches and Scholarly Reception“ von Michael Hüttler (7-28) zum Exotismus der Türkenopern und der alև Љтса-Мusik im Lichte von Saids Orientalismus (zusammen mit den „orientalischen“ Bühnenbildern) geht dann ausführlich auf die wissenschaftliche Rezeption der Theaterstücke und Opern mit orientalischem Thema ein, um schließlich bei den Kontaktzonen zwischen Habsburg und der Hohen Pforte zu enden. Alle elaborierten und erweiterten Vorträge sind auf Englisch verfasst und mit einer ausführlichen Fachbibliographie versehen. Sodann folgt das Kongressprogramm des Wiener Teils mit den Eröffnungsreden (29-40) sowie das Pendant dazu für den Istanbuler Teil (41-52). Nach weiteren akademischen Reden (5365) von Wolfgang Greisenegger, İlber Ortayli (Direktor des Topkapi Museums) und dem bekannten Theaterhistoriker Metin And folgt eine hommage auf die „Diva turca“ Leyla Gencer von Zeynep Oral (65-76). Im darauffolgenden thematischen Abschnitt „Prologue. The Stage of Politics“ sind die politisch-historischen Rahmenbedingungen des West-Ost-Kulturaustauschs in zwei Beiträgen zusammengefasst: „Austria’s Relations with the Ottoman Empire in the Eighteenth Century“ von Bertrand Michael Buchmann (81-100)1 mit
umfangreicher Bibliographie; und, überaus ausführlich, „The Ottoman Em pire and Europe in the Wake of the Second Half of the Eighteenth Century“ von Mehmet Alaadin Yalçinkaya (101-150). Damit setzen die theaterwissenschaftlichen Studien ein. Im I. Themenabschnitt („Act I“), „Diplomacy and Theatre“, stehen die Anfänge des Theaters am Bosporus im Mittelpunkt: „The Earliest Opera Performances in the Ottoman World and the Role of Diplomacy“ von Suna Suner (155-222) ist eine überaus gehaltvolle und umfangreiche Studie zur Regie rungszeit des Reformsultans Selim III. (1789-1807), der auch als Dichter und Komponist hervorgetreten ist. Sie beginnt mit einer Analyse der osmanischen Diplomatenberichte {sefäretnäme) aus dem Westen seit dem 15. Jh. und deren Beschreibungen von Musik-, Theaterund Ballettvorstellungen und fährt mit den Schaustellungen in der Bosporus-Metropole (und den westlichen Botschaften) seit dem 16. Jh., vor allem in den Diplomatenberichten, fort (z. B. die Molière-Komödien in der französischen Botschaft während des Karnevals im Jahre 1673), während die ersten Opernaufführungen in Konstantinopel gegen Ende des 18. Jh. zu datieren sind. Im 19. Jh. gibt es dann bereits regelrechtes Theater; die Darstellung der Opernaufführungen fuhrt bis in die republikanische Zeit des 20. Jh.s. In der Folge berichtet Walter Puchner über die Anfänge des Jesuitentheaters am Bosporus („European Drama and Theatre in Seventeenth-century Istanbul“, 223-234). Ein weiterer Abschnitt mit dem Titel ,Ambassadors and Envoys“ nimmt sich dann systematisch die Botschafferberichte vor. Zuerst
untersucht Boğaç Babür Turna die osmanischen Berichte aus dem Westen: „The Watcher and the Watched. Ottoman Diplomatie Visitors as Spectator and .Perfor mers' in Eighteenth-century Europe" (237-262), wobei die orientalische Erscheinung der Abgesandten selbst eine Art Spektakel bildete und zum Türkenbild des Westens wesentlich beigetragen hat; sodann in umgekehrter Optik die westlichen Diplomatenberichte über Südost-Forschungen 72 (2013) 643
Literatur- und Theaterwissenschaft die Spektakularität des imperialen Hofceremoniells am Bosporus „European Ambassadors at the Ottoman Court: the Imperial Protocol in the Eighteenth century“ von Günsel Renda (263-276); sowie zu einem Spezialfall „Auf türkische Art prächtig aufgeputzf: the Visit to Vienna by the Extraordinary Ottoman Envoy, Chaddi Mustafa Efendi, in the Year 1748“ von Frank Huss (277-284). In Act I“ folgt noch ein Abschnitt zur „Türkenmusik“: „Janissaries and mehter-Turkish Military Music“ mit einem einzigen Beitrag von William F. Parmentier II: „The Mehter: Cultural Perception and Interpretations of Turkish Drum and Bugle Music Throughout History“ (287-306). Act II“ geht dann auf die Türkenopern und -dramen mit ihrem Entfuhrungsmotiv ein und folgt einer geographischen Gliederung: „Europe South, West and North“ umfasst zuerst Mailand, London und Wien mit den Beiträgen „Performing ,Turkish Rulers' on Teatro alla Scala’s Stage, From the Late Eighteenth to the Mid-nineteenth Century“ von Alexandre Lhâa (311-338, auch über die Ali-Pascha-Ballette); „The Ottoman Seraglio on European Stages“ von Esin Akalin (339-374); und „‘Help for the Turk’: Investigating Ottoman Musical Representation in Britain from the Late Eighteenth to the Mid Nine teenth Century“ von Emre Araci (375-388). Der nächste Themenabschnitt umfasst dann Kopenhagen und Paris: „The Staging of the Turk: the Turk in the Danish Theatre of the Eighteenth Century“ von Bent Holm (391-426) und „The ,Turk‘ and the ,Parisienne'. From Favart s Soliman Second, ou les Trois Sultanes (1761) to Les Trois
Sultanes lázáré, 1912)“ von Isabelle Moindrot (427-464). Der geographischen Gliederung bleibt auch Act III: Central Europe" treu. Zuerst von Paris nach Wien: in „Ottoman Representation and Theatrical Alla Turca: Visiting an Un known Viennese Source of Turkish' Incidental Music" von Thomas Betzwieser (469-492) geht es um eine unveröffentlichte, zwischen 1742 und 1758 entstandene Intermediensamm lung mit Musiknoten-Beispielen; es folgt „.Turks' on the Late Eighteenth Century’s Stage: A Research Project Based on the Viennese Repertoire“ von Michael Hüttler (493-512) über die einschlägige data base des Don Juan Archivs; schließlich „The Second Turkish Siege of Vienna (1683) Reflected in Its First Centenary: Anniversary Plays' in the Pálily Theatre Library, Vienna“ von Matthias J. Pernerstorfer (513-542). Dann geht es von Wien nach Lemberg: „Mozarts Pupil and Friend: Franz Xaver Süssmayr’s Sinfonia Turchesca, Il Turco in Italia, and Soliman der Zweite“ von Етен Duda (545-552); und „Freemason, Mozarts Contemporary, and Theatre Director on the Edge: Franz Kratter’s Der Friede am Prnth (1799). Cataloguing the Komplex Mauerbach, Vienna“ von Gabmele C. Pfeiffer (553-598) über die Türken-Spiele einer Libretto-Sammlung im Don Juan Archiv. „Act IV: Mozart“ wendet sich mit „Mozart and ,Turkishness“‘ zunächst dem Türken bild bei Mozart zu. Zur „Türkenmusik“ schreiben Matthew Head (,,,Ιη the Orient of Vienna': Mozarts .Turkish' Music and the Theatrical Self", 603-614, zu Karnevalsmusik, „Die Entführung aus dem Serail“) und Marianne Tråven („Getting Emotional: Mozarts ‘Turkish’ Operas
and the Emotive Aspect ofSlavery", 615-630, eine musikwissenschaftliche Studie mit Noten); sodann folgt „Serail revisited" mit den Beiträgen „From Zaide to Die Entführung aus dem Serail·. Mozarts Turkish' Operas“ von Derek Weber (633-652) und „Mozarts .Orient' on Stage“ von Nadja Kayali (653-664). Ein weiterer Themenabschnitt „The Elegant Voyager to the City of the Sublime Porte“ mit drei Beiträgen erweitert dann 644 Sudost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen den Blickwinkel nach Osten hin. Zur Modekleidung und dem Theaterkostüm schreibt Annemarie Bönsch (.„Turkish1 and ,Exotic' References in the European Fashion of the Second Half of the Eighteenth Century", 667-694, mit Farbabb.); „European Influences on Eighteenth-century Ottoman Imperial Fashion“ untersucht Selin İpek (695-720, mit Farbabb.); und zu den Reiseumständen an den Bosporus anhand einer fiktiven Konstanti nopelfahrt Mozarts, die dieser nie unternommen hat, schreibt Käthe Springer-Dissmann, „Mozart Goes to Constantinople; the Real Conditions of a Fictitious Journey" (721-746). „Act V“ ist dann „Sultan Selim III“ selbst gewidmet und fokussiert in konzentrischen Kreisen auf die Person des Musen-Sultans. Dieser letzte Akt hebt mit einem allgemeinen Abschnitt „In the Ottoman Empire 1756-1808“ an, der aus zwei Beiträgen besteht; über die realen Verhältnisse in Konstantinopel schreibt Tülay Artan, ,A Composite Universe: Arts and Society in Istanbul at the End of the Eighteenth Century" (751-794), ein um fassender Artikel zur kulturellen Situation mit ausführlicher Bibliographie (785-794, zu Westeinflüssen in Dichtung, Musik, Malerei, Architektur, aber auch zu den Reaktionen auf die Reformen des Sultans in Mystizismus und Esoterik); der Beitrag von Caroline Herfert handelt vom Werk eines osmanisch-wienerischen Diplomaten auf dem Balkan („.German Poet and Turkish Diplomat': Murad Efendi, Ottoman Consul in Temeswar, and the Tragedy Selim der Dritte“, 795-820), in handschriftlicher Form verfasst von Franz von Werner in Timişoara 1871, das auf den k. u. k.
Provinzbühnen, 1872 aber auch am Burgtheater aufgefuhrt wurde und in abweichenden Versionen gleich dreimal in Druck ging (1872,1875, 1881, auch ins Holländische übersetzt). Sodann ist die spezifische Kreisziehung mit dem Abschnitt „Sultan Selim III: A Man of Tetters and Arts" bei der Person Selims III. angelangt. Ihm sind drei Beiträge gewidmet: „Selim III as Patron of the Arts" von Günsel Renda (823-838, mit farbigen Gemäldereproduktionen); „Selim III as Man of Letters and Art" von Mustafa Fatih Salgar (839-860, vor allem zur intonierten Dichtung und seinen eigenen Kompositionen, mit Musiknoten); und „The Play World of Selim III“ von Avşin Candan (861-872, zu Festivitäten, Geschichtenerzählern, meddah und Schattentheater, Tanzformen, Akrobaten und Kunstreitern, Kuriositäten und Dompteuren sowie zu den ersten Opemaufführungen imTopkapi Palast). Ein als „Epilogue" betitelter Abschnitt „The Hero in the Sultans Harem“ bringt als Paralipomena noch zwei Beträge: „Between Enlightenment and Orient: Oberon by Christoph Martin Wieland“ von Ulrike Schneider (877-902), und „From the Prince of Denmark in the Sultan’s Harem to Don Juan in the Royal Danish Chamber: The Forgotten Composer Friedrich Tudwig Aemilius Kunzen" von Hans-Peter Kellner (903-926). Ein umfang reicher Appendix beschließt den nicht nur von der thematischen Spannweite und der Güte der Beiträge, sondern auch von der Druckqualität her bemerkenswerten Band mit einer eindrucksvollen „Picture Gallery“ (929-946) und Indices zu Namen und Werken (948982) und Orten (983-996); schließlich den curricuև vitae der
Kongressteilnehmer (9971016). Der mit über 1 000 Seiten umfangreiche Band stellt eine vorbildliche Verlagsarbeit dar: Trotz der oft komplizierten Texteingabe ist er aufgrund der minutiösen Redaktion typographisch eine wahre Augenweide, was nicht nur auf die rot gedruckten Titel und die zahlreichen historischen Abbildungen, auf die sorgfältig redigierten englischen Texte und die eindrucksvolle, seriöse Gesamtaufmachung zurückzufuhren ist, sondern auch auf das Südost-Forschungen 72 (2013) 645
Literatur- und Theaterwissenschaft optisch ansprechende Layout der seitenweisen Textorganisation, die das Leserauge ästhetisch erfreut und nicht ermüden lässt. Turcica gloriosa. Athen, Wien Walter Puchner 1 Dieser ist bekannt durch sein Buch: Bertrand Michael Buchmann, Türkenlieder. Zu den Tür kenkriegen und besonders zur zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683. Wien, Köln, Weimar 1983. Walter Puchner, Hellenophones Theater im Osmanischen Reich (1600-1923). Zur Geschichte und Geographie einer geduldeten Tätigkeit. Wien, Berlin, Münster: LITVerlag 2012. VIII, 235 S„ ISBN 978-3-643-50447-0, €24,90 Der dem Andenken des türkischen Literaturhistorikers Metin And gewidmete, gefällig aufgemachte Band umfasst Prolog, Einleitung, 7 Kapitel, Zusammenfassung, fortlaufend angeordnete Abbildungen (mit Bildnachweis), Bibliographie und ein dreigeteiltes Register (Personen-, Titel-, Ortsregister). In der Einleitung (3-7) richtet Puchner nach Feststellung des grundsätzlichen islamischen Darstellungsverbots das Augenmerk besonders auf seine Entdeckung des griechischspra chigen Ordenstheaters der Jesuiten in der Ägäis (1600-1750) und die Dokumentation des griechischen Theaters in Konstantinopel im 19. Jh. Zusammen mit der Untersuchung des vorrevolutionären Theaters unter den Phanarioten in Bukarest und Jassy ergebe dies eine andere historische Dynamik als die in der Theatergeschichte des Osmanenreichs bisher bekannte, u. a. von And erforschte, die erst mit dem armenischen Theater in Konstantinopel um 1860 einsetzt. Doch könne auch die hier festgestellte Dynamik ohne Berücksichtigung der
Entwicklung am Nordufer des Schwarzen Meeres nicht adäquat erfasst werden. Mit Recht wird aufdas methodische Versagen der lediglich nationalstaatlichen Theatergeschichts schreibung in diesem ganzen, auch die Griechen betreffenden Raum hingewiesen sowie darauf, dass bis ca. 1900 Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis und Alexandria wichtigere Zentren des griechischen Theaters waren als Athen. Künftige Arbeiten müssten auf diese neuen Gesichtspunkte noch stärker eingehen. In Kapitel 1, „Ordenstheater der Gegenreformation und barockes Schulspiel (Konstan tinopel, Chios, Naxos)“ (9-30), wird das hauptsächlich jesuitische Schultheater von ca. 1580 (griechische Rezitationen im Kolleg des Hl. Athanasios zu Rom) bis etwa zur Mitte des 18. Jh. im Ägäisraum und in Konstantinopel behandelt. Aus Chios sind sieben religiöse Dramen des 17. und frühen 18. Jh. erhalten und zumeist von Puchner selbst publiziert, darunter auch solche orthodoxer Autoren wie des bedeutenden Michael Vestarchis (t 1662). Auf Naxos sahen sich sogar türkische Beamte die Aufführungen an. In Kapitel 2, „Klerikale und weltliche Dialogsatiren im phanariotischen Bereich“ (31֊ 40), weist Puchner auf 14 solcher griechischen Satiren aus der Zeit von 1692 bis 1820 (z. T. Prosa, z. T. in Versform) hin und skizziert deren Inhalt. Nur wenige davon sind anonym, die Verfasserschaft zweier ist umstritten. Acht von ihnen nehmen direkt Bezug auf Bukarest, 646 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen zwei auf Konstantinopel. Der bekannteste Autor war Georgios Sutsos (mit 4 Stücken). Der Verfasser charakterisiert diese Originalsatiren in Dramenform als „Pegelmesser für den sukzessiven Wiedergewinn einer gewissen Theaternähe im 18. Jahrhundert“ (40). Kapitel 3 handelt von der „Rezeption von Spätaufklärung, Rokoko, Sentimentalismus und Frühromantik in den Dramenübersetzungen des 18. Jahrhunderts“ (41-56). Auffüh rungen griechischer Übersetzungen französischer und italienischer Dramen drängten solche in den Originalsprachen langsam zurück; in phanariotischen Kreisen wurde freilich viel mehr übersetzt als aufgeführt. Druckorte außerhalb des Osmanenreichs waren Venedig und Wien, letzteres war von ca. 1780 bis 1820 ein wichtiger Umschlagplatz aufklärerischen Gedankenguts für den Südosten. Von den 14 griechischen Molière-Übersetzungen ab 1740 sind nur die spätesten, von „Tartuffe“ und „Avare“, gedruckt worden (Wien 1815, 1816). Im 18. Jh. wurden 11 Metastasio-Übertragungen ediert, ausschlaggebend für die Theaterpraxis im 19. Jh. sollten aber die vielen Übersetzungen von Komödien Goldonis werden. Kostas Kokkinakis übertrug und edierte 1801 in Wien gleich 4 Kotzebue-Stücke, die erste Theateraufführung auf dem griechischen Festland (Ambelakia 1803) brachte davon „Menschenhass und Reue“. 1813/1814 übersetzte Ioannis Papadopulos, derselbe, der 1818 in Jena die erste griechischsprachige Goethe-Übertragung („Iphigenie aufTauris“ in Prosa) veröffentlichte, in Bukarest noch Kotzebues „Quäker“. Um 1790 war Lessings „Phiiotas“ übersetzt worden. Kapitel 4 widmet sich dem
„Polit-Theater der nationalen Erhebung (Bukarest, Jassy, Odessa, Konstantinopel, Argos) und seineļr] Fortsetzung nach der Revolution (Hermupolis, Samos, Athen, patriotisches Drama)“ (57-81). Die Autonomie der phanariotischen Fürs tentümer förderte dort eine am aufklärerischen Bildungsideal orientierte neue Theaterent wicklung. Nach Aufführungen westlicher Wandertruppen ab Ende des 18. Jh. datieren die ersten griechischen Schülervorstellungen in Bukarest (Szenen aus Homer und den Tragikern) erst von 1816/1817. Ein nationalgriechisches Polittheater entstand: Man spielte Überset zungen Voltaires („La mort de César“, „Brutus“) und von Metastasios „Temistocle“, aber auch Originale von Iaköbos Rizos Nerulos und Athanasios Christopulos. 1821 wurde die Entwicklung unterbrochen. In Jassy gab es schon 1805 eine Vorstellung von Christopulos’ ,Achilleus“, 1809 von Aischylos’ „Persern“ („Perser“: Chiffre für Türken). 1814 bildeten sich Laientruppen an 3 Gymnasien. Auch Odessa mit seiner starken griechischen Kolonie und der Filiki Etaireia wurde zu einem Zentrum des nationalen Polittheaters (ab 1814 gab es dort Laienaufführungen der Übersetzung des „Temistocle“ sowie der anonymen Originale „Leonidas bei den Thermopylen“ und „Suliotes“) .1818 wurde dort die erste neugriechische Übertragung einer antiken Tragödie, Sophokles’ „Philoktet“, gespielt, die Nikolaos Pikkolos angefertigt hatte. Es folgten dessen Original „Tod des Demosthenes“ sowie das Manifest der Revolution, Georgios Lassanis’ „Hellas“. Mehrere Theaterleute aus Bukarest, Jassy und Odessa fallen 1821 bei den Kämpfen. In
Konstantinopel mussten die ab 1820 bezeugten Laienaufführungen geheim bleiben; dennoch zeigten Schüler der Griechenstadt Kydonies/ Ayvalık auch dort Ausschnitte antiker Tragödien, u. a. der „Perser“. Schon während des Aufstands begann sich das neutrale Hermupolis zum ersten Mittelpunkt des Theaters in Griechenland zu entwickeln; Puchner verzeichnet dort 4 vor 1830 aufgeführte patriotische Südost-Forschungen 72 (2013) 647
Literatur- und Theaterwissenschaft Originaltragödien. Für Samos kann er von 1830 bis 1834 Theateransätze nachweisen, danach emigrierten die dortigen Theateraktivisten ins griechische Königreich. Kapitel 5, das bei Weitem längste und am stärksten untergliederte Kapitel mit enormer Stofffülle, behandelt „Das lange 19. Jahrhundert der Sultansreformen“ (83-159). a) Konstantinopel: Nach dem Tanzimat (1839) traten italienische, französische, armeni sche und griechische professionelle Truppen in der Hauptstadt auf. Letztere kamen, erst mals 1858, zumeist aus Athen und benutzten Konstantinopel, wo sie oft eine volle Saison spielten, als wichtigste Station ausgedehnter Tourneen. Es entwickelte sich ein blühendes Theaterleben, das nach Puchner, der die griechische Presse der Stadt auswertet, dasjenige Athens in den Schatten stellte. Von der Originaldramatik der klassizistischen Romantik war das meiste in Konstantinopel vertreten. Auf patriotische Stücke musste man zwar weitgehend verzichten, doch konnten Alexandras Stamatiadis’ „Versklavtes Chios“ und 3 Tragödien von Za(m)belios gespielt werden. Es folgten Stücke von Dimitrios Vernardakis, u. a. „Maria Doxapatri“, und Spiridon Vasileiadis bedeutende „Galateia“ (alle Stücke wurden oft wiederholt). Übersetzte Modeautoren der Pièce bien faite waren vertreten, noch stärker Originalkomödien wie „Die Hochzeit des Kutrulis“ von Alexandras Rizos Rangavis, Dimi trios K. Vyzantios’ „Babylonia“ und Dimosthenis Misitzis’ „Schwindler“. Eine Besonderheit bildeten einaktige Komödien am Schluss der Vorstellung, meist Übersetzungen aus dem
Französischen, daneben das von Angelos Vlachos übertragene Kotzebue-Stückchen „Die Zerstreuten“. Originalproduktionen solcher Einakter erfreuten sich gleicher Beliebtheit, ihr Prototyp war Vlachos’ „Krämerstochter“. Ab 1889 hatte das Vaudeville/Kom(e)idyllion (provinzrealistische Singspiel) durchschlagenden Erfolg und hielt sich bis ins 20. Jh. - auch in Griechenland. Dessen Prototyp, Dimitrios Koramilas’ „Marulas Glück“, wurde bis 1900 59mal gespielt. Es gab auch konstantinopolitanische Lokalvaudevilles. Melodramen, etwa Spyridon Peresiadis’ „Golfo“, und realistische Dramatik erschienen zum Jahrhundertende; unter Letzterer waren auch Übersetzungen von Sudermanns „Die Ehre“ und „Heimat“ sowie Ibsens „Gespenstern“. Die Stadt wies außerdem ein blühendes Laienspielwesen der Griechen auf, das im 19. Jh. von je einem Dutzend Theatergruppen und Kulturvereinen getragen wurde. Es wurden 11 zentrale und über 20 Vorstadttheater bespielt. Die Politik der türkischen Zensur war uneinheitlich. b) Smyrna: Von dort stammte Konstantinos Oikonomos, dessen Übersetzung des „Geizi gen 1816in Wien herauskam. Von größter Bedeutung war die Stadt bis zum Exodus 1922 als Druckort von 194 Dramenübertragungen und -originalen. Der Druck der Letzteren begann 1833 mit „Hektors Tod“ des Chioten Argyrios Karavas, und viele ältere Werke erlebten Neuauflagen. Laienvorstellungen fanden ab 1845 statt; professionelle Ensembles, von denen Puchner mehrere ausführlich vorstellt, erschienen ab 1866 und brachten in etwa den Spielplan Konstantinopels. Um 1890 gewann auch hier das Kom(e)idyllion die Oberhand. Nach
dem Krieg von 1897 kamen neue Ensembles, u. a. Christomanos’ Ned Skini, am Anfang des 20. Jh. auch Athener Operettentruppen, die außer Verdi griech. Opern wie Spyridon Xyndas „Parlamentskandidaten“ spielten. 1909 hielten Operette und Revue, die in Smyrna sogar eigene Autoren hatten, Einzug. Die Blockade während des Weltkriegs förderte die Konsolidierung einheimischer Theaterkräfte, und die dreijährige griechische 648 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Herrschaft ab 1919 führte noch zu einer kurzen Blüte. Puchner nennt hier 10 Theater, das älteste war 1841 gegründet worden. c) Alexandria: Die Autonomie von der Hohen Pforte erleichterte in Ägypten die Entste hung und Entwicklung eines italienischen und griechischen Theaterlebens. Die älteste helle nische Gemeinde wurde 1843 in Alexandria gegründet, wo 1864 griechisches Berufstheater einsetzte. Puchner verzeichnet die Namen der Truppen und die Auftritte der ersten griechi schen Primadonnen dort (Pipinä Vonáséra, Aikaterini Veroni, Evangelia Paraskevopulu). Das Theater „Zizania“ wurde Mittelpunkt der Aufführungen, u. a. der,Antigone“-Übersetzung von Alexandras Rizos Rangavis, von Vernardakis’ „Merope“ und Za(m)belios’ „Georgios Kastriotis“. Patriotische Themen unterlagen hier keinerlei Zensur, und viele Griechen sahen den Besuch griechischer Vorstellungen als patriotische Pflicht an. Ab den 1990er Jahren erweiterten auch in Alexandria Kom(e)idyllia, Melodramen und romantische Zugstücke französischer Art die Repertoires; Ibsens „Gespenster“ markierten 1896 das Einsetzen der Moderne. Puchner führt nicht weniger als 12 Theater in Alexandria an. Im Gegensatz zu Konstantinopel blieb der ägyptische Hafen auch in der Zwischenkriegszeit - und bis zu Nassers Revolution (1952)— ein wichtiger Standort griechischen Theaters. 1939 wurde ein einheimisches griechisches Ensemble, sogar mit Schauspielschule, gegründet. d) Die Städte des Balkans: Hier steht Bukarest im Vordergrund. In den 11 griechischen Schulen der Stadt begann um 1830 wieder bescheidenes Laienspiel, aus dem
aber auch die ersten rumänischen Schauspieler hervorgehen sollten. Konstantinos К. Aristias führte Voltaires „Brutus“ und „Semiramis“ sowie Alfieris „Oreste“ auf Griechisch auf, was wei tere Übersetzungen hervorrief; fast alle rumänischen Dramenübertragungen erfolgten aus dem Griechischen. Nach der Vereinigung von Moldau und Walachei (1859) setzt auch die hellenische patriotische Dramatik wieder ein. Mit der Bildung Athener professioneller Truppen nach 1860 wurde Bukarest zur wichtigen Tourneestation. Paparrigopulos’ Satire „Gattenwahl“ und patriotische Dramen, u. a. „Suliotes“ und „Markos Botsaris“, standen jahrelang auf dem Spielplan. 1888 kam Aikaterini Veroni, 1891 Evangelia Paraskevopu lu, die 1895-1899 mit ihrer inzwischen eigenen Truppe große Erfolge errang. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. verfiel das griechische Theater in Rumänien, insbesondere aufgrund der nationalen Spannungen wegen der aromunischen Frage. Kürzer geht Puchner auf das griechische Drama in Brăila, Galati, Ismail und Constanţa sowie in Varna ein: Im Wesent lichen haben dieselben Ensembles wie in Bukarest auch diese Orte bespielt, am intensivsten Brăila. In Philippopel/Plovdiv mit seinem griechischen Bevölkerungsanteil von damals 30% gab es 1872/1873 professionelle Vorstellungen, ebenso in Adrianopel/Edirne. 1880 und 1881 erschienen zwei Truppen mit breit gefächertem, auch klassischem Repertoire in Ostrumeliens Hauptstadt. Zuerst 1884 spielte die Paraskevopulu dort, auch 1889 feierte sie dort Triumphe, u. a. mit „Galateia“; sogar Prinz Ferdinand von Bulgarien besuchte diese griechische
Vorstellung. In den Folgejahren erlebten die 3 Theater viele griechische Gastspiele, bis die nationalen Spannungen 1906 zur offiziellen Auflösung der hellenischen Gemeinde führten, was deren Theaterleben versiegen ließ. Thessalonikis Theatergeschichte vor 1912 ist noch unzureichend erforscht. 1858 bis 1860 bespielte ein griechisches Ensemble die Stadt (1860 auch Monastir/Bitola), 1870 zwei andere Truppen, die eine mit Pipinä Vonáséra als Protagonistin. 1875 spielten zwei Südost-Forschungen 72 (2013) 649
Literatur- und Theaterwissenschaft weitere Ensembles in neuen Sommertheatern am Kai. Ab 1880 wurde Saloniki in die über See gehenden Tourneen zwischen Konstantinopel, Smyrna, Hermupolis usw. eingefügt. Außerdem war es Station eines engeren Spielnetzes, das die Landwege benutzte (zusammen mit Serres, Drama, Monastir, Melenikos/Melnik, Philippopel). Wie in Konstantinopel war in Saloniki das hellenophone Theater nur ein Teil eines kosmopolitisch-mehrsprachigen, wobei hier das sephardische eine besondere Rolle spielte. Erhebliches Gewicht hatte auch das Laienspiel griechischer Vereine und Schulen (schon 1873 mit dem „Hernani“). Nach der Angliederung an Griechenland 1912 behinderten die Folgen der Balkankriege und der Erste Weltkrieg ein intensiveres Theaterleben. Für Serres führt Puchner ein Gastspiel im Winter 1873/1874 an, für Drama und Komotini solche Besuche erst zu Beginn des 20. Jh. Griechisches Laienspiel gab es auch anderswo in Thrakien, in Thessalien erst nach der Annexion ab 1881 (in Larisa, Trikala, Karditsa, Volos). e) Kleinasiatische [genauer: pontische] Städte (außer Smyrna): Editionen von Dramen mit Themen des einheimischen Griechentums, z.T. in pontischem Dialekt, erschienen bereits seit 1860 (10 Autoren). Spielzentrum war Trapezunt; dort wurde 1895 ein griechi sches Theater erbaut, aber Amateurvorstellungen gab es spätestens seit 1876 (Antoniadis’ „Armatolen und Kleften“). Von 1899 bis 1914 sind für jedes Jahr Gastspiele namhafter Ensembles verzeichnet. In Kerasunt/Giresun setzte die Spieltätigkeit 1906 ein („Leonidas bei den Thermopylen“), in Amisos/Samsun
1908. Laienvorstellungen wurden zwischen 1896 und 1919 auch in Kotyora/Ordu, Kromna, Rizus/Rize und sogar im Hinterland (Daniacha, Santa) bis hin zum entlegenen Kars gegeben, wobei meist noch Männer die Frauenrollen spielten. Im Pontos griff die osmanische Zensur offenbar weniger ein als in Konstantinopel oder Smyrna. f) Kreta: Eine beachtenswerte Dilettantenbewegung, an der auch Elevtherios Venizelos beteiligt war, begann 1880 in Chania (u. a. mit „Doxapatris’ Kindern“ von Sophoklis Karydis, viel übersetztem Molière und Hugo sowie Komödien von I. N. Kungulis). Die Konsuln der Großmächte sahen sich die Vorstellungen an, 1892/1893 gab es „Kabale und Liebe“, den „Hernani“ (beides übersetzt) sowie die „Galateia“. In Heraklion sah Kazantzakis als Kind 1889 die von Berufsschauspielern aufgeführten „Räuber“; er selbst stellte im Gymnasium den Kreon aus „König Ödipus“ dar, und zwischen 1906 und 1908 verfasste er fünf avantgardistische Dramen. g) Zypern: Dramatische Werke von Zyprioten wurden ab 1869 geschrieben (vor 1877 gab es dort schon vier Autoren). Für 1870 ist Laienspiel in Lemesos/Limassol nachgewiesen (Michel Pichats „Leonidas“ in der Bearbeitung von Angelos Vlachos), etwas früher für Levkosia/Nicosia wahrscheinlich. In Larnaka trat 1875 die erste professionelle Truppe auf (u. a. mit dem „Versklavten Chios“). Nachdem die Insel 1878 britisches Protektorat geworden war, erlebte das griechische Laientheater eine Blüte. Ab 1881 wurden Larnaka, Lemesos und Levkosia in die Tourneeprogramme meist aus Alexandria kommender Truppen eingebunden. Kapitel 6 ist dem „Schattentheater und
Formen von Volkstheater“ gewidmet (161-169). Professionelle mobile Volkstheatervorstellungen betrafen in osmanischer Zeit vor allem das Schattentheater. Der älteste Bericht über z.T. griechische Aufführungen am Bukarester Hof datiert von 1781. Wichtig für den Übergang vom ithyphallischen Karagöz zum hellenophonen Karagiozis war aber die Kreierung neuer Dialekttypenfiguren um 1890, die die soziale 650 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Umwelt Griechenlands widerspiegelten. Nach der Erweiterung des Staatsgebietes 1880 erschien in Orten wie Amfilochia, Arta, Preveza und Metsovo eine Gruppe von Schatten spielern, die bedeutende Repertoirezusätze brachte. Diese „epirotische“ Tradition umfasste nun besonders das Stück,Alexander der Große und die verfluchte Schlange“, das griechische Sagen und Märchen um Alexander als Drachentöter, die Vita des Hl. Georg, aber auch das Element der vielgliedrigen „Schlange“ aus einem osmanischen Stück kombinierte - eine Adaptation an die griechische Volkskultur. Ein zweiter neuer Typus von Vorstellungen, die „heroischen“, schöpfte aus der Revolution von 1821. Während der Türkenherrschaft sind griechischsprachige Volksschauspielvorführungen v. a. aus Thrakien (Ortaköy) nachgewie sen, besonders „Der Bey“. Bekannter ist der „Kalogeros“-Ritus in Vizyi/Vize, um 1860, den Georgios Vizyinos beschrieben hat (mit türk, und bulgar. Parallelen). Aus dem Pontos führt Puchner das karnevaleske Gerichtsspiel „Momogeroi“ an, eine satirische Darstellung der Kadi-Willkür (Trapezunt, Santa, Stavrin, Matsuka). Kapitel 7 trägt den Titel „Die Bosporus-Metropole zwischen Sultansreich und kemalistischem Nationalstaat“ (171-174). Puchner gliedert in ihm das griechischsprachige Theater Konstantinopels von 1900 bis 1922 in 3 Phasen: 1900-1908 noch Belle Époque՛, 1908-1913 gab es nach kurzem, von der Aufhebung der Zensur getragenem Enthusiasmus einen Rück gang der Spieltätigkeit, teils durch die Folgen der Jungtürkischen Revolution, teils durch Theaterschließungen wegen schlimmer Brände
bedingt; 1914-1922 gab es einen weiteren Rückgang wegen erneuter Zensur, Dardanellenkrieg, Zuschauerspaltung in Royalisten und Venizelisten - mit leichter Belebung nach Ende des Ersten Weltkriegs. Es wird eine Übersicht aller griechischen Ensembles gegeben, die während dieser ganzen Zeit in Kon stantinopel zu sehen waren. 1912/1913 spielte man u. a. schon die „Salome“ von Wilde, danach klafft aber eine Lücke bis 1918, als z. B. eine Operettentruppe den „Walzertraum“ aufführte. Zum Schluss wird wieder der bedeutende Anteil der Amateurspielbewegung am hellenischen Theaterleben Konstantinopels betont, die selbst nach der Dezimierung der griechischen Bevölkerung (1923) nicht völlig zum Erliegen kam. Die etwas dunkel geratenen Abbildungen (179-193, Bildnachweis 194-196) zeigen 23 Fotos bzw. Postkarten von Theatertruppen und Einzeldarstellerinnen (Evangelis Tsortanidu, Marika Kotopuli, Aikaterini Veroni, Kyveli Adrianu; Dionysios Tavularis), Theatern, Plakaten und Theaterzetteln. Die reiche Bibliographie ( 197-207) führt mit 210 Titeln, darunter 50 von Puchner selbst, den Interessierten ebenso weiter wie der erschöpfende Anmerkungsapparat des Bandes. Die drei Register (209-235), dankenswert ausführlich, ermöglichen auch selektive Lektüre des äußerst detailreichen Buches. Puchner sieht sein Werk bescheiden als eine Art „Vorstudie“ an; der Rezensent betrachtet es durchaus schon als Grundlage eines Handbuchs. Für ein solches sollte aber besonders die Syntax überarbeitet werden. Im Hinblick auf das Ziel des Handbuchs möchte der Unterzeichnete auch die folgenden Korrekturvorschläge
verstanden wissen: S. 4: „griech. Kolonie in der Bosporus-Metropole [.] das größte ausländische Kontin gent“ - ein höherer Anteil der Griechen Konstantinopels war in der Türkei einheimisch. S. 17 und 93: „französ. Botschaft in Smyrna“ - hierbei handelte es sich um ein Konsulat. S.28 „(1533/1534 - nach 1700)“ - richtig ist: „1633/1634 - nach 1700“. S.38: „litteSüdost-Forschungen 72 (2013) 651
Literatur- und Theaterwissenschaft rature sentimentai“ — „sentimentale“. S. 46: „Georgios Nikolaos Soutsos“ - „Nikola(o)u“ (Vatersname). S. 47 „Orphée et Euridice“ — „Eurydice“. S. 53 u. ö.: „Authentische Akade mie“ - richtig ist „Fürstliche Akademie“. S. 57: „in den ersten beiden Jahrzehnten“ -
richtig: „im zweiten Jahrzehnt“. S. 59, Anm. 7: „gouvernment“ — „gouvernement“. S. 83, Anm. 1: „Bibliyografasi“ ֊ „Bibliyografisi“. S. 85 „hellenophonen Populationsgruppen“ - „griechi schen“. S.98: „smyrneische Idiom“ — richtig: „smyrnäische“ oder „smyrnaische“. S. 105: „M. Ali (1805-1849) [.]
Vizekönig“ — die Klammer sollte nach „Vizekönig“ stehen, da nur die Regierungszeit gemeint ist. S. 112 u. ö.: „Mittlerer Osten“ ֊ richtig: „Naher Osten“. S. 132 „1816/1817“ — „1916/1917“. S. 140 u. ö.: „Maryupol“ ֊ russ. „Mariupoľ“, ukr. „Marijupiľ“. S. 143 u. ö. „Taganrok“ - „Taganrog“. S. 144
„NovjiyTeatr“ — „Novyj“. S. 147: „Kišiniev“ - „Kišinev“ (fehlt im Register). S. 149: „Baki“ - aserisch „Baki“, russ. „Baku“. S. 157: „Winter 1899/90“ - „1899/1900“. S. 162, Anm. 7: „Historical Archiv“ - „Historical Archive“. S. 163 unten „Orta Oynu“ - „Orta Oyunu“ (anderswo richtig). Abbildungen:
Nr. 4 (und 2 x im Bildnachweis, S. 194): „Volkstheater К. I. Zumbalova“ richtig: „Zubalov“ (ohne -m-·. s. den Namen kyrillisch in Nr. 6; das -a ist hier russ. mask. Genitivendung). Nr. 7: ֊ letzte griechische Zeile ist zu tilgen. Nr. 18 (und Bildnachweis, S. 195): „Frontansicht des Theaters „Odeon“
in Konstantinopel“ — die Aufschrift der Postkarte ist deutlich als „Smyrnę — Théâtre de Smyrne“ erkennbar
(dieses Versehen und das bei Nr. 4 sind aus fremden Publikationen übernommen). S. 195 (zu Abb. Nr. 17): „Papagioannou“ - „Papa'ioann(o)u“. Personenregister, S.209: „Atsiz“ - richtig: ,Atsiz“; und S. 219: „Vladikavkas“ (ebenso S. 150): Vladikavkaz - gehört ins Ortsregister. Solche Kleinigkeiten mindern den Wert des bedeutenden Bandes jedoch nicht, der zum einen darin besteht, die weitgehend unbekannten Facetten seines Themas einem internatio nalen Publikum in einer der „großen“ europäischen Sprachen bekannt zu machen. (Gewisse Überschneidungen ließen sich bei der einen so weiten chronologisch-geographischen Rahmen füllenden Thematik kaum vermeiden.) Zum anderen kann man Puchners Werk aber auch als wichtigen Beitrag zur Überwindung der einseitig national (staatlich) en Thea terhistoriographie zugunsten einer kulturräumlichen begrüßen. Hamburg Günther S. Henrich Das rumänische Theater nach 1989. Seine Beziehungen zum deutschsprachigen Raum. Hgg. Alina Mazilu / Medena Weident / Irina Wolf. Berlin: Frank Timme Verlag 2011 (Forum: Rumänien, 8). 441 S„ 26 sw. Abb., ISBN 978-3-86596-290-4, €39,80 Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem spektakulären Ende des Ceauşescu-Regimes haben Theaternachrichten aus Rumänien hierzulande eher Seltenheitswert - im Unterschied zur Wahrnehmung aktueller Tendenzen in der rumänischen Literatur und im Filmschaffen. Der vorliegende Band ist das eindrucksvolle Ergebnis einer rumänisch-deutsch-österreichi schen Teamarbeit der Herausgeberinnen Alina Mazilu, Medena Weident und Irina Wolf. 652 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen Der umfangreiche Band (441 S., davon 15 S. Bildteil) umfasst mehr als 40 Beiträge über wiegend rumänischer, auch moldauischer und deutsch-rumänischer Theaterwissenschaftler, Theaterkritiker und Theatermacher, die in 8 Interviews der Herausgeberinnen thematisch strukturiert und inhaltlich kommentiert werden. Das Buch lenkt den Blick auf eine span nende Theaterszene, die sich seit mehr als 20 Jahren lebhaft entwickelt und schöpferisch immer wieder neu definiert. Bis auf 4 wissenschaftlich-publizistisch bedeutende Vertreter der während des 2. Weltkriegs geborenen Forschergeneration (Elisabeta Pop, Nicolae Prelipceanu, George Banu, Ion Parhon) gehört die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren zur Generation der Ende der 1950er bis Anfang der 1980er Jahre Geborenen. George Banu skizziert im Überblick exemplarische Inszenierungen und Grundzüge der „Entwicklung des Rumänischen Theaters nach 1989“ (19-41) aus einer wechselnden Perspektive der Nähe und Ferne, Bukarest und Paris. Sein überraschendes Fazit: Die wich tigsten Regisseure Rumäniens haben ihre Karriere noch vor 1989 erfolgreich begonnen. Spielpläne seit 1989 dienen zwar als Indikatoren für einen politisch-konzeptionellen Um bruch, liefern aber auch den Beweis für ein Kontinuum verloren geglaubter Inspiration: „Was sich im Schatten der Zensur entwickelt hatte, erblühte plötzlich, denn die Keime waren schon da“ (20). So wurde die in sozialistischer Zeit weitgehend verdrängte bzw. ideo logisch instrumentalisierte klassische Dramatik wiederbelebt; die Orientierung an west- und außereuropäischen Bühnen setzte
wieder ein bis hin zum „Shakespeare-Festival“ (Bukarest/ Craiova) — nicht zuletzt auch dank der Rückkehr bedeutender Regisseure „der goldenen Generation“ wie Andrei Şerban (der Stücke von Sarah Kane in Klausenburg inszenierte), Lucian Pintilie, Liviu Ciulei, Radu Penciulescu, Vlad Mugur oder Lucian Giuchescu. Radikaler Sprachduktus wurde seit den 1990er Jahren an den rumänischen Bühnen als Offenbarung der Freiheit wahrgenommen. Es folgten, teils episodenhafte, lokale Neuanfange von der Gründung der ersten unabhängigen Theater-Kompagnie „ACT“ über UndergroundTheater wie das „Teatrul Luni de la Green Hours“ in Bukarest (das seit 1997 einen NonstopSpielplan anbietet und sich systematisch auf die Förderung junger Regisseure, Schauspieler und Dramatiker in Rumänien konzentriert) bis hin zur aktuellen Theaterszene, die auch von jungen Dramatikern und Regisseurn bestimmt wird. Unter dem Titel „Theater als Eingriff in den Alltag“ stellt Mihaela Michailov (109-114) sozialkritische Spielarten des rumänischen Gegenwartstheaters vor, die sich als „Theater des Unmittelbaren verstehen“, wie „dramAcum“, eine Performance-Gruppe, die Textwettbewerbe für Autoren unter 26 veranstaltet und gleichzeitig die Einbeziehung „kleiner Sprachen“ (wie Irisch, Makedonisch, Bulgarisch oder Serbisch) in das Theatergeschehen fördert, oder „tangaProject“, Kunst vor Ort, die Theatergeschehen auf die Straße hinausbringt. „Die Generation 2000 plus“ begreift sich in bewusstem Gegensatz zu den Vertretern der älteren Generation der 1970er und 1980er Jahre (vgl. Alexander Hausvater), denen Cristina Modreanu
(115-122) „eine Synchronisation mit dem Westen im Schnelldurchlauf“ (115) attestiert: Hier haben „die Räume des Aktuellen und die multimediale Versuchung“ (116) dramaturgischen Vorrang. Einen besonderen nationalen und internationalen Stellenwert besitzen die Festivals, die seit vielen Jahren regelmäßig in mehr als 10 Städten Rumäniens veranstaltet werden. Große Resonanz finden die Theaterfestivals in Hermannstadt/Sibiu (FITS, mit Teilnehmern aus 70 Ländern und insgesamt 350 Veranstaltungen an 66 Orten, begleitet von einer zweispraSüdost-Forschungen 72 (2013) 653
Literatur- und Theaterwissenschaft chigen Anthologie, Schwerpunkt: Zeitgenössische Dramatik) und das Nationale Festival in Bukarest, FNT, das — begleitet von einem kulturellen Rahmenprogramm — preisgekrönte Inszenierungen vorstellt (Daniela Magiaru, 61-65). Der Beitrag zum Thema „Theaterpublikationen nach 1989“ von Miruna Runcan (6774) gibt einen kritischen und detaillierten Überblick über den noch schwankenden Markt rumänischer Druck- und Online-Zeitschriften sowie Buchpublikationen zum Thema „Theater und Kultur“. Originelle Konzepte für den künstlerischen Einsatz des Bühnenbildes als Gegenentwurf zu ideologisch vorgegebener dramatischer Darstellung bis hin zur „Bühneninstallation als selbstständigem Kunstwerk“ (visual art) und zu Video-Installationen entwickelt Adrian Mihalache (87-96): Der Bühnenbildner wird Künstler und Interpret - folglich unmittelbarer „Mitgestalter der Inszenierung“. Weitere thematische Schwerpunkte setzen die Beiträge zu neuen Konzepten jüngerer Regisseure, die eigene Wege der künstlerischen Abgrenzung und Profilierung im gesamteuropäischen Theater suchen (Andrei Şerban, Silviu Purcărete, Mihaj Măniţiu, Alexandru Dabija, Radu Afrim oder Radu-Alexandru Nica). Unter dem Titel „Die Macht der Rebellen“ stellen Medena Weident und Irina Wolf dramaturgische Konzepte von Vertretern der jüngsten Generation als „Theater als Stellungnahme“ vor (215-223). Tendenzen und innovative Elemente einer „Neuen Dramatik“ werden in Kurzbeiträgen, z. T. Übersetzungen aus der Online-Kultur-Zeitschrift,Aurora“ präsentiert. Ştefan Peca lässt eine junge Generation rumänischer
Dramatiker Revue passieren (227-234), die - von den „etablierten Theatern“ kaum akzeptiert — oft spektakulären Publikumserfolg haben. Daniela Magiaru skizziert das dramatisch-poetische Universum von Matei Vişniec (235244), das die Grenzen zwischen Traum und Realität, Ästhetik und Politik, in Richtung eines neuen Absurden Theaters auflöst und sich dabei immer wieder auf die traumatische Realität der kommunistischen Zeit bezieht. Kritisch beleuchtet Alina Nelega, Schriftstellerin und Dramatikerin, in ihrem Beitrag („Der Dramatiker ist tot. Es lebe der dramatische Autor!“, 245-251) Phasenverschiebungen der Rezeption zeitgenössischer Inszenierungen der 1990er Jahre, die erst mit 20 Jahren Verspätung vom Publikum angenommen wurden. Einen wichtigen Beitrag dazu haben u. a. Stiftungen („Soros“) und Programme der Europäischen Union, geleistet, die z. B. das „Dramafest“ (ab 1997) erst ermöglichten, einen Textwettbe werb, der die aktuelle szenische Sprache Rumäniens, so Nelega, erst auf europäisches Niveau brachte. Die Dramaturgin selbst und ihre Theaterarbeit als „Detheatralisierung“ werden von Mirella Nedelcu-Patureanu porträtiert (253-262): „Wir können sagen“, bescheinigt ihr die Autorin, „dass eine ganze Generation, ihr Schreibstil, ihre Art Theater zu machen, sich in ihren bedrückend schmutzigen Farben auf dieser Brücke zwischen zwei Welten [.] wiederfindet“, in dem „von Osten nach Westen grenzüberschreitenden Theater“ (262). Herausragend ist auch die Position des sprachlichen Minderheitentheaters innerhalb der experimentellen Vielfalt der rumänischen Theaterlandschaft.
Traditionsreiches und inno vatives Theater wird am Ungarischen Staatstheater in Klausenburg/Cluj-Napoca/Kolozsvár und am Ungarischen Staatstheater „Cisky Gergely“ in Temeswar/Timişoara gespielt, dem ältesten nationalen Staatstheater Rumäniens, gegründet 1792. Das rumänische Nationalthe ater „Lucian Blaga“ wurde 1906 in Klausenburg gegründet. Über die Grenzen Rumäniens hinaus ist auch das dortige Ungarische Puppentheater „Puck“ bekannt, dessen Vorläufer 654 Siidost'Forschungen 72 (2013)
Rezensionen auf die Gründung eines zweisprachigen Puppentheaters 1949 durch die Klausenburger Regisseurin und Pantomimin Ildikó Kovács zurückgeht. Der Sammelband, der thematisch noch weiter ausgreift („Austausch mit dem Ausland“ Initiativen des Österreichischen Volkstheaters, Wien; Irina Wolf und die „Rezeption ös terreichischer Dramatik in Rumänien“; Eleonore Ringler-Pascu), ist eine Fundgrube für hierzulande unbekannte, z.T. kaum zugängliche Informationen und von großem Nutzen zur Orientierung in einer lebhaft expandierenden Kulturszene. Man wünscht dem Buch die Aufmerksamkeit, die ihm in hohem Maß gebührt. Berlin Renate Windisch-Middendorf Loukia Stephou, Die neugriechische Metaphrase von Stephanites und Ichnelates durch Theodosios Zygomalas. Madrid: Consejo Superior de Investigaciones Cientificas 2011 (Nueva Roma. Bibliotheca Graeca et Latina Aevi Posterioris, 35). XXV, 330 S., 11 Abb., ISBN 978-84-00-09402-7, €35,Manóles G. Barbunēs, Λαογραφικές παραστηρήσεις στο έργο „Τα κατά Στεφανίτην και Ιχνηλάτην“ [Volkskundliche Anmerkungen zu „Stephanites und Ichnelates“]. Xanthi: Spanidis 2012. 94 S„ 6 Abb., ISBN 978-960-6653-59-9, € 15,98 Die byzantinische Literatur hat interessanterweise nicht allzu viele Texte aus dem Orient übernommen; einer der wenigen ist der misogyne satirische Fürstenspiegel des arabischen „Kaliiah wa-Dimnah“ (Fabeln des Bidpay oder Pilpay), der Ibn-al-Muqaffa zugeschrieben wird und über das Persische auf das sanskritische „Paücatantra“ zurückgeht. Die hochsprach liche byzantinische Fassung, von Symeon Seth (11. Jh.) verfasst und wahrscheinlich auf
Bestellung des Kaisers Alexios I. Komnenos (1071-Ш8) vorgenommen, bekam den Titel „Stephanites und Ichnelates“ und wurde ihrerseits, neben den zahlreichen Übertragungen aus dem Sanskrit, in viele Sprachen, so ins Kirchenslawische, Lateinische und Italienische übersetzt. Daneben existieren jedoch auch die neugriechischen Metaphrasen von Theodosios Zygomalas (1584) und Dimitrios Prokopiu (1721).1 Beide hier anzuzeigenden Arbeiten beschäftigen sich mit den volkssprachlichen Über tragungen der nachbyzantinischen Zeit; wie die zahlreichen Handschriften nahelegen, bestand eine bedeutende Nachfrage nach diesem popularen Lesestoff. Die Arbeit von Loukia Stephou legt eine kritische Ausgabe des Zygomalas-Textes von 1584 vor, während diejenige von Manolis Vammis den folkloristischen Sachkommentar einer nicht zustande gekommenen kritischen Ausgabe der Prokopiu-Fassung von 1721 bildet. Die Monographie von Loukia Stephou geht auf ihre Dissertation am Institut für Grie chische und Lateinische Philologie an der Freien Universität Berlin zurück; ihr Doktorva ter Johannes Niehoff-Panagiotidis hat es sich nicht nehmen lassen, für die Drucklegung in der spanischen Reihe „Nueva Roma“, die bereits eine Fülle von byzantinischen und neugriechischen Texten der frühen Neuzeit vorgelegt hat, eine umfangreiche spanische „Introducción“ (XI-XXV) zu verfassen. Während die hochsprachliche Fassung mit ihren Südost-Forschungen 72 (2013) 635
Literatur- und Theaterwissenschaft vielen Handschriften bereits eine zureichende philologische Darstellung erfahren hat,2 liegt für die Zygomalas-Fassung keine kritische Ausgabe vor. Die nun vorliegende Ausgabe stützt sich auf 22 Handschriften (und 17 weitere Mikrofilme), die ausführlich im 2. Kapitel (2168) beschrieben sind und die sich aufgrund von textimmanenten Indizien in zwei Haupt gruppen teilen lassen; die stemmatischen Abhängigkeitsverhältnisse sind überaus komplex (68). In der Folge wird die Vernetzung des in der Patriarchatskanzlei tätigen Zygomalas mit Gelehrten seiner Zeit erhellt (Beziehungen zu Crusius, 69-76) und seine edierten und inedierten Schriften vorgestellt (77f). Ein weiteres Kapitel widmet sich der Terminologie der Intertextualität - den Differenzen von Übersetzung, Paraphrase und Metaphrase (79-85), die Zygomalas selbst zu indizieren scheint. Es folgt ein Abschnitt zu den Beziehungen der Fassungen des byzantinischen Textes untereinander (neben der von Seth gibt es noch die „Recensio Eugeniana“ des sizilianischen Griechen Eugenios Panormites alias Eugenios von Palermo aus der 2. Hälfte des 12. Jh.s) sowie ein Abschnitt zur Metaphrase von Zygomalas (87-142), der zu dem Ergebnis kommt, dass die Übertragung von 1584 eine durchaus schöpferische Eigenleistung von Zygomalas darstellt, der seine Autonomie in der freien Wiedergabe seines Vorbildes nicht verbirgt, aber gleichzeitig auch seine innere Verbindung mit der Vorlage nicht leugnet. Dies tut dann das Kapitel zur Sprache (143-168) im Detail kund. Die oszillierende Zwischenstellung zwischen hoch- und
volkssprachlichem Stilduktus wird dann noch in einem eigenen Kapitel analysiert, wo die in Frage stehende Metaphrase mit zwei anderen Werken von Zygomalas, der „Synopsis minor“ und den „Thematoepistolae“ (168-172), sowie mit zwei Fabeltexten (173-178) verglichen wird. Die umfangreiche und minuziöse Einleitung endet mit der Deskription der Editionspolitik („Zur vorliegenden Ausgabe“, 179-182). Es folgt die kritische Edition des Textes ( 182-287) mit lateinischem apparatus criticus, der insgesamt zwölf Handschriften vom 16. Jh. bis 1736 berücksichtigt und demgemäß einen nicht unbeträchtlichen Teil jeder einzelnen Seite ausmacht. In die satirische Narration des Fürstenspiegels und die 15 Dialoge mit dem Philosophen sind mehr als 100 Tierfabeln und „Mythen“ eingestreut, in jener gemischten und mäanderförmigen Struktur, die viele „Volksbücher“ als erfolgreiche populare Lesestoffe kennzeichnet. Es folgen noch das Lite raturverzeichnis und die Abbreviationen (289-311), die Abbildungen der Handschriften (313-320), eine Kurzfassung (321-323) und das English summary (325-328) sowie ein kurzer Index Verborum Notabilium (329-330). Den Band beschließt (ohne Seitenzählung) eine eindrucksvolle Liste der titulos publicados der „Collección Nueva Roma“. Der andere zu besprechende Band stellt eine Separatpublikation der volkskundlichen Kommentare zu einer geplanten kritischen Ausgabe der Redaktion des Arztphilosophen und Übersetzers Dimitrios Prokopiu (1721) dar, die der klassische Philologe Manolis Papathomopulos, der auch viele neugriechische Texte in kritischen Editionen vorgelegt hat,
ins Werk setzen wollte, doch eine heimtückische Krankheit hat ihm zu früh die Feder aus der Hand genommen und ließ die Edition unvollendet.3 Seinem Angedenken ist auch dieses Buch gewidmet. Dimitrios Prokopiu (alias Pamperis) stammte aus Moschopolis im heutigen Albanien und studierte in Konstantinopel. Während seines Aufenthalts am phanariotischen Hof in Bukarest entsandte ihn Nikolaos Mavrokordatos nach Padua, um dort Medizin zu studieren. Die charakteristische Gelehrtenbiographie der Zeit endet mit seiner Rückkehr 656 Südost-Forschungen 72 (2013)
Rezensionen nach Bukarest, wo er am Phanariotenhof Leibarzt und Sekretär des Fürsten wird und seinen Sohn Konstantinos als Hauslehrer unterrichtet. Prokopiu hat auch einen Abriss des neugriechischen Schrifttums verfasst (1722 von J. A. Fabricius in Hamburg herausgegeben), die erste griechische Übersetzung von Fénélons „Les aventures de Télémaque“ vorgenom men (1715) und neben anderen Arbeiten auch das byzantinische Vorbild der Übersetzung von Symeon Seth ins gesprochene Griechisch der Zeit ins Werk gesetzt. Darüber gibt eine kurze Einleitung von Varvunis Auskunft. Die Kommentare selbst gehören ausschließlich der vergleichenden Erzählforschung an und beschäftigen sich nicht mit philologischen oder sprachkomparativen Themenstellungen, die sich wie von selbst stellen, wenn man die vorhin vorgestellte kritische Ausgabe der Fassung von Zygomalas ( 1584) ins Auge fasst - dies hätte eigentlich von Papathomopulos als erfahrenem Texteditor geleistet werden sollen. In der Fassung von Prokopiu beschränken sich die Tierfabeln und eingestreuten Märchenstoffe auf 77 (nach anderer Zählung). Varvunis ist wie immer bibliographisch auf dem letzten Stand, gehört doch die internationale Erzählforschung zu den am besten organisierten Zweigen der Volkskunde. Aus der Nummerierung der z. T. umfangreichen Kommentare ist nicht immer gleich zu ersehen, auf welches Fabulat sich die Anmerkungen beziehen, doch ergibt sich nun die Möglichkeit, da die Edition der Prokopiu-Fassung sich verzögern wird bzw. überhaupt ins Wasser fallen kann, die Kommentare auf die Zygomalas-Redaktion zu beziehen, handelt es
sich doch um zwei verschiedene Metaphrasen desselben byzantinischen Textes. Insofern sind die beiden Bände auch als gegenseitige Ergänzungen zu lesen. Athen,Wien Walter Puchner 1 Dazu Johannes Niehoff-Panagiotidis, Übersetzung und Rezeption. Die byzantinisch neugriechischen und spanischen Adaptionen von Kalilah wa-Dimnah. Wiesbaden 2003; vgl. auch meine Rezension in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 534-537. 2 Vittorio Puntoni, Stephanitēs kai Ichnēlatēs. Quattro recensioni della versione greca del Kitab Kalila wa Dimna [di Bidpai]. Firenze 1889; A. V. Rystenko, „Stefanit i Ichnilat“ po grečeskim spiskam Mjunchenskoj Korolevskoj Biblioteki [Bidpai], Odessa 1909; John Theophanes Papademetriou, Studies in the Manuscript Tradition of Stephanites kai Ichnelates. Urbana/IL 1960; Lars-Olof Sjöberg, Stephanites und Ichnelates. Überlieferungsgeschichte und Text. Stockholm u. a. 1962; Niehoff-Panagiotidis, Übersetzung und Rezeption. 3 Zur Zusammenarbeit von Varvunis mit Papathomopulos vgl. auch meine Anmerkungen in Südost-Forschungen 65/66 (2006/2007), 803f. Südost-Forschungen 72 (2013) 657
Rezensionen Topographisches, Sach- und Personenregister zu den Titeln der rezensierten Bücher Agrargeschichte 502 Albanien 357, 376, 395, 461, 470 Alexakis, Eleutherios P. 553 Antonescu, Ion (Marschall) 478 Archäologie (in Albanien) 395 Aromunen 386 Atatürk, Mustafa Kemal 383 Bakarie, Vladimir 512 Balkanlinguistik 390, 406, 611, 614 Belgrad 518 Bessarabien 428 Bergei, Hans 621 Leonid Iľič Brežnev 521 Bukarest 434 Bulgarien 390, 611 Bürgertum (Rumänien) 434 Bunaciu, Avram 374 Byron, George Gordon 618 Byzantinisches Reich 583, 625 Ceausescu, Nicolae 521 Chamen 363 Coler, Edith von 479 Dalmatien 487 Deutsches Reich (1871-1918) 447, 465 Deutsches Reich (1933-1945) 479, 481, 483, 487 Dobrudscha 475 Donau (Fluss) 422, 433 Ehe (Institution) 424 England siehe Großbritannien Erinnerungskultur 398, 406, 543, 546 Erster Weltkrieg 404, 461, 465, 469, 590 Ethnische Säuberung 404 Eugenik (in Südosteuropa) 404 Europa 380, 398, 546 Faschismus 383, 419 Filmgeschichte (Südosteuropa) 540 Südost-Forschungen 72 (2013) Finnland 516 Frankreich 437, 465 Fünfkirchen siehe Pécs Geschlechterbeziehungen (Südosteuropa) 534 Glagolica 390 Griechenland 366, 371, 387, 435, 456, 498, 523, 553, 554, 557, 559, 562, 565, 568, 570, 571, 580,618 Großbritannien 465 Habsburgerreich 453, 465, 590 Hermannstadt siehe Sibiu Hoxha, Enver 406 Istanbul (Konstantinopel) 449 Juden (in Rumänien) 483 Jugoslawien 371, 512, 516, 518, 523, 543 Karantanien 363 Karamanlis, Konstantinos 523 Karrer, Pavlos 606 Kemalismus 383 Kollektivierung (in Rumänien) 502 Kommunismus 356, 383, 419, 502, 530 Konstantinopel (Byzanz) 646 Korfir 636
Kosovo 470 Kote, Jorgji 376 Kreta 600, 639 Kriegsgräuel (Zweiter Weltkrieg) 404 Kriminalgeschichte 538 Kroatien 409 Kroatien (NDH) 487 Kulturpolitik (allgemein) 528, 540 Kyrill 390 Literaturgeschichte, neugriechische 646, 655 Literaturgeschichte, rumänische 632 Literaturgeschichte, serbische 406 659
Rezensionen Marulus, Marcus 614 Massenmedien (in Rumänien) 435 Mesolongi 618 Migration 550 Minderheit, deutsche (in Ungarn) 495 Minderheit, serbische (in Ungarn) 472 Minderheiten (in Südosteuropa) 433, 597 Moldau, Fürstentum 428 Moldau, Republik 359 Musikwissenschaft 583, 600, 603, 625 Naher Osten 380 Nationalismus 404 Nationsbildung 380, 398 Nomaden 422 Osmanisches Reich 447, 449, 458, 465, 469, 475, 642, 646 Österreich siehe Habsburgerreick Pannonien 363 Pécs 401 Pressewesen, griechischsprachiges 435 Puchner, Walter 603 Ragusa (Republik) 387 Rassismus 404 Religion in Südosteuropa 438 Roma 573, 586 Rumänien 374, 434, 435, 437, 442, 478, 483, 502, 578, 632, 652 Russland 428, 465, 481 Salzbuger Kirche 363 Sarajevo 414 Serbien 406, 438, 465, 472, 491, 550, 593 Sexualgeschichte 424 Sibiu 652 Siebenbürgen 578, 652 660 Sinti 573 Slawenmission 363 Somló, Felix 369 Sowjetunion 516 Sozialgeschichte Südosteuropas 380 Sozialismus 356, 383 Südosteuropa (allgemein) 380, 425, 528, 534, 538, 540 Terrorismus 538 Theaterwissenschaft 582, 603, 626, 630, 642, 646, 652 Tito, Josip Broz 523 Tsiganologie (allgemein) 573, 586 Türkei 383, 475, 630 Türken (Minderheit) 433, 475 Ungarn 369, 472, 495 „Unternehmen Barbarossa“ 481 Venedig 600 Vereinigte Staaten von Amerika 456 Vertreibung 495 Volkskunde, griechische 553, 554, 557, 559, 562, 565, 568, 570, 571, 580, 582, 600, 603, 610, 639, 655 Volkskunde, österreichische 590 Volkskunde, serbische 593 Vršac 626 Walachei, Fürstentum 424 Werschetz siehe Vršac Wirtschaftsgeschichte (Griechenland) 387 Wirtschaftsgeschichte (Südosteuropa) 425 Zwangsarbeit
487 Zweiter Weltkrieg 371, 404, 478, 479, 481, 483, 487 Zypern 475 Südost֊ Forsch ungen 72 (2013) |
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