[Rezension von: Gotthard, Axel: Der Dreißigjährige Krieg : eine Einführung. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau Verlag, 2016. - 392 S. 3 s/w Abb.]:
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Frühe Neuzeit geschichte der Stadt Košice mit der Ostmitteleuropas und bietet für beide neue Erkennt nisse und Einsichten. Viersen Wolfgang Kessler Axel Gotthard, Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2016 (UTB 4555). 392 S„ 3 s/w-Abb., 4 Kt., ISBN 978-3-8252-45559, € 24,99 Ein „Studienbuch“ (53) ist es gewiss. Ein „Büchlein“ hingegen nennt Axel Gotthard seine Einführung in den „Teutschen Krieg“ an mehreren Stellen seines kurzen Vorworts (llf.) ֊ eine doch grobe Untertreibung, nicht nur wegen des Umfangs und des Formats dieses UTB-Bandes. Axel Gotthard, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen-Nürnberg, legt eine thematisch umfassende, flott geschriebene und gerade für Studenten in der Anfangsphase des Studiums geeignete Einführung vor, die trotz aller Konzessionen an eben jenen Einführungscharakter mit einer Detailfülle be sticht, die sogar Südosteuropa seinen, zugegebenermaßen schmalen, Platz in diesem Kriegs geschehen einräumt. Schon der Blick in das Inhaltsverzeichnis erfreut den Rezensenten. Zwar geht Gotthard in den fünf Kapiteln im Wesentlichen chronologisch vor und bietet somit eine klassisch zu nennende Aufarbeitung seines Themas an, erlaubt sich mit dem 3. Kapitel („Wie hat man im Dreißigjährigen Krieg gelebt, gekämpft und gelitten?“, 155-213) aber einen aus führlichen Exkurs in die Alltagsgeschichte der 1. Hälfte des 17. Jh.s. Dabei hat er vor allem diejenigen Aspekte im Fokus, die für den Kriegsalltag bedeutsam sind: v. a. das Leben und das Kämpfen als Söldner; den Kriegsalltag allgemein;
die ökonomischen Voraussetzungen und Folgen des Kriegswesens im 17. Jh.; nicht zuletzt auch Fragen nach den und an die Quellen („Das Quellenproblem“, 205f). Sehr lobenswert ist das kleine Unterkapitel „ Alles gar nicht so schlimm?“ Der Forschungsmythos“ (203-205), in dem Gotthard aufzeigt, wie zwei schlecht recherchierte Monographien aus der Mitte des 20. Jh.s dazu führten, dass selbst in renommierten Handbüchern die Mär vom leichten Bevölkerungszuwachs während des Krieges fröhliche Urständ feierte. Die ersten beiden Kapitel, „Der lange Weg in den Krieg“ (13-71) und „Ereignisabfolge 1 : der große deutsche Konfessionskrieg (1618-1630)“ (73-153) haben die Zeit im Blick, in der das Primat des Handelns und auch die militärische Fortune ganz klar auf Seiten der Habsburger und der Katholischen Liga lag. Dabei folgt Gotthard nicht nur detail kundig dem Weg des Pfälzer Kurfürsten Friedrich V. (1596-1632) in die Katastrophe in Böhmen, die ihm den spöttischen Beinamen „Winterkönig“ einbrachte, sondern arbeitet auch minutiös den Ablauf des in der Literatur häufig nur am Rande behandelten Nieder358 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen sächsisch-Dänischen Kriegs heraus. Im 2. Kapitel findet dann auch Siebenbürgen und sein Fürst Gabriel Bethlen Erwähnung (80-82). Gabriel Bethlen wird hier als „neuer Ver bündeter für die böhmischen Aufständischen“ (82) des Sommers 1619 vorgestellt und als ,Abenteuernatur“ wie auch als „offenbar ausgesprochen frommer Calvinist“ charakterisiert (ebd.). Sein Entfachen eines Aufstandes der Ungarn wird hier als zusätzliche Bürde für die Habsburger Maßnahmen angeführt. Im 4. Kapitel mit dem Titel „Ereignisabfolge 2: Mitteleuropa wird zur Bühne von Groß machtrivalitäten (1630-1648)“ (215-290) wird ein Schwerpunkt der Darstellung auf die Internationalisierung des Krieges gelegt: War der Krieg in Böhmen mit dem „Winterkönig“ noch klar ein Konflikt innerhalb des Reiches, griff König Christian IV. von Dänemark und Norwegen (1577-1648, König ab 1588) lediglich als Obrist des niedersächsischen Reichs kreises und ohne Rückendeckung des dänischen Reichsrates in den Konflikt ein, so war mit dem Auftreten Gustav II. Adolfs von Schweden (1594-1632, König ab 1611) der Krieg ein europäischer geworden. Europäisch und schließlich so vertrackt und kaum zu durch schauen, dass selbst die einsetzende Kriegsmüdigkeit ab 1638 dazu führte, dass der Krieg noch volle zehn Jahre weiterging. Hier wird auch noch einmal Siebenbürgen eine (kleine) Rolle spielen ֊ durch das Bündnis Schwedens mit Georg Rákóczi, das 1645 habsburgische Truppen gen Südosten zwingen und so den Druck auf die schwedischen Besitzungen in Norddeutschland entscheidend mindern sollte (287), was die schwedische
Verhandlungs position in Osnabrück erheblich verbessern sollte. „Der lange Weg zum Frieden“ lautet, auf die Überschrift des 1. Kapitels anspielend, das 5. und abschließende Kapitel (291-362). Noch einmal vermag Gotthard zu zeigen, wie verzwackt und sogar für die Zeitgenossen kaum durchdringbar die gesamte Lage war, warum also letztlich 30 Jahre gekämpft werden musste. Die im Laufe des Buches sattsam vorgestellten Faktoren wie konfessionelle Spannungen, fehlender Friedenswillen bei der gerade Oberwasser habenden Kriegsfraktion, Weiterlaufenlassen des Kriegs zum Unterhalt der riesigen Truppenkontingente oder die Europäisierung samt der damit einhergehenden Entkonfessionalisierung des Konflikts werden noch einmal aufgeführt; auch heute eher seltsam anmutende Kriegsgründe wie die „Ehre“ (307f.) finden hier ihren Platz. Der West fälische Frieden selbst wird im Detail analysiert; sehr gelungen ist die Aufarbeitung von dessen ideologischer Verwendung in den Jahrhunderten danach, als er allzu oft als Beleg für den „Zerfall“ des Reiches herhalten musste (327-333). Mehrmals im Laufe der Darstellung fragt Gotthard, warum der Krieg weiterging (112117, 131-153, 248-257). In diesen kleinen Unterkapiteln fasst er prägnant die Faktoren zusammen, die jeweils einem früheren Friedensschluss die Grundlagen entzogen. Wer sich fragt, wieso 30 Jahre lang Gemetzel sein konnte, wird hier fündig - die „Maßlosigkeit der Sieger“ ist dabei nur einer von mehreren Faktoren, sicherlich aber jener, dem man die Hauptschuld geben kann. Was der Rezensent an Kritik vorzubringen vermag, ist meistenteils nur
Arbeit am Detail. So würde er der Aussage, dass „die dänische Flotte bei Fermam [sic!] vernichtend ge schlagen“ (130) wurde, keinesfalls zustimmen.1 Auch bekommt der Band durch den VerSüdost-Forschungen 76 (2017) 359
Frühe Neuzeit such, sprachlich möglichst korrekt zu gendern, an einigen Stellen einen sehr bemühten Anstrich: Im kommentierten Quellen- und Literaturverzeichnis steht zunächst zu lesen, dass „aber der Proseminarstudent gar keine 12 oder 15 Bücher zu ein und demselben Thema lesen“ will; jedoch „die wenigen im Folgenden genannten Werke kommen für die Proseminarstudentin - sie hat mein Kompendium im Visier! - infrage, wenn sie [.] eine ,zweite Meinung“ einholen will“ (370). Inkonsistent ist gelegentlich die Verwendung von Namensformen: So heißt es einmal „Carlo Emanuele“ (141), einmal „Karl Emanuel“ (79) von Savoyen; und während „Gabriel Bethlen“ (80) deutsch daherkommen muss, wird „György Rákóczi“ (287) ein ungarischer Auftritt gewährt. Wenn es überhaupt etwas gibt, was als Ärgernis zu bezeichnen wäre, so sind es die vier Karten des Bandes. Sie sind sehr klein, schwarz-weiß, sehr detailreich - die Folge ist eine gewisse Unübersichtlichkeit. Und wieso sich von gerade einmal vier Karten zu einem Krieg, der von 1618 bis 1648 dauerte, gleich zwei mit dem Jahr 1648 beschäftigen müssen, während die Feldzüge der Schweden kartentechnisch überhaupt nicht aufgearbeitet werden, mag sich nicht so recht erschließen. Nun aber möge Sixtus Beckmesser schweigen ֊ denn Axel Gotthards Werk verdient ein eindeutig positives Fazit! Abgesehen von der Schreibe, die lebendig und mitreißend, aber keinesfalls peinlich salopp ist, ist es ihm gelungen, den gesamten Zeitlauf von 30 Jahren Krieg samt seinem Vorlauf und seinem Nachleben im kollektiven Gedächtnis nachzu zeichnen, dabei kluge Schwerpunkte
zu setzen und sich immer wieder ein Innehalten zu erlauben, um das zuvor deskriptiv Vorgestellte zu analysieren und einzuordnen. Es ist eine Einführung, fürwahr - aber wer dieses Buch gelesen hat, kann wirklich sicher sein, die wichtigsten Fragen zum Dreißigjährigen Krieg kompetent beantwortet bekommen zu haben. Regensburg Peter Mario Kreuter 1 Gemeint ist die Seeschlacht auf der Kolberger Heide 1644, in deren Verlauf König Christian IV. sein rechtes Auge verlor, was dazu führte, dass der militärische Vorteil, der aus dieser Schlacht er wuchs, aufgrund der schweren Verwundung ihres Königs von den Dänen nicht ausgenutzt werden konnte. Die Schlacht selber wird noch heute in der 1. Strophe der dänischen Königshymne „Kong Christian stod ved højen mast“ besungen. Emilian de Loviştea, Les Princes de ce monde entre la joie de la vie et le don de l’im mortalité. Paris: Éditions Apostolia 2016. 203 S., zahir, farb. Abb., ISBN 979-1091445-09-2, €29,90 Fürst Constantin Brâncoveanu (1654-1714, Fürst ab 1688) nimmt in der Geschichte der Walachei einen herausragenden Platz ein. Mit einer 25-jährigen Herrschaftszeit regierte er nicht nur länger als die meisten seiner Vorgänger, sondern trug in dieser Zeit auch 360 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen in hohem Maße zur wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des teilautonomen, unter osmanischer Oberherrschaft stehenden Fürstentums bei. Seine zahlreichen Kirchen- und Klosterstiftungen, von denen das Kloster Horezu die bedeutendste ist, sowie der Bau des Schlosses Mogoşoaia bei Bukarest wirkten zudem stilprägend für die Architektur seiner Zeit. Der nach ihm benannte Bräncoveanu-Stil zeichnet sich durch die originelle und harmonische Verbindung italienischer und orientalischer Stilelemente aus. Dem Betrachter fallen sofort die charakteristischen spiralförmig gedrehten Säulen, die Loggien, die weit überhängenden Holzdächer sowie die reichen Fassadenomamente mit Pflanzenmotiven ins Auge. Dieser Baustil überlebte den Fürsten und erlebte im 20. Jh. sogar mit dem NeoBräncoveanu-Stil eine Art Renaissance. Doch Constantin Brâncoveanu beschränkte sich nicht allein auf den Bau von Kirchen und Klöstern, sondern er förderte auch das Bildungswesen durch die Gründung einer Ritterakademie (Academia domnească) in Bukarest und v. a. auch durch den Buch druck. Letztlich ist seinem Mitwirken auch der Druck der ersten vollständigen Bibel übersetzung ins Rumänische, der Bukarester Bibel von 1688, im Auftrag seines Onkels Şerhan I. Cantacuzino zu verdanken. Politisch stand seine Herrschaft unter sehr ungünstigen Vorzeichen, da er immer zwischen den ins Osmanische Reich drängenden Mächten aus dem Norden und der Hohen Pforte lavieren musste. Daran scheiterte er schließlich, und nach seinem Tode begann in der Walachei die Phanariotenherrschaft, die bis 1821 währte. Als Bräncoveanus
Geheimverhandlungen mit dem russischen Zaren und dem österreichischen Kaiserhaus dem Sultan hinterbracht wurden, ließ er ihn mit seinen Söhnen in Bukarest festnehmen und nach Istanbul überfuhren. Dort wurde er zunächst gefoltert, um an seine verborgenen Schätze heranzukommen, und dann zusammen mit seinen vier Söhnen Constantin, Ştefan, Radu und Matei sowie seinem engen Berater Ianache Vacärescu am 15.8.1714 enthauptet. Das Datum war vom Sultan sicher bewusst gewählt worden, da es der 60. Geburtstag des Fürsten und der Namenstag seiner Frau Marika war. Doch, wie es in der Volksballade zum Verlauf der Hinrichtung heißt, wollte er lieber den Märtyrertod erleiden als seinen Glauben verraten und zum Islam übertreten, was der Sultan von ihm forderte, um so sein Leben zu retten. Während die Köpfe der Hin gerichteten öffendich zur Schau gestellt wurden, warf man die Leichname der Enthaupteten in den Bosporus, von wo sie heimlich geborgen und später in die Walachei gebracht wurden. Die zahlreichen Kirchen- und Klosterstiftungen des Fürsten und sein Märtyrertod wurden natürlich von der Kirche gebührend gewürdigt, und die Heilige Synode der Rumänischen Orthodoxen Kirche kanonisierte ihn 1992 und reihte ihn damit in die Reihe der einheimischen Glaubensmärtyrer ein. Eine umfassende Würdigung dieses neuen rumänischen Heiligen von kirchlicher Seite nimmt der Weihbischof von Râmnicu Vâlcea, Emilian Lovişteanul, in seiner Arbeit „Les Princes de ce monde entre la joie de la vie et le don de l’immortalité“ vor. Sie ist zur Erinnerung an den Märtyrertod des Heiligen vor 300 Jahren in der von
der „Métropole Orthodoxe Roumaine d’Europe Occidentale et Méridionale“ herausgegebenen Reihe Edition Apostolia erschienen. Diese Metropolie1 betreut die rumänischen orthodoxen Christen in West- und Südeuropa und hat ihren Sitz in Paris. Südost-Forschungen 76 (2017) 361
Frühe Neuzeit Der Autor lehrt gleichzeitig auch als Dozent fur Kirchengeschichte und Christliche Kunst an den Universitäten Craiova und Iaşi und rückt daher in seiner Darstellung naturgemäß kirchenhistorische und theologische Aspekte in den Vordergrund. So wird die Familie des Fürsten Bräncoveanu gleich zu Beginn als Modell der chrisdichen Familie vorgestellt, das in der Kirche noch heute seine Gültigkeit bewahrt hat und als Vorbild dienen sollte. In den zwölf Kapiteln der vorliegenden Arbeit werden die Familiengeschichte des Fürsten und seine Politik, insbesondere die diplomatischen Beziehungen mit den Mächtigen der Zeit beschrieben.2 Vor diesem Hintergrund wird das schwere Los der Fürstenfamilie dargestellt. Im frühen Kindesalter verlor Constantin zunächst den Vater und dann den Großvater, die beide bei internen Machtkämpfen ums Leben kamen. Von seinen elf Kindern, sieben Töchter und vier Söhne, erlitten die Söhne gemeinsam mit ihm schließlich den Märtyrer tod. Besonderes Gewicht wird in der Darstellung ferner auf seine Beziehungen mit der Kirche und ihren Hierarchen sowie auf die Bedeutung seiner zahlreichen Stiftungen gelegt. Ein wichtiger Punkt im Porträt des Fürsten ist natürlich die Geschichte seiner Kanonisierung und des damit verbundenen offiziellen Gedenkens durch die Rumänische Orthodoxe Kirche. Seine Stiftertätigkeit und sein Martyrium sowie das seiner Söhne und seines Schwiegersohns veranlassten die Kirche zu ihrer Kanonisierung. Die Heiligsprechung wurde freilich erst am 20.6.1992 durch den Heiligen Synod der Rumänischen Orthodoxen Kirche beschlossen und am
16.8., der als Gedenktag festgelegt wurde, im Kloster Horezu feierlich verkündet. Eine herausragende Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Erz bistum Râmnic, zu dem seine bedeutendste Stiftung, das Kloster Horezu, gehört, das seine Grablege und die seiner Familie werden sollte. Allerdings fand er seine letzte Ruhestätte nicht dort, sondern in Bukarest, in der Kirche Sfântul Gheorghe Nou. Doch auch hier konnte seine Beisetzung, um die osmanischen Autoritäten nicht zu provozieren, zunächst nur heimlich geschehen, und erst 1932 wurde er wieder exhumiert. Zum 300. Jahrestag des Martyriums in Istanbul wurden seine Gebeine nach der rituellen Reinigung in einen silbernen Sarkophag gelegt und am 21.5.2014 in einer feierlichen Prozession von der Patriarchatskirche in Bukarest in die Kirche Sfântul Gheorghe Nou überfuhrt und den Gläubigen zur Andacht übergeben. Das Schicksal des Fürsten und seiner Kinder hat auch die Folklore inspiriert und in der Volksballade „Balada lui Constantin Bräncoveanu“3 ihren Ausdruck gefunden. Sie und das Troparion der Märtyrer in französischer Übersetzung bilden den Abschluss der Darstellung. An sich fehlt noch das Kontakton. Deutlich wird der persönliche Bezug des Autors zu diesem, mit seiner Diözese eng ver bundenen, Märtyrer. In seinen Berichten über die zahlreichen religiösen und kulturell historischen Unternehmungen zu ihren Ehren zeigt sich sein starkes Engagement. Der mit zahlreichen farbigen Abbildungen ausgestattete Band ist eine würdige Hommage an den Märtyrer und seine Familie. Erlangen 362 Klaus Steinke Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 1 Unter http://www.mkropolia.eu/fr/ , 8.12.2016. 2 Inhaltsverzeichnis unter http://cachescan.bcub.ro/20l6/06_07/686863.pcli , 8.12.2016. 3 Unter https://www.versuri.ro/versuri/balade-populare-balada-lui-constantin-brancoveanu-_0427.html , 8.12.2016. Andras Vari /Judit Pál/ Stefan Brakensiek, Herrschaft an der Grenze. Mikrogeschichte der Macht im östlichen Ungarn im 18. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Ver lag 2014 (Adelswelten, 2). 397 S„ 36 teils farb. Abb., ISBN 978-3-412-22145-4, € 49,90 „Dieses Buch ist gleich in zwei Hinsichten ungewöhnlich: Eine Monografie, die von drei Autoren aus drei Ländern stammt, kommt nicht alle Tage auf den wissenschaftlichen Buch markt. Und eine deutschsprachige Originalveröffendichung zur ungarischen Geschichte ist ebenfalls recht selten“ (9). So lauten die ersten beiden Sätze im Vorwort der Publikation. Diese in der Tat seltene Konstellation ist das Ergebnis eines Forschungsprojekts zur Thematik „Frühneuzeidiche Institutionen in ihrem sozialen Kontext - Praktiken lokaler Politik, Justiz und Verwaltung im internationalen Vergleich“. Der Fokus einer Historikerin aus Rumänien sowie von zwei Historikern aus Ungarn und Deutschland verleiht diesem Werk die er wünschte Multiperspektivität. Die zentrale Fragestellung wird anhand des Buchtitels deutlich: Es geht um eine mikro geschichtliche Nahaufnahme der Macht. Der Zugang erfolgt durch eine Untersuchung der Kooperation von Personen ungleicher Stellung. Es handelt sich um eine historisch-anthropo logische Annäherung an die Akteure in „asymmetrischen Abhängigkeitsbeziehungen“
(22). Schauplatz ist das Komitat Szatmár im Nordosten des Königreichs Ungarn, dessen Gebiet heute zu drei Vierteln zu Rumänien gehört. Den familiären Bezugsrahmen stellt das Herrschaftsgeflecht der gräflichen Familie der Károlyi dar. Diese bedeutendste aristo kratische Familie des Komitats, die 1606 katholisch geworden war, hatte ihren Familien sitz in Nagykároly. Im 17. und 18. Jh. stieg die Familie zu den großen Magnatenfamilien des Königreichs auf. An der Seite der Habsburger gelang ihnen im 18. Jh. eine beispiel hafte Akkumulation an Gütern. Daran konnte auch der Wechsel von Sándor Károlyi (1668-1743) zu den Aufständischen des Kuruzzengenerals Ferenc Rákóczi (1676-1735) im Kuruzzenkrieg (1703-1711) nichts ändern. Denn 1711 wechselte er noch einmal recht zeitig die Seite und unterschrieb den Friedensvertrag von Szatmár. Aus der Sicht von Klientelnetzwerken wird der „Übergang von einer traditionellen segmentär-stratifizierten Gesellschaft zu einer modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaft“ (16) analysiert. Die Beziehung zwischen Patron und Klient ist einerseits eine ungleiche, andererseits beruht sie auf Reziprozität (18), denn Patron und Klient sind auf einander angewiesen. Gerade ihr Zusammenspiel verhieß eine optimale Ressourcenaus- Südost-Forschungen 76 (2017) 363
Frühe Neuzeit Schöpfung in einem Raum, der im 18. Jh. von der Transformation von einer traditionellen zu einer frühmodernen Gesellschaft gekennzeichnet war. Um den Wandel zu erfassen, griffen die Autoren auf das Konzept der intermediären Herrschaft zurück, das sich schon aufgrund der Staatsfeme des frühmodemen Königreichs Ungarn bis in das frühe 19. Jh. entfalten konnte und kennzeichnend für den ländlichen Raum Ungarns war (28f). Die wichtigste Quellengattung für die Analyse dieser Beziehungs netzwerke bildeten die Briefe, insbesondere jene der Grafenfamilie mit ihren Untergebenen. Diesem Umstand kam zugute, dass es sich bei dem Familienarchiv der Károlyis um eines der am besten erhaltenen Familienarchive Ungarns im Ungarischen Landesarchiv handelt. Der Längsschnitt bis in das frühe 19. Jh. ermöglicht es, Entwicklungsprozesse zu identi fizieren, die geradezu charakteristisch für diesen Raum sind: Sie reichen von der Phase der Rekonstruktion eines von den Türkenkriegen und dem Kuruzzenkrieg schwer getroffenen Raums zu Beginn des 18. Jh.s bis über die Reformen Josephs II. und dem sich abzeichnenden Bürokratisierungsprozess im frühen 19. Jh. Ein Prozess, der auch für die Herrschaftsver waltungen und Komitate kennzeichnend war. Offenbar war der patrimoniale Herrschafts verband am Anfang des 18. Jh.s aufgrund des wenig oder kaum ausgeprägten staatlichen institutioneilen Zugriffs die einzige Alternative einer sinnvollen Ressourcenausnutzung (350). Die häufige und zunehmende Abwesenheit der Magnatenfamilie in Wien erzwang die Anwesenheit von gut vernetzten Klienten mit
Schlüsselpositionen in der Herrschafts verwaltung, im Komitat und in der Stadt Szatmárnémeti, geradezu. Bevor die Rolle der einzelnen Klienten, ihr Verhältnis zu den verschiedenen Repräsentanten der Familie Károlyi, ihre Funktionen und ihre Netzwerke tief ausgeleuchtet werden, wird „Der Schauplatz und die Akteure“ vorgestellt. Dazu gehört auch die breite gesellschaft liche Stratifizierung des Adelsspektrums im Komitat. Für den deutschen Leser geradezu unentbehrlich ist eine Einführung in die verfassungsrechtliche Wirklichkeit der Komitate. Sie waren in Ungarn Ausdruck der ständischen Selbstverwaltung auf der regionalen Ebene (53-60). Diese ständische Lokalverwalmng musste für Joseph II. in seinem Streben nach einer zentralisierten, modernisierten Umorganisation der Verwaltung des Landes ein Stein des Anstoßes sein. Dem folgen eine Erläuterung der Organe der königlichen Verwaltung (60-67), eine Einführung in die Geschichte der gräflichen Familie (67-95) und der „Herr schaftspraxis im Komitat“ sowie der „privaten Güterverwaltung“. Vor dem Hintergrund dieses Rüstzeugs werden die verschiedenen Klienten, ihr Ein tritt in den gräflichen Dienst, ihre Aufgaben, ihre Fähigkeiten, ihre oft polyvalenten Ab hängigkeiten (besonders eindrucksvoll bei Gábor Erős) vorgestellt und das Innenverhältnis zwischen Patron und Klient dargelegt. Dabei geht es nicht nur allein um die Beziehungs konstellation, sondern darum, welche prozesshaften Wirkungsmechanismen für den Aus bau der Macht und Güterakkumulation diese Netzwerke in Gang setzten. Am Beispiel der verschiedenen Bezugssysteme
Patron-Klient werden Fragen nach der Rekonstruktion der verwüsteten Gebiete, nach dem Wandel der Komitats- und der privaten Herrschafts verwaltungen nachgegangen. Aber auch die asymmetrischen persönlichen Abhängigkeits verhältnisse zwischen Patron und Klient waren bis zum frühen 19. Jh. Veränderungs364 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen prozessen unterworfen. So werden mikrogeschichtlich belegbare Entwicklungen wie unter einem Brennglas verdichtet aufgezeigt, die ohne Zweifel Deutungspotential für makro historische Prozesse dieser Zeit haben. Dieses Vorgehen ist von unschätzbarem wissenschaftlichen Gewinn. Einerseits, weil Fragestellungen des Klientelismus in Ungarn bislang weitgehend unbeachtet blieben (32f). Andererseits, weil es gerade für das 18. Jh. wenig mikrogeschichtliche Studien zur patrimonialen Herrschaftspraxis gibt. So weist die Arbeit hinsichtlich ihrer Erkenntnisse und Schlussfolgerungen weit über das „ösdiche Ungarn“ hinaus. Wer sich mit der patrimonialen Herrschaftspraxis von Grundherrschaften etwa in Südungarn befasst, wird ein ganzes Spektrum zum Vergleich einladender, ähnlicher oder fast identischer Prozesse identifizieren: Ob das die Herrschaft Futakdes Grafen Andreas Hadik von Futak (1711-1790) ist, der mit seinem Güterpräfekten Franz Xaver Weber in Streit geriet. Oder ob das an der Entwicklung der Herrschaft Boly vom frühen 18. bis ins 19. Jh. der Grafen- und Fürstenfamilie der Batthyánys zu beobachten ist; oder auch ob das am Verhältnis von Patron zu Klient in der Herrschaft Valpovo der Freiherren Hilleprand von Prandau in Slawonien analysiert wird: In allen Beispielen zeigen sich bemerkenswerte Parallelen zur „Mikrogeschichte der Macht“ der Familie Károlyi. Auch diese drei Grundherrschaften wurden vom fernen Wien regiert. Auch hier waren Klienten vor Ort, die mitunter schwer oder nicht kontrollierbar waren und sich gerade um die Wende vom 18. zum 19. Jh. Freiräume
schufen. Auch hier zeigt sich, wie am Beispiel des bonorum regens Ignác Klobusiczky gegenüber dem Vormund der gräflich-károlyischen Güter, Graf Emmanuel Waldstein-Wartenberg, die starke Stellung des Klienten aufgrund seiner oft überragenden wirtschaftlichen Kompetenz und Ortskenntnis. Gleichwohl ergeben sich Unterschiede zu den südungarischen Herrschaften aufgrund der größeren Nähe zu den bedeutenden Märkten, was hier etwa Intensivkulturen begünstigte. Die vorgenommene Verzahnung von mikrogeschichtlicher Tiefenschärfe und der Kontextualisierung führt zu bemerkenswerten und teils überraschenden Ergebnissen: Die Autoren konstatieren, dass es am Anfang des 18. Jh.s „kaum Alternativen zum patrimonialen Herrschaftsverband“ gab (350). Sie legen den Wandel im Verhältnis zwischen Patron und Klient durch den Wegzug des Magnaten dar (351), woraus „Formen intermediärer Herrschaft“ (auch aufgrund der Staatsferne) entstehen konnten (351). Und: Der Büro kratisierungsprozess wurde von den Mienten eher befördert als behindert (353). Weiterhin gilt die schon von Wolfgang Reinhard geäußerte Erkenntnis, dass eine Kontrolle der ört lichen Eliten „durch die Institutionen eines Verwaltungsapparats nicht zu gewährleisten“ war, sondern v. a. durch „Einbindung jener Eliten in Klientelverbände der Zentrale“ - wobei es Joseph II. war, der durch die Zerschlagung der Komitate fast das Gegenteil bewiesen hat. Gibt es kritische Anmerkungen? Der Titel des Buches verheißt einen größeren Unter suchungsraum (östliches Ungarn), als dies dann eingelöst wird; eine vergleichende Verortung am Beispiel anderer
Magnaten hätte die Ergebnisse sicherlich verifiziert und auf eine noch breitere Basis gestellt. Die Detaildichte in Kombination mit der Weitwinkelana lyse unterbricht mitunter den Lesefluss und zwingt zum Verarbeiten des Lesestoffs. Inhalt lich wäre etwa ein deutlicher Beleg der Schlüsselaussage „Lange waren sich die ungarische Südost-Forschungen 76 (2017) 365
Frühe Neuzeit und die deutschsprachige Forschung einig, dass die Komitate das Rückgrat des ständischen Widerstandes bilden“ (57 und schon 14) wünschenswert gewesen, denn die Verwaltungs und Entscheidungspraxis in manchen Komitaten scheint gerade die ältere Forschung zu bestätigen. Das Innenverhältnis zwischen Patron und Klient vermag manche Fragen in Bezug auf patrimoniale Herrschaftsstrukturen zu beantworten. Allerdings kann die Lage der Untertanen, d. h. derer, die ganz wesentlich zur Wertschöpfüng der Grundherrschaften beitrugen, so nur partiell beleuchtet werden. Hier sind andere Quellen, wie etwa Akten des Herrenstuhls (sedes dominalis) oder des Komitatsgerichts (sedes judiciaria oder sedrict) ge fragt. Doch eine Annäherung an die Untertanen war auch nicht die Absicht der Autoren. Aber: Das sind unbedeutende Mäkeleien an einer brillanten, extrem arbeitsintensiven und beispielhaften Forschungsarbeit, die hoffentlich zur Nachahmung anregt. Tübingen Karl-Peter Krauss Constanţa Vintilă-Ghiţulescu, Patimă şi desfătare. Despre lucrurile mărunte ale vieţii cotidiene în societatea românească (1750-1860) [Leidenschaft und Entzücken. Uber die Kleinigkeiten des Alltags in der rumänischen Gesellschaft (1750-1820)]. Bucureşti: Editura Humanitás 2015. 484 S„ ISBN 978-973-50-4955-3, RON 47,20 “Patimă şi desfătare” continues Vintilă-Ghiţulescu’s series on the Wallachian and Mol davian societies in the 18th and 19th centuries. It reconstructs detailed scenes and patterns of daily life in this period and approaches some important themes that have so far been neglected in Romanian
historiography. The Is' chapter deals with the daily nutritional practices of both upper and lower class es, the author paying considerable attention to social differences, oriental influences, the importance of faith and superstitions in establishing the daily diet and to the introduction of new crops (tomatoes, potatoes), the import of other comestibles (pineapple, sugar) and western culinary practices. Chapter 2 examines the popularisation of civilising models in the two Romanian Prin cipalities. The author compares the more conservative, boyar’s model, promoted by Ienachita Vacarescu (in whose vocabulary the Greek word ipolipsis — respectability, reputa tion — occupies a central place) with the western model, promoted by Dimitrie Ţichindeal (I60f.) and Anton Pann, whose manual about good manners was influenced by Erasmus (127-132). Vintilă-Ghiţulescu also stresses the fact that boyars would on occasion employ courteous behaviour dissimulation, to conceal sentiments, especially fear, in front of for eign observers (132). Chapter 3 analyses the body, hygiene and body embellishment. The author emphasises, like in her previous book, the lack of hygiene, the pervading public squalor: no underwear 366 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen was used (182), people rarely washed themselves (193, 200f.) and changed their clothes (188), the use of handkerchiefs was uncommon (193-196). Sanitary education was inef fective and hygienic measures were applied with great difficulty (253). Chapter 4, entitled “Daily Universe”, is mainly concerned with the same themes as the previous one: the lack of public hygiene, access to water, the insalubrious state of both ru ral and urban spaces. Here, the author also discusses the problem of stray dogs and pro poses an interesting parallel between privy and politics (300f.). The 5th chapter, about sociability and conviviality, is thematically connected with the 2nd chapter. The author describes, in a somewhat random order, the world of the salon, ball room, coffee house and theatre and also the new forms of masculinity, gardening, repose, taverns, daily fears, disturbances of wild animals, public feasts, the bell and semantron, which set the rhythm of daily life, bathing and laughter. The next chapter approaches the public health system and touches on aspects connect ed to chapter 3: the organisation of hospitals and rest homes, the role of doctors and mid wives, quack remedies for the poor and spa visits for the boyars. The book concludes with aspects about death: testaments, the spectacle of hiñerais, the public organisation of cemeteries and the supervision of the gravediggers. One of the most interesting points made in this chapter is the opinion that modernity makes death more pub lic (447) and something like a commodity. In the authors own words: “the
newspaper makes the transition to commercial death. Everything becomes available and it’s for sale” (461). The multitude of topics addressed by the book is impressive, yet a few motifs surface continually throughout the book. One is the noticeable expansion of state intervention during this period. The state attempted to bring under regulation commerce, public hy giene, pharmacies, grave digging services, dental medicine. It tried to impose sumptuary laws and the cultivation of the potato. It banned bathing in public places, obscene theat rical plays, the burying of the dead in churches and cities. Despite the relative failure of these policies, the persistence with which they were constantly restated may have contrib uted to the expansion of state infrastructure and to the strengthening of its legitimacy to interfere in additional domains.1 Vintilă-Ghiţulescu is also very attentive to the issue of social inequality. Even though she cautiously admits that, because of the nature of the sources, hers is “for the most part the story of the rich [.]. It is the story of those who had something to say, of those who had the power to say something” (462), the book offers valuable information about the poor lower classes. Most of this information relates to the image of the commoner, in op position to which others, boyars and middle classes, defined themselves. The lower stra ta were identified by derogatory links to millet (25), pastrami (46), catfish as opposed to surgeon (79), the pipe as opposed to hookah (155), walking as opposed to carriage rides (328) and with hora as
opposed to imported European dances (340). The commoners were portrayed as lacking manners (128£), the physicians visiting them only after the boyars and sometimes avoiding them (407, 413). The Gypsies were portrayed as always starving Südost-Forschungen 76 (2017) 367
Frühe Neuzeit (79), having a specific odour (229) and when they passed away they were simply thrown into the common pits (449). Even more interesting are those passages in which the underprivileged themselves speak, revealing something about their own universe and the way in which they cope with their social position: the resistance to change of the peasants (411, 425), the ridicule of a mas ter by one young servant, in the absence of the former (376), the frenzy of Manea the Lu natic, who was, due to his alleged mental illness, tolerated when he yelled in the streets: “death to all boyars!” (394). And Theodor Merişescu, a fhgitive young boyar who came to work as a day labourer in a vineyard, could hardly endure the rough language of his mis matched co-workers, who mocked him because of his fancy clothes (177fi). On the other hand, it seems that the author does not position herself critically towards one type of sources frequently cited: the contemporary modernizing literature that em phasised the backwardness of those who didn’t renounce the old oriental ways and didn’t participate in the de-ottomanisation of Romanian society (I61fi, l42f., 147, 155, 2l4fi, 465). She refers to perennial national features when she writes: “There is something un defined in the fibre of this nation. Could it be laziness, negligence, carelessness, deriding? I cannot easily find an answer” (281). She makes the link between 18th and 19th centuries society and that of the early 21th century more clearly when she qualifies some early 19thcentury critique of the ignorance and preconceptions of
peasants and the laziness of the city dwellers as “more present than we would like to believe” (386, see also 466). These passages, which point to the responsibility of ordinary people for delaying the modernisa tion of the Principalities, contrast with the authors sympathetic descriptions of the poor, in which they are portrayed rather as victims: “Poverty is the only certainty [.]; small peo ple are losing the little that they have, worn out by taxes, maladies, bitterness and sadness.” To them, “every day brings nothing but misery” (464). By using a wide range of unpublished and published sources, the author convinces us once again that the lack of sources for the history of Romanian principalities before 1860 is just a myth (I4fi). This book is a welcome incentive towards fiirther research on this pe riod and more interest on the part of Romanian scholars in “Alltagsgeschichte” and his tory from below but also points towards the need for more theoretically robust compara tive approaches. Bucharest Damian Panaitescu 1 For an excellent analysis of this topic, to which Vintilă-Ghiţulescus research could bring more insight, see Vasile Olaru, Writs and Measures. Symbolic Power and the Growth of State Infrastruc ture in Wallachia, 1740-1800, PhD Thesis, Central European University, Budapest 2013. 368 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Fatma Sei Turhan, The Ottoman Empire and the Bosnian Uprising. Janissaries, Mo dernisation and Rebellion in the Nineteenth Century. London, New York: I. B. Tau ris 2014 (Library of Ottoman Studies, 34). 410 S., ISBN 978-1-78076-111-4, £ 68 In der späteren Regierungszeit Sultan Mahmuds II. (1808-1839) verfolgte die Hohe Pforte bereits eine zunehmend zentralistische Politik mit der Absicht, nicht nur die grenz nahen Provinzen stärker an die Reichszentrale anzubinden, sondern die Gesamtheit ihrer Landesteile, einschließlich (und besonders) der Kerngebiete. In den Provinzen führte dies zu unterschiedlichen Reaktionen. Gerade auch in den näher zur Reichshauptstadt ge legenen Landesteilen war eine der spürbarsten Folgen der Zentralisierungspolitik die zu nehmende Ressourcenknappheit auf der Ebene der Provinzial- und Lokalverwaltungen, da versucht wurde, immer mehr Mittel zur Bestreitung der zentralstaatlichen Projekte in den Händen des Fiskus zu konzentrieren. In ihrer Not griffen osmanische Provinzialregierungen daher mitunter zur Selbsthilfe, um der drohenden Unterfinanzierung entgegenzuwirken, bspw. durch Rationalisierung bestehender Besteuerungsverhältnisse und direktere Ver fahrensweisen bei der Einziehung von Abgaben und Umlagen. Dadurch drohte die ört liche Notabelnschaft, etwa durch den Wegfall ihrer traditionellen „Mitderfunktion“ bei der Erhebung von Steuern und Abgaben, nun ihrerseits einer ihrer wichtigsten Einnahme quellen beraubt zu werden. Solcherlei Selbsthilfe der Provinzialorgane konnte hier und da den Charakter regional begrenzter
Reforminitiativen annehmen, was vornehmlich für den Besteuerungssektor nachzuweisen ist. Solcherlei sich aus zunehmender Mittelknappheit auf Provinzebene entwickelnde regionale bzw. lokale Reforminitiativen wurden von der Zentralregierung gelegentlich mitgetragen, mitunter gar aufgegriffen, übernommen und sogar auf reichsweite Reformvorhaben übertragen; in Istanbul konzipiert worden waren sie bis 1839 typischerweise nicht. Die Zentralisierungsbestrebungen Sultan Mahmuds II. konnten aber auch Reaktionen zeitigen, die weit über den Besteuerungsapparat hinausreichten. Bosnien steht hier für eine solche Provinz, deren Notabelnschaft früher und umfassender als anderswo auf die Modernisierungspolitik dieses Sultans reagierte, da sie sich offensichtlich früher und um fassender als andere in ihren angestammten Rechten durch diese Politik bedroht sah. Für die Vertreter der Zentralregierung in Istanbul brachte die bosnische Reaktion auf die Nieder schlagung des Janitscharen-Aufstands in Istanbul und die Proklamation der reichsweiten Aufhebung der Janitscharen-Institution im Sommer des Jahres 1826 das fortschrittsfeind liche und dazu arrogante und überhebliche Wesen seiner Bewohnerschaft deutlich zum Ausdruck: „The arrogant manners [of the Bosniaks] who always and in every respect will proudly claim precedence as regards their intelligence, and predominance over all other Muslims, result from their being a simple-minded group who consider this a prime cause for their exaltation. [However] the [true] reason coming to mind is this: Until now, their behaviour which they show in this
matter, their calling for the acceptance of some of their requests and demands with the intention of [gaining] autonomy from other Islamic do mains, and [in] this context their intention to even claim Janissary status, have never been Südost-Forschungen 76 (2017) 369
Frühe Neuzeit opposed. When electing people with no manners or education to hold talks on these oc casions, [the terms] that will be mediated in the end [as being] a set of conditions and de mands to be met, are not [going to be] far removed from what we [already] know in terms of the behaviour of the Bosniak lot. First of all, they will avoid indicating what their de mands are, and in whatever they may bring up they will [merely] insinuate the proverbial meaning that ‘talk has fallen to the feet’, i.e. that the rabble has gained the upper hand in affairs of importance, arguing that ‘words which have fallen to the feet’ would [thereby] be addressed to a class of people who would not understand. While concealing their true intentions and designs, they would declare ‘we remain incapable of explaining the words to them’. Because this is far from honest, when conversing with them, wholesale conces sion-making and gentleness is bound to cause the rebellion of a regiment to spread; yet to be treated with grades of insult would provoke their obstinacy and harshness [further] [.]“. Diese Einschätzung der Bewohner Bosniens datiert vom 2. Oktober 1826. Sie stammt aus der Feder Abdurrahim Paschas, des muhafiz von Belgrad, kurz vor dessen Ernennung zum Generalgouverneur von Bosnien im Dezember desselben Jahres. Leider enthält die von Fatma Turhan vorgelegte englische Übersetzung (337f.) zahlreiche Ungereimtheiten, die das Verständnis erheblich erschweren. Zwar ist dieser Text in der Tat nicht überall grammatikalisch korrekt und daher tatsächlich stellenweise alles andere als
leicht zu ver stehen bzw. zu übersetzen. Um ihn dennoch in seiner Bedeutung als Zeugnis des mentalen Gegensatzes zwischen Vertretern des Zentralstaates und der osmanischen „Peripherie“ an gemessen würdigen zu können, hat der Rezensent hier den nochmaligen Versuch zu dessen Übertragung ins Englische unternommen, und zwar auf der Grundlage des Umschrifttextes (47). Für obige Fassung trägt der Rezensent daher die alleinige Verantwortung. Schon dieses kurze Zitat bringe nach Ansicht der Autorin nicht nur die Sichtweise eines hohen osmanischen Provinzialbeamten gegenüber den verworrenen Ereignissen in Bosnien und die typische Geisteshaltung von Vertretern der Staatsgewalt gegenüber den dortigen Be wohnern gut zum Ausdruck, sondern spiele bereits auf das Wesen jenes Konflikts an, der die ganze Region in Unordnung stürzen und gleichzeitig die Kräfte des Zentralstaats bis zum äußersten anspannen sollte. Gemeint ist die Revolte bosnischer Notabein unter Führung des Hüseyin kapudan und späteren Pascha Gradaščević (des „Drachen von Bosnien“) gegen die Reformpolitik Sultan Mahmuds IL, die mit der Aufhebung der Janitscharen-Corps in Istanbul, am 15. Juni 1826 und kurze Zeit später in Bosnien, wo der Eingang eines ent sprechenden Befehlsschreibens zwischen dem 7. und 16. Juli 1826 registriert wurde, ihren Ausgang nehmen und das Land fast ein Jahrzehnt lang in Atem halten sollte. Vorliegende Untersuchung widmet sich schwerpunktmäßig der Dekade von 1826 bis 1836 und dem Spannungsverhältnis zwischen der Provinz (osman, eyalet) Bosna und der Hohen Pforte. Unter Heranziehung von über 1000
Einzeldokumenten aus den osmanischen Zentralarchiven, aber auch Quellenserien aus der bosnischen Provinz wie den dortigen Kadiamtsprotokollbüchern, gelingt es der Autorin, ein umfassendes Bild der Ereignisse zu entwerfen, das immer der Doppelperspektive Zentrum versus Provinz gerecht wird. Dabei versteht es Turhan, nicht nur die türkisch- und englischsprachige Sekundärliteratur zum 370 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Thema in breitem Umfang einzuarbeiten und kritisch zu würdigen, sondern auch das ein schlägige Schrifttum in südslawischen Sprachen auszuwerten (französische und deutsch sprachige Fachliteratur wird hingegen nicht verwendet). Somit stellt diese Arbeit den lange überfälligen Versuch dar, die Wirren und Intrigen um den „Drachen von Bosnien“ auf dem neuesten Stand der Forschung umfassend auf/.uarbeiten, wofür der Autorin auf richtig zu danken ist. Dies gilt umso mehr, als es ihr nicht nur um die Darstellung der Handlungsabläufe an sich geht, sondern um die jeweils dahinter stehenden Motive und Argumentationsstränge — auf beiden Seiten des Ringens: Reichszentrale wie Rebellenhoch burg. Dies macht die Lektüre dieser Studie zu einem geradezu spannenden Unterfangen, was auch das breitere Lesepublikum zu würdigen wissen wird. Allerdings — und hier hat der Rezensent doch einige Mónita anzumerken - wird gerade dem nicht-fachkundigen Leser einiges zugemutet, angefangen mit den editorischen Mängeln, die dieses Buch leider aufweist. Da die „Übersetzung“ der türkisch-osmanischen Toponyme in die moderne bosnische Schreibweise unterbleibt, und selbst Sarajevo durchweg als „Saray“ (später im Text auch „Saraybosna“) geführt wird, ist für den des Türkischen unkundigen Leser die Orientierung kaum mehr möglich (vgl. jedoch die Übersicht mit Konkordanz, 67). Zu dem fehlt von den Dokumenten im Anhang jedwede Übersetzung (240-287). Schließlich ist das Englisch des Fließtextes mangelhaft redigiert (Ausfall von Wörtern [z. B. „by“, 90; „is“, 216; „on“, „is“, 231]; häufig Ausfall des
bestimmten Artikels „the“; mitunter falsches Wort „process“ statt „debate“, 39). Spätestens der Verlagslektor hätte hier Abhilfe schaffen müssen! Jedoch sind es nicht nur editorische Mängel, die unangenehm auffallen. So ist der Umgang der Autorin mit mancherlei osmanischen Fachtermini (bzw. deren Wiedergabe im Englischen) ungenau bis unrichtig, vgl. u. a. idare-i եևհսէ „makeshift measures” (9); divan-i eyalet-i Bosna „city council” (46); kudumiye tax „a landing fee” (80) sowie serbestiyet „liberty” (133) oder „freedom” (141). Bezeichnenderweise versäumt es die Autorin beim Versuch, das persisch-arabisch-osmanische serbestiyet angemessen ins Englische zu übertragen, bei dem es sich schließlich um einen KernbegrifF innerhalb der hier interessierenden Debatte handelt, die Wortbedeutung „Autonomie“ (autonomy) anzuführen, die dem Kontext doch wohl am ehesten gerecht werden dürfte. Alles in allem eine wichtige Arbeit, deren Ausführungsqualität jedoch zu wünschen übrig lässt. Auch hätte man sich zu manchen Themen eine breitere und zusammenhängende Be handlung gewünscht, wie etwa zum Symbolcharakter (und dem Diskurswert) der ReformUniformen mitsamt der umstrittenen Kopfbedeckung, dem bekannten Fez (vgl. 103,109f-, 113, 124, 145,180f.), dem „Landsturm“-Wesen (redif, passim), oder etwa auch zum Thema der Haltung bosnischer Nichtmuslime, speziell der Katholiken (206) und Juden, zum Auf stand des Hüseyin Pascha Gradaščević (keines der Stichworte so im Index!). Heidelberg Südost-Forschungen 76 (2017) Michael Ursinus 371
Frühe Neuzeit Steifen L. Schwarz, Despoten — Barbaren - Wirtschaftspartner. Die „Allgemeine Zei tung“ und der Diskurs über das Osmanische Reich 1821-1840. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2016. 332 S„ ISBN 978-3-412-50347-5, € 45,Die,.Allgemeine Zeitung“ (AZ), die seit Anfang 1798, zuerst unter dem Namen „Neueste WeltKunde“ und dann ab September jenes Jahres unter ihrem dauerhaften Namen er schien, entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zur bedeutendsten deutschen Zeitung. Das zuerst in Tübingen, danach in Stuttgart, in Ulm und schließlich in Augsburg erscheinende Blatt genoss weit über die Grenzen des Alten Reiches und dann des Deutschen Bundes hinaus den Ruf einer hervorragenden Informationsquelle. Aufgrund ihrer Bedeutung für die öffentliche Meinung galt ihr auch das Interesse der historischen Forschung. Neben all gemeinen Darstellungen zur Geschichte der Zeitung standen Aspekte ihrer Berichterstattung im Fokus. Eine umfassende Untersuchung über die Berichterstattung der AZ wie allgemein deutscher Periodika im 19. Jh. über wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche, kulturelle und militärische Themen, die das Osmanische Reich betrafen, liegt jedoch bislang nicht vor. Die hier zu rezensierende Arbeit, mit der Steffen L. Schwarz 2015 an der Universität Saarbrücken promoviert wurde, will diese Lücke, zumindest für die AZ, schließen. Der zeidiche Schwerpunkt seiner Untersuchung liegt dabei auf der Zeit zwischen 1821, dem Jahr, in dem der griechische Aufstand gegen die osmanische fferrschaft begann, und 1840, als die Rheinkrise den deutschen Nationalismus und den
deutschen Blick auf das Aus land substantiell veränderte. Schwarz wertete nicht nur über 7 000 Ausgaben der AZ aus diesem Zeitraum aus, sondern darüber hinaus auch die Briefe von und an die Redaktion, die entsprechende Korrespondenz der Herausgeber sowie die Briefe der Korrespondenten und Publizisten, deren Beiträge im Zusammenhang mit der hier untersuchten Thematik standen. Das Gros der Quellenbestände befand sich im Deutschen Literaturarchiv in Mar bach, darüber hinaus wurden auch einige Bestände der Hauptstaatsarchive in Stuttgart und München sowie der Nachlass von Friedrich Thiersch in der Bayerischen Staatsbibliothek miteinbezogen. Schwarz urteilt, die bisherigen Arbeiten über die AZ seien meist deskriptiv, außerdem fehle es ihnen an der konsequenten Anwendung historischer Quellenkritik. Mehr als bisher wolle er sein Augenmerk auf die Autoren, deren persönlichen Hintergrund, Interessen und Verbindungen richten, um sie einordnen und bewerten zu können. Bislang gab es nur wenige Studien zu einzelnen Korrespondenten und Autoren, ohne aber deren Berichterstattung näher zu untersuchen, und auch nur ein Bruchteil der entsprechenden Beiträge wurde bislang entsprechend aufgearbeitet. Von Anfang an nahm die Berichterstattung über das Ausland einen größeren Anteil ein als jene über inländische Themen, was damals allgemein, nicht nur bei der AZ, üblich war — eine Folge des damals dominierenden Kosmopolitismus, aber auch der Zensur, die die Inlandberichterstattung viel stärker einengte. Das Osmanische Reich, unter der Länder rubrik „Türkei“ geführt, wurde vor 1821 selten
behandelt, meist durch die Übernahme von Artikeln anderer europäischer Zeitungen. Erste Korrespondentenberichte fanden sich 1810, wobei im untersuchten Zeitraum kein einziger der Korrespondenten in Konstantinopel saß ֊ 372 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen erst ab 1840 berichtete ein Mitarbeiter der AZ von dort -, sondern an Orten, an denen sie guten Zugang zu Informationen über das Osmanische Reich fanden. Das Informations zentrum par excellence war in diesem Zusammenhang weit bis ins 19. Jh. Wien, das seit 1746 über eine Postverbindung mit der osmanischen Hauptstadt verfügte. Seit 1748 ver kehrte diese alle zwei Wochen, seit 1833 dann wöchentlich. Die Strecke wurde in 17-20 Tagen bewältigt, diese Reisedauer konnte in den 1830er Jahren auf 10-12 Tage reduziert werden. 20 Tage nach den Ereignissen trafen die Nachrichten darüber in Wien ein, in Paris dagegen erst nach 31-45 Tagen. Anfangs hielt sich die Frequenz der Berichterstattung über das Osmanische Reich wie auch das Interesse der AZ in Grenzen. Dies änderte sich grundlegend mit dem Ausbruch des Griechischen Unabhängigkeitskriegs 1821. Im 2. Quartal dieses Jahres fanden sich 94 Bei träge zu der Thematik (32 davon von Korrespondenten), ein Jahr später im gleichen Quartal dann 155. Innerhalb weniger Wochen wurde die AZ zur einflussreichsten philhellenischen Zeitung. Die Thematik war auch deshalb attraktiv, weil die Berichterstattung über andere damals aktuelle Auslandsthemen wie die konstitutionellen Bewegungen in Italien, Spanien und Portugal von der Zensur eingeschränkt wurde. Bis zum Mai 1821 berichtete Joseph Pilat, zugleich Redakteur des offiziösen „Österreichischen Beobachters“, über die Ereig nisse. Ab Mai entwickelte sich dann Dionys Haberlin zum wichtigsten Korrespondenten. Von 76 Korrespondentenberichten im 2. Quartal 1822 stammten allein 66 aus
seiner Feder. Bis 1827 war Haberlin für die AZ, aber auch den Großteil der europäischen Presse einer der wichtigsten Nachrichtenlieferanten. Seine Informationen bezog er nicht nur aus den offiziellen Quellen, sondern v. a. von den in Wien ansässigen Griechen, deren Blickwinkel Häberlins Berichte prägte und diesen eine klar pro-griechische Ausrichtung gab, während Pilat dagegen ganz im Sinne der antirevolutionären Metternich’schen Außenpolitik schrieb. Haberlin baute sein eigenes Subkorrespondentennetz entlang der Handelswege auf, so in Triest, Odessa, Sémiin, Hermannstadt, Kronstadt, Brody und Pest. Seine Vorein genommenheit wurde vom damaligen Chefredakteur Stegmann durchaus wahrgenommen, der dieser entgegenzuwirken suchte. Haberlin war ohnehin kaum mit Skrupeln behaftet, schreckte er doch nicht davor zurück, Falschmeldungen zu verbreiten, auch im eigenen Interesse, um die Börsenkurse in Wien zu beeinflussen. Im Herausgeber der AZ, mit dem er auch geschäftlich verbunden war - er tätigte für diesen in Wien Börsengeschäfte - fand er stets einen Fürsprecher gegen die Klagen Stegmanns. Johann Friedrich Cotta gab ohne hin der Aktualität von Meldungen den Vorrang vor ihrer inhaltlichen Zuverlässigkeit. So trug Haberlin mit dazu bei, dass die AZ - neben dem „Österreichischen Beobachter“ und dem „Spectateur Oriental“, die eine eher pro-osmanische Sicht präsentierten — zu einer Hauptquelle für die Vorgänge im Osmanischen Reich wurde. Es waren aber nicht nur die Korrespondentenberichte, sondern auch die Beiträge von renommierten Publizisten, die das Bild des Osmanischen Reichs mit
ihren Beiträgen in der AZ prägten. Ganz maßgeblich galt dies für den Liberalen und Philhellenen Friedrich Thiersch. Er und andere bemühten sich, das Widerstandsrecht der Griechen völkerrecht lich zu legitimieren. Es handle sich nicht um Rebellen, die sich gegen einen legitimen Südost-Forschungen 76 (2017) 373
Frühe Neuzeit Herrscher erhoben hätten - wie es Metternich sehen wollte — sondern eine Nation, deren Aufstand die Wiederherstellung einer Ordnung im europäischen Sinn und den Schutz der Christen zum Ziel habe. Hatte die philhellenische Bewegung nach den Erfolgen der aufständischen Griechen deudich an Intensität verloren, wurde sie 1825 wiederbelebt, nachdem ägyptische Truppen unter Ibrahim Pascha auf der Peloponnes gelandet waren und die Niederschlagung des Aufstands drohte. Die AZ plädierte für eine militärische Intervention zugunsten der Auf ständischen. Die Londoner Konvention, in der sich 1827 Großbritannien, Russland und Frankreich auf die Errichtung eines griechischen Staates verständigten, wurde in der AZ publiziert, noch bevor sie überhaupt abgeschlossen worden war. Überhaupt spielte die Zeitung eine wichtige Rolle bei der Publikation vertraulicher diplomatischer Dokumente, die ihr, wie Schwarz vermutet, von der russischen Botschaft in Wien, zu der Haberlin ver trauliche Kontakte unterhielt, zugespielt wurden, um damit die europäische Öffentlichkeit zu beeinflussen. Auch auf die Berichterstattung gelang es, Einfluss zu nehmen, stand doch ein Korrespondent in Wien, der badische Diplomat Adolph von Philippsborn, in russischem Sold. Aber auch ohne direkte Beeinflussung wuchsen bei philhellenisch gesinnten Liberalen wie Thiersch die Sympathien für Russland, sah man in dem Land doch den entscheidenden Gegenspieler des Osmanischen Reichs. Schwarz zufolge fungierte die AZ spätestens ab 1829 als publizistisches Instrument Russlands. Der Wandel in der russischen Orient
politik spiegelte sich auch in der AZ wider, nachdem Russland seine eigenen Interessen besser durch Erhalt eines geschwächten, aber weiter bestehenden Osmanischen Reiches gewahrt sah. Nun vertrat erstmals seit 1821 kein in Wien ansässiger Korrespondent mehr eine anti-osmanische Haltung, da Pilat und Philippsbom für die Beibehaltung des Status quo eintraten ֊ Haberlin saß damals eine sechsjährige Haftstrafe wegen wirtschaftlicher Vergehen ab. In den 1830er Jahren baute die AZ ihr Korrespondentennetz im Orient aus, seit 1829 verfügte sie über einen Korrespondenten aus Ägypten, zuerst der dänische Konsul in Alexandria, seit Anfang 1831 dann der spätere Heidelberger Orientalistikprofessor Gustav Weil, der auch über arabische Sprachkenntnisse verfügte. In der AZ wurden damals diverse das Osmanische Reich betreffende Zukunftsphantasien erörtert, wobei ganz unterschied liche Vorstellungen aufeinandertrafen. Neben Befürwortern einer Besiedlung durch deutsche Kolonisten traten andere wie der Diplomat Anton Prokesch von Osten, die den Status quo befürworteten. In jener Zeit übten Russland und Österreich erheblichen Einfluss auf die AZ aus, um die Zeitung als Instrument der Auseinandersetzung mit der englischen und französischen Presse zu nutzen. Weniger direkte finanzielle Zuwendungen als geänderte politische Rahmenbedingungen infolge der Verschärfüng der Zensur auch in Bayern nach der französischen Julirevolution 1830 und die Scheu des Chefredakteurs Stegmann vor einem Konflikt mit der Zensur standen hinter dieser Ausrichtung der Zeitung. 1832 trat Georg von Cotta an die Stelle
seines verstorbenen Vaters. In der Zeitung ging der Einfluss von Chefredakteur Stegmann zurück, da einzelne Rubriken nun weitgehend selbständig von den zuständigen Redakteuren betreut wurden und sich insgesamt eine 374 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen liberalere Tendenz durchsetzte. Seit 1835 nahm Gustav Kolb, der Stegmann 1837 als Chef redakteur folgen sollte, erheblichen Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung. Er war auch eher als Stegmann zu Konflikten mit der Zensur bereit. Russlands Ansehen bei den deutschen Liberalen wandelte sich nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1830/1831 in ein Feindbild; England dagegen, das man zuvor noch als wirtschaftliche Ge fahr wahrgenommen hatte, wurde nun positiv gesehen. Einen wichtigen Einfluss übte dabei der britische Publizist David Urquhart - auch über seine Zeitschrift „Portfolio“ - aus, der dafür plädierte, das Osmanische Reich durch Reformen zu einem Bollwerk gegen Russland zu machen. Die AZ fand sich nun im Spannungsfeld des englisch-russischen Gegensatzes wieder; beide Seiten versuchten, Einfluss auf die Zeitung zu nehmen. Kolb bemühte sich, den russischen Einfluss zurückzudrängen, womit Philippsborn immer mehr in einen Gegen satz zu anderen Korrespondenten und Autoren geriet. Selbst ein Philhellene wie Thiersch sprach sich nun für die Erhaltung des Osmanischen Reichs und dessen Europäisierung durch Reformen aus. Auf die Berichterstattung nahmen nun zunehmend die neu entstandenen, völkerrechdich noch nicht unabhängigen Staaten Einfluss. Der neue Korrespondent Wilhelm Hoppe, ein früherer Schreiber Häberlins, berichtete über Serbien, wobei er über exklusive Informationen dank seiner Verbindungen zu dessen Fürsten Miloš Obrenović verfügte. Der AZ waren diese engen Verbindungen bekannt, sie nahm sie aber in Kauf, da sie davon
profitierte. Die Be richterstattung über Serbien wurde von dessen Regierung mitgestaltet, so dass ein sehr ge schöntes Bild entstand, in dem die Unzufriedenheit im Land über die autokratische Herr schaft des Fürsten keine Erwähnung fand. Miloš hatte aber auch unter liberalen Publizisten seine Fürsprecher, was nicht zuletzt eine Folge des kurz zuvor erschienenen Buches von Leopold von Ranke über die serbische Revolution war. Eine wichtige Quelle war auch der seit 1813 in Wien lebende Vuk Stefanovič Karadžič. Hoppe, der in den 1830er Jahren in der AZ das Bild von Serbien, Montenegro und Bosnien-Herzegovina prägte, profilierte sich, neben Philippsborn, der dies in russischem Interesse tat, auch als Fürsprecher für Monte negro. Die beiden Korrespondenten gerieten jedoch bei der Berichterstattung über die Moldau und deren Hospodar Mihai Sturdza aneinander, als sie unterschiedliche Positionen einnahmen. Insgesamt nahm in der 2. Hälfte der 1830er Jahre der russische Einfluss auf die AZ ab, jener der christlichen Volksgruppen im Osmanischen Reich dagegen zu. Die französische Algerien-Expedition wurde in der AZ anfangs als im allgemeinen europäischen Interesse stehend wahrgenommen, der Anspruch Frankreichs, eine zivilisatorische Mission zu erfüllen, nicht in Frage gestellt. Ab 1836 bot die Zeitung aber ein Forum für sehr unterschiedliche Positionen, die auch Kritik am Vorgehen Frankreichs übten, darunter auch französische Stimmen. Dies war Teil eines Prozesses, in dem sich die deutschen Liberalen von Frankreich absetzten. In der Berichterstattung über den Emir Abd el-Kader, der
den Widerstand gegen die Franzosen anführte, zeigte sich eine positive Sicht der Araber. Abd el-Kader wurde als Verkörperung der moralischen Überlegenheit der Araber über die Türken dargestellt. Dies war Teil einer Kontroverse in der Zeitung seit der ersten Orientkrise 1832/1833, in der über die Zukunftsfahigkeit von Arabern und Türken Südost-Forschungen 76 (2017) 375
Frühe Neuzeit debattiert wurde. Man erwartete einen Wiederaufstieg der Araber, der in Ägypten unter Muhammad Ali seinen Anfang genommen habe. Die AZ konnte trotz gewisser Veränderungen während des untersuchten Zeitraums ihre führende Position für Nachrichten aus dem Osmanischen Reich und dem Nahen Osten behaupten, trotz stärker gewordener Konkurrenz. Dazu trug nicht nur ihre Be richterstattung bei, sondern auch die Publikation zahlreicher Reiseberichte aus der Region. Ende der 1830er Jahre war eine große inhaltliche Ausgewogenheit infolge der hohen An zahl unterschiedlicher Informationsquellen festzustellen. Die militärische Niederlage des Osmanischen Reichs im Krieg mit Ägypten 1839 zerstörte die Vorstellung, man könne es zu einem Gegengewicht gegen Russland aufbauen. Nun favorisierte man die Entstehung christlicher Nationalstaaten. Thiersch kehrte zu seinen philhellenischen, anti-osmanischen Positionen zurück und plädierte für die Auflösung des Reiches und seine Aufteilung unter den vier Großmächten. Einige wenige Flüchtigkeitsfehler, die wahrscheinlich bei der Schlusskorrektur übersehen wurden, seien kurz aufgeführt: Der Aufstand auf der Peloponnes 1821 war nicht im April (48), sondern bereits im März ausgebrochen, wie der Verfasser dann auch selbst schreibt (52). Dies hängt nicht allein vom verwendeten Kalender ab; einmal abgesehen davon, ob die Proklamation der Erhebung tatsächlich am 25. März (gemäß dem julianischen Kalender) stattgefunden hat, was umstritten ist, waren schon zuvor militärische Aktionen der Auf ständischen erfolgt. Zudem muss es statt Cortez-
Regierung richtig Cortes-Regierung lauten (106). Ein Lapsus ist dem Verfasser auch in der Bibliographie unterlaufen, wo bei Douglas Dakin Vor- und Familienname vertauscht wurden, was sich auch in den entsprechenden Anmerkungen wiederholt. Schwarz ist es mit seiner Monographie gelungen, die Berichterstattung und den Diskurs in der AZ über das Osmanische Reich während des untersuchten Zeitraums in all ihren Wandlungen herauszuarbeiten und dabei kenntnisreich in den jeweiligen zeitgenössischen Hintergrund einzubetten. Darüber hinaus wird zugleich der Wandel in der Einstellung zu Russland deudich, zumindest soweit dies im Zusammenhang mit der Stellung und Politik Russlands gegenüber dem Osmanischen Reich stand. Schwarz’ methodischer Ansatz, den Hintergrund der Korrespondenten auszuleuchten, hat sich dabei als ausgesprochen er tragreich erwiesen. Wahrscheinlich ließen sich zu den einzelnen Personen noch weitere biographische Quellen erschließen, um den jeweiligen Hintergrund noch etwas genauer zu erhellen. Die meisterliche Studie liefert über ihr konkretes Thema hinaus auch einen faszinierenden Einblick in die Bedingungen, unter denen eine Qualitätszeitung wie die AZ damals wirkte, wie auch über die aus verschiedenen Gründen doch stets eingeschränkten Möglichkeiten, in der Berichterstattung Ereignisse und Entwicklungen im Ausland adäquat widerzuspiegeln. Deutlich wird dem Leser dabei, dass die mediale Berichterstattung mit Stärken, aber auch Schwächen behaftet war, die nicht nur eine Folge der politischen Rahmenbedingungen, sondern auch der Auswahl der Korrespondenten und
Publizisten war. V. a. am zweiten Punkt hat sich bis heute, da die Zensur zumindest hierzulande keine Rolle mehr spielt, wenig geändert. Schwarz Studie ist jedenfalls nicht nur inhaltlich, 376 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen sondern ebenso in der sprachlichen Gestaltung vorbildlich und macht ihre Lektüre auch aus diesem Grund zu einem Vergnügen. Sie kann in vielerlei Hinsicht als Vorbild dienen für weitere Untersuchungen dieser Art. Dossenheim Südost-Forschungen 76 (2017) Ekkehard Kraft 377
1848-1989 1848-1989 Edin Hajdarpasic, Whose Bosnia. Nationalism and Political Imagination in the Bal kans, 1840-1914. Ithaca/NY, London: Cornell University Press 2015. XII, 271 S., 11 Abb., 3 Kt., ISBN 978-0-8014-5371-7, US $ 45,The book under review is a considerably revised and chronologically extended version of Edin Hajdarpasic’ outstanding dissertation accepted at the University of Michigan in 2008.1 The author focuses on nationalistic and patriotic discourses in, around and about Bosnia and its “peoples” (“an impossible subject”, 51) from 1840 to 1914. Many schol ars consider the 19th century the formative period of nation-states and nations respective ly that went hand in hand with the demise of empires. To “liberate” its “own” people from “alien rule”, to get rid of early-modern, imperial “yokes”, and to vault the nationally “re birthed” societies into modern times were the stated aims of all national activists in the Balkans. This kind of (his)stories usually end either with the success or failure in creating a nation and a corresponding nation-state. Hajdarpasic challenges such traditional notions of nation-formation as a “completisi paradigm” (4), advocating instead to perceive nation alism/ patriotism (he justifiably uses the two terms interchangeably) as open-ended, dy namic and adaptable. He thinks of nationalism as a political project impossible to bring to a close, thus making it a potentially hazardous idea. Hajdarpasic applies in his work the “grounded theory” as put forward by Claudio Lomnitz2, hence taking provincial findings and “parochial”
knowledge as an empirical ground for the theoretical analysis of national ist politics and nationalism (5). This is indeed a strong analytical tool, although Hajdarpa sic does not consequently make use of it. His theoretical and methodological settings are further based on the groundbreaking and influential works of Eugen Weber, Benedict An derson, Rogers Brubaker, Pieter Judson, Jeremy King, Tara Zahra, Theodora Dragostinova, and others. Hajdarpasic resists the temptation to deliver “totalizing perspectives” and “uni versalizing theories” (with these models usually being very Eurocentric), but rather intends to scrutinize nationalism and nationalistic behaviour “from below” (endnote 18, 209). By turning to “the activists and their activism”3 as the subjects of studies of nationalism and nationalisation, Hajdarpasic successfully demonstrates the ambiguity and arbitrariness of both nationalism and nation making. Hajdarpasic draws upon a broad range and different types of sources (e.g. poetry, litera ture, private correspondence, travel guides, artworks, political tracts, and more) from many archives and libraries in Bosnia, Serbia, Croatia, Austria, and Turkey. He raises the voices of numerous nationalistic activists such as intellectual patriots, patriotic scholars, roman tic writers, venturous travellers, ambitious politicians, loyal officials, national agents, bois terous revolutionaries, juvenile “rabble-rousers” (90) and ignorant storytellers - some of them being a bit of all at the same time. Hajdarpasic’ elitist and “ethnically heterogeneous” choir of vocalists
is composed of Dositej Obradović, Vuk Stefanovič Karadžič, Ivan Fran jo Jukič, Antun Radič, Ilija Garašanin, Velimir Gaj, Mate Topalovič, Ognjeslav Utješeno378 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen vić (Ostrožinski), Toma (Bartol) Kovačevič, Matija Mažuranić, Ivan Mažuranić, and Jovan Cvijić - to name but the most prominent ones. His study is “thus a contribution to under standing the cultural and intellectual production of nationalism.” (5) Indeed: All these ac tivists produced nationalism - whether on purpose or out of ignorance. First-time author Hajdarpasic shows how these men eagerly contributed to lay imperial projects to rest and give birth to “modern” nations and nation states. Taking a closer look at the “proliferation and compulsion of patriotic desires” (1) in Ottoman and Habsburg Bosnia turned out to be a wise choice for several reasons. Bos nia as a “classical” contested borderland in the period under scrutiny has still much to of fer: The province stands for an imperial order that was tackled by different national aspira tions (“Serbian”, “Croatian”, “Yugoslav”, “Bosnian”, “Bosniac”). However, national activists not only fought against their imperial enemies but also against claims staking from their “(br)others” ֊ “a character signifying at the same time the potential of being both ‘broth er’ and Other”’ (16). Hajdarpasic makes extensive use of this new interpretative device in order to elaborate “Serbian-Croatian attempts to nationalize Bosnian Muslims” (17) but also to illustrate how “national indifference” (Tara Zahra)4 and “non-national” loyalties of many Bosnian Serbs/Croats/Bosniacs-in-the-making drove national activists to despair. Fur thermore, Hajdarpasic applies this innovative analytical strategy in order to pose the cru
cial question when it comes to nation-making: “How and when does one come to know who are, who are not, one’s own people’? Especially for Serbian nationalists (the “self-proclaimed enemies of the Turks”, 115), Bosnian Muslims were indeed a subject of constant change and dispute: sometimes being “brothers”, sometimes being “others”. Hajdarpa sic provides the reader with ample evidence that not even the most ardent national “free dom fighters” found a definite answer to this question (and - of course - they never will). It might have been precisely for that reason why Hajdarpasic chose to begin with “the people” in chapter 1 (“The Land of the People”). Although “the people” literally person ifies the “body” of any nation, it remains an “dusivé subject” (51), a volatile perception, an emotional idea and thus an “imagined community” (Benedict Anderson). One of the first “Serbians” to discover “its people” was the linguistic reformer Vuk Stefanovič Karadžič (1787-1864). Although not questioning Vuk’s philologist merits, Hajdarpasic still reveals how emotions rather than academic thinking impinged on this “man from the people” (20) and “patriotic scholar”. His romantic aspiration to “collect our nationality” clearly belongs to the field of “ethnographic populism” (45). At the end of the 19th century, even scholars form the Balkans heavily criticised the works of Vuk and his first followers: Jovan Cvijić the founder of modern geography in Serbia and president of the Serbian Royal Academy of Science - “found their work to be lacking even the slightest bit of scientific
perspective.’” (46) The afore-mentioned elusiveness of “the people” (and its land) is best symbolized by the fact that Vuk had actually never visited Bosnia and Herzegovina (“the core lands of the Serbian nation”, as he called it) that he kept praising so much in his writings! In chapter 2 (“The Land of the Suffering”) Hajdarpasic turns to one of the most pivotal elements of nationalism, i.e. the (alleged) suffering of one’s “own people”. This national sufSüdost-Forschungen 76 (2017) 379
1848-1989 fering would only end with the “liberation” of land and people. According to Hajdarpasic, “poetry had a privileged place in the romantic conception of the nation.” (68). The writers of “sad poetry” and “poetic-political fantasy” intended to reinforce existing stereotypes, to create negative images of the “Others”, and even to stimulate “the (Serbian-Croatian) ha tred of the Turk”, as the Encyclopaedia Britannica characterized the famous poem “Smrt Smail-age Čengića” (The Death of Smail-aga Cengić, 1846) written by Ivan Mažuranić (1814-1890) in the 1890s (80). Many national activists dwelled on the “aggrieved nation al subject” (84) during the Habsburg period, depicting the Austrian “alien rule” as even more despicable than the Ottoman times (p. 81-83). The combination of wallowing in national self-pity, playing around with history and spreading religious and national hatred was (and still is) a highly explosive mixture for provoking violent reactions among the ones (allegedly) “suffering”. Chapter 3 (“Nationalization and Its Discontents”) is devoted to the somewhat paradox problem many national activists experienced at some point during the 19th century: On the one hand, national awakeners credited peasants and shepherds of being the most “honest”, the “real”, and the “true” representatives of the nation-in-the-making; on the other hand, precisely these idealized peasants and shepherds often proved to be reluctant for quite some time to live and act “nationally” as envisaged by their national teachers. Or as Hajdarpasic aptly puts it: “The work of nationalizing
people was always accompanied by foundational disappointments and failures.” (90) To nationalize people as a historical process was also a question of money and organization skills: According to Hajdarpasic, “Serbia’s nationaliz ing mission” (92) in Bosnia (and elsewhere) was mainly concerned with three issues: secre cy, insurrection, and expansion to potential co-nationals “shaped the formative visions of state-building in the modern Balkans” (93). High-ranking officials prepared secret “liber ation” plans, paid national agents taught patriotism, and young revolutionaries (heroes or terrorists?) stirred up rebellions and unrests in Bosnia from outside of the province. Hence, Hajdarpasic concludes with much apropos in chapter 4 (“Year X, or 1914?), that “youth holds a special status in histories of nationalism” (160). As a matter of fact, the notion of “juvenileness” had a double meaning: On the one hand, it referred to the youth of the na tion as a quasi-biological “thing”, and on the other, it meant the younger people who were willing to sacrifice their lives for the nation. Their “new visions of violence” (147) directed against imperial representatives in and of Habsburg Bosnia eventually triggered the out break of the World War I. In chapter 5 (“Another Problem”) the author aptly demonstrates how “Ottoman and Habsburg officials not only tried to repress the emerging forces of nationalism but also be gan to adopt many of the basic forms, idioms, and strategies of nationalist movements.” (163) Hajdarpasic suggests not posing “some essential difference between
national’ and ‘imperial’ politics” but instead analysing their “deeply intertwined relationships” (ibid.). Along these lines, Hajdarpasic characterises both empires as nationalising “latecomers” us ing journals and newspapers as imperial projects to “nationalize” the population in Bosnia (“The Empire Writes Back”, 186). 380 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen In the epilogue (“Another Bosnia) Hajdarpasic compares nationalism to the once very popular computer game “Tetris”: “No matter how adept a player is at unifying rows, the game eventually and always ends the same way: the mounting obstacles overwhelm and topple the entire construction, until one starts over again.” (206). This is a very original comparison, although Tetris was invented in the “East”, modem nationalism in the “West”. Hajdarpasic’s engagingly written book is a welcomed contribution to the studies of na tionalism in general and late imperial Bosnia in particular. He successfully demonstrates how the writings of many national activists are studded with inconsistencies, contradic tions, half-knowledge, insults, irrational eruptions, expressions of hatred, calls for violent actions, and absurdities. However, his work is not free of flaws: First, taking the grounded theory as theoretical basis seems to somewhat hypocritical to me as Hajdarpasic does not actually apply it. He let speak just a few elitist nationalists and ignores the voices from the “ordinary” people, from the people “on the ground”. How did these people respond (or not) to the patriotic claims of their “teachers” in the period under scrutiny? What about the “batde for children” (Tara Zahra)? It would have been most intriguing to see how the (successful?) transforma tion from “traditional” (non-imagined) loyalties to “modern” (imagined) ones affected the Bosnian society. Second, some clearer verdicts on the altogether problematic “achievements” of nationalistic activists cited in his
book would not have gone amiss. Last but not least, the publishing house did not do the best job: Endnotes (especially when referring to pag es) instead of footnotes make it difficult to use the book for academic purposes. However, this drawback is far outweighed by the fact that there is neither a bibliography nor a list of references. It is difficult to understand why the publisher chose to omit such useful tools. Despite these shortages, Hajdarpasic’s book makes a good reading. If nationalism (or bet ter: groupism) indeed has no end - and I would agree with that - then we might call it what it actually is: a dead end. Having illustrated this is the most deserving credit of his work. Wien Michael Portmann 1 Edin Hajdarpasic, Whose Bosnia? National Movements, Imperial Reforms, and the Political Re-ordering of the Late Ottoman Balkans, 1840-1875 (unpublished Dissertation, University of Mi chigan, USA, 2008). See also: idem, Out of the Ruins of the Ottoman Empire. Reflections on the Ottoman Legacy in South-Eastern Europe, Middk Eastern Studies 44 (2008), no. 5, 715-734; idem, “But my memory betrays me”. National Master-Narratives and the Ambiguities of History in Bosnia-Herzegovina, in: Wolfgang Petritsch/Vedrán Dzihic (eds), Conflict and Memory. Bridging Past and Future in [South East] Europe. Baden-Baden 2010, 201-214. 2 Claudio Lomnitz, Deep Mexico, Silent Mexico. An Anthropology of Nationalism. Minneapolis/MN 2011. 3 Hajdarpasic, Whose Bosnia? (unpublished Dissertation), 138. 4 Tara Zahra, Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, Sla
vic Review 69 (2010), no. 1, 93-119. Südost-Forschungen 76 (2017) 381
1848-1989 Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Un garn (1850-1918). Hgg. Tim Buchen/Malte Rolf. München: De Gruyter Olden bourg 2015 (Elitenwandel in der Moderne, 17). VII, 411 S., 25 Abb., ISBN 978-311-041612-1, €69,95 Imperiale Biographien stellen ein Forschungsfeld dar, das in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum eine Blüte erlebte. Mehrere Forschungsprojekte sowie Tagungen wurden organisiert, die zwei Bereiche der Geschichtswissenschaft wiederbeleben und ver binden, nämlich die Imperienforschung und die Biographik. Die neue Biographik unter sucht das Individuum in Wechselwirkung mit seiner Umwelt, von der es geprägt und be dingt wird. Die Imperien stellten somit einen Rahmen, in dem sich die untersuchten Individuen bewegten und in welchem ihre Lebensläufe sich erst ermöglichten. So werden Imperien aus einem neuen Blickwinkel, von einzelnen Akteuren ausgehend, und in ver gleichender Weise durch biographische Forschung beleuchtet. Der Sammelband „Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850-1918)“ baut auf dem von Tim Buchen, Historiker und Dozent an der Universität Edinburgh und Malte Rolf, Professor für Geschichte Mittel- und Ost europas an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, durchgeführten Forschungsprojekt „Imperiale Biographien“ sowie auf in Berlin und Bamberg 2012 organisierten Tagungen auf. Erschienen ist der Band in der auf die Herausgabe von wissenschaftlichen Monographien und Tagungsbänden spezialisierten Reihe „Elitenwandel in der Moderne“, die sich sowohl dem
Adel als auch den neuen Elitengruppen und ihrer Verwobenheit im 19. und 20. Jh. gesamteuropäisch widmet. 17 Beiträge des vorliegenden Sammelbandes untersuchen - teils in deutscher, teils in englischer Sprache - imperiale Biographien von Eliten in Russland und ÖsterreichUngarn und „ihre Karrieremuster, Handlungsfelder und Selbstentwürfe in der Phase be schleunigten Wandels zwischen 1850 und 1917/18“ (5). Die einzelnen Fallstudien widmen sich imperialen Akteuren mit gezielten Fragen in Bezug auf ihre Mobilitätsmuster und deren Bedeutung für die Wandelbarkeit der imperialen Strukturen. Sie gehen der Frage nach, ob diese als Mitglieder verschiedener Eliten die Möglichkeit hatten, Ereignisse in den Imperien zu beeinflussen. Des Weiteren werden multiple Identitäten und Loyalitäten sowie die Imperiumsvorstellungen der einzelnen Akteure analysiert. Die Herausgeber gehen davon aus, dass die in den ausgewählten Fallbeispielen behandelten Personen Teil einer Elite waren, weil sie „in ihrer Gesellschaft relevante, gestaltende Funktionen übernehmen und deren Status und selbst definierte Rolle von der Gesellschaft akzeptiert“ (9) wurde. Ihre Biographien kann man als imperial bezeichnen, weil sie durch Mehrsprachigkeit, Mobili tät und mehrere Karrierestationen gekennzeichnet waren und weil ihre Lebensläufe durch imperiale Strukturen beeinflusst wurden. Dadurch unterscheiden sie sich grundlegend von „lokal gebundene[n] und nicht transimperial [en] mobile[n] Bauern oder Bewohnerjnj von Kleinstädten, deren Berührungsfläche mit den imperialen Phänomenen minimal war“ (312). Der Sammelband
gliedert sich in vier Teile, die verschiedenen Elitengruppen entsprechen 382 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen sollen, obwohl bei mehreren Fallbeispielen durch ihre vielschichtigen Karrieren die Zu ordnung in mehreren Gruppen möglich wäre. Der Aufbau ist wie folgt: „Staatsbeamte“ (39-131), „Militärische und politische Elite“ (135-219), „Experten und Unternehmer“ (223-307) und schließlich „Intellektuelle und Akademiker“ (311-392). Im 1. Teil des Sammelbandes unter dem Titel „Staatsbeamte“ zeigen die analysierten imperialen Biographien von Michail N. Murav’ëv, Konstantin von Kaufman, Alfred Freiherr von Fries-Skene sowie Conrad Prinz zu Hohenlohe, dass sich die Staatsbeamten in Russ land und in Österreich-Ungarn stark fur das Imperium, mit dem sie sich identifizierten, einsetzten. Die Stärkung des Reichs war für sie ein Ziel, das sie als Repräsentanten der Regierung in verschiedenen Randzonen des Imperiums verfolgten. Dennoch heißt das auf keinen Fall, dass sie keine eigenen Vorstellungen von den Reichverfassungen hatten. Sie versuchten auch eigene Ideen durchzusetzen, wie Jörg Ganzenmüller am Beispiel von Michail N. Murav’ëv und seiner Politik der Russifizierung und Zentralisierung des Russischen Reichs zeigt. Die Staatsbeamten suchten eine Aussöhnung zwischen ihren eigenen Ideen und Reichsvorstellungen auf der einen, und dem Herrscherhaus, dem sie sich verpflichtet fühlten, auf der anderen Seite auszuhandeln. Dies wird insbesondere in dem Beitrag von Ulrich Hofmeister anhand der Biographie von Konstantin von Kaufman ,,de[m] Halbzaren von Turkestan“ (65-89) - veranschaulicht. Die Analyse ausgewählter Fallbeispiele zeigt auch, dass die Identifikation mit der eigenen
Nation sich mit imperialer Loyalität kombinieren ließ. Wie Mamon Wullschleger in ihrem Beitrag über die öster reichischen Statthalter in Triest festhielt: „Es bestand nämlich kein permanenter Konflikt oder inhärenter Widerspruch zwischen Nationalbewusstsein und Reichsbewusstsein - so lange national bewusste Menschen nicht die politische Zukunft ihrer Nation außerhalb des Rahmens der Habsburgermonarchie sahen“ (96). Im 2. Teil des Sammelbandes werden Fallbeispiele der imperialen Biographien militärischer und politischer Eliten untersucht und dargestellt. In vielen der Beiträge wird besonders deutlich, dass imperiale Akteure durch multiple Identitäten gekennzeichnet waren. So deuten die Biographien des finnischen Offiziers in der russischen Armee Gustav Mannerheim, wie auch des rumänischen Offiziers in Österreich-Ungarn Trajan Doda da rauf hin, dass nationale und imperiale Identitäten sich nicht gegenseitig ausschließen sondern vielmehr ergänzen. Bradley W. Woodworth betont in seinem Beitrag: „Man nerheim had two homelands, one nesting inside the other, and for him this arrangement [.] was more attractive than a drawing of borders and boundaries between the two, which could only mean a narrowing of his life“ (154). Irina Marin zeigt in ihrem Beitrag am Beispiel von Trajan Doda und seinem politischen Engagement im ungarischen Parlament, dass sich eine militärische und eine politische Karriere vereinbaren ließen. Diese zwei Fall beispiele verdeutlichen, dass sich die militärische Elite stark für den Erhalt der Imperien, die für ihre Karriere einen Rahmen boten, einsetzte;
zugleich zielten sie auf ihre Reform fähigkeit. Dass imperiale Erfahrungen auch in der post-imperialen Zeit die Lebensläufe ihrer Akteure nachhaltig beeinflusst haben, verdeutlicht insbesondere die Biographie von Aleksander Lednicki, analysiert im Beitrag von Martin Müller-Butz. Südost-Forschungen 76 (2017) 383
1848-1989 Imperialer Raum als Ermöglichungsraum wird insbesondere im 3. Teil des Sammel bandes, in dem die Beiträge unter dem Titel „Experten und Unternehmer“ zusammen gefasst sind, deutlich. So zeigt Ruth Leiserowitz in ihrem Beitrag über polnische Militär ärzte im zaristischen Imperium, dass berufliche Aufenthalte in den verschiedenen Teilen des russischen Imperiums die Protagonisten entscheidend prägten. In diesem Teil des Sammelbandes kommt die Bedeutung der imperialen Netzwerke besonderes zum Aus druck, denn „der Erfolg von Expertengruppen hing stark davon ab, inwieweit es ihnen gelang sich im imperialen Raum zu vernetzen“ (26), wie es schon in der Einleitung an gemerkt war. Dies wird im Beitrag von Klemen Kaps deutlich, der zwei Biographien von Industriellen in Galizien untersucht. Verflechtungen von Wirtschaft und Politik, sowie Mobilität und Transfers innerhalb Österreich-Ungarns wurden in diesem Beitrag eben falls analysiert. Auch bei dieser Elitengruppe wurden Mischformen und komplexe Über lappungen zwischen imperialen und nationalen Identitäten festgestellt. Zudem zeigen die Biographien von Stanislaw Szczepanowski, Edmund Zieleniewski und Yorgo Zarifi, dass sich die Unternehmer auch politisch engagierten und sich für die Reichsverfassungen und Reformansätze interessierten. Für „Intellektuelle und Akademiker“ (311-392), die im letzten Teil des Sammelbandes analysierte Elitengruppe, waren nationale Selbstidentifikationen weniger attraktiv als ihre imperiale Heimat. Denn diese Staatsgefüge boten ihnen durch ihre multiethnischen Kompositionen und die
multilinguale Landschaft vielschichtige Möglichkeiten und Er fahrungshorizonte an. Daher zeigen auch diese Fallbeispiele in ihren Reformentwürfen vielmehr Bestrebungen nach Umgestaltung des imperialen Raums als nach dessen Zu sammenbruch und eine Grenzziehung entlang des Nationalen. Jan Surman gelingt es in seinem Beitrag, die Biographien von Józef Dietl und Tomáš Garrigue Masaryk, die in der Geschichtswissenschaft als national gelten, als imperiale Biographien zu betrachten. Durch diesen Perspektivenwechsel verdeutlicht der Autor, dass sie eher als „go-betweeners“ zu bezeichnen wären denn als eindeutig nationale Akteure. Dass diese Position „zwischen Imperium und Nation“ im imperialen Rahmen nicht so selten war, zeigt auch Theodore R. Weeks in seinem Beitrag über Jan Baudouin de Courtenay, der sowohl als Pole, als auch als imperiales Subjekt im Russischen Reich zu betrachten ist; so setzte de Courtenay sich als Pole stark gegen die Unterdrückung der Minderheiten sowohl im Russischen Imperium als auch im postimperialen Polen ein. Die Untersuchung der imperialen Biographien als Schnittstelle zwischen Imperium und Individuum soll neue Blicke auf kontinentale Imperien und ihre Wandelbarkeit ermög lichen. Die komplexen Lebensläufe, die in diesem Sammelband dargestellt sind, werfen ein neues Licht auf die imperialen Realitäten, die für die meiste Akteure im untersuchten Zeitraum eine Selbstverständlichkeit waren. Die Analyse der Identitäten und Loyalitäten in den untersuchten Fallbeispielen aus einer imperialen Perspektive zeigt, dass bei allen Elitengruppen multiple
Identitäten und ihre Wandelbarkeit festzustellen sind. Nationale Zuschreibungen der einzelnen Akteure sind daher eher als anachronistisch zu bezeichnen, was man erst beobachten kann, wenn man diese im imperialen Kontext untersucht. 384 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes zeigen die Imperien aus einer neuen Perspektive auf, nämlich von den einzelnen Akteuren heraus. Somit bieten die dargestellten imperialen Biographien einen wertvollen Blick in die Lebenswelten, Karrieremuster, Handlungs- und Mobilitätsmöglichkeiten sowie in die Selbstpositionierungen innerhalb des Imperiums von einzelnen Elitenmitgliedern. Durch die interessante Erzählweise und die Darstellungen der spannenden Lebensläufe ist es durchaus zu vermuten, dass das Buch sowohl vom Fach-, als auch vom breiteren Publikum wahrgenommen werden wird. München Marija Dokié The Balkan Wars from Contemporary Perception to Historic Memory. Hgg. Katrin ВоЕСКн/Sabine Rutar. Basingstoke, London: Paigrave Macmillan 2017. 350 S., 2 Abb., ISBN 978-3-319-44642-4, £ 66,99 The centenary of the Balkan Wars understandably caused much smaller ripples in the European public than the 100th anniversary of the First World War. This is also the case for the public of the Balkan states, although the editors claim that their impact had been even greater than that of the Great War. This claim was repeated three times in the introduction to the volume (2, 6, and 9), therefore this author cannot refrain from remarking that the claim needs to be qualified and its validity reduced only to some countries, as it would be plausible to claim this for some (e.g. Macedonia), but very hard for others (e.g. Serbia). It would be more to the point to say that for some countries they created a whole histor ic national narrative regarding the Balkan Wars and the First
World War. This is especially the case for Serbia and Bulgaria, since in the first they are still regarded as part of the “wars for liberation and unification”, whereas in the latter First Balkan War was the war of liber ation, the Second war that reduced the results of the First. Moreover, the First World War was the conflict in which Bulgaria tried to undo the results of the Second Balkan War. In deed, it could be claimed that in the case of Bulgaria, even more than any other “revision ist” power, World War II was an attempt at revising the results of the World War I, and in that way of the Second Balkan War as well. The Balkan Wars soon came to be perceived by the contemporaries as causes for the First World War (as is mentioned several times in this volume), and by the generations at the end of 20th century, as ushering in new brutal ways of waging war (aimed particularly at civilian populations with the view of removing eth nic and/or confessional undesirables from certain territories). Both phenomena are dealt with in the book that is actually devoted primarily to perceptions (contemporary and ret rospective) and representations, and much less to the wars themselves. The content is sketched by the editors in the 1st chapter “The Balkan Wars from Per ception to Remembrance” (1-9). The very choice of the term “chapter” suggests rather a Südost-Forschungen 76 (2017) 385
1848-1989 monograph, than a collection of articles. And indeed, the volume is well structured and divided into three thematic parts, comprising four to five texts each, while the introduc tory chapter stands alone. The authors range from venerable veterans of historiography on South-East Europe, to young scholars and Ph.D. candidates. The editors should be com mended for knowing their crew, since all papers (chapters) are on a more or less equal lev el. This proves the editors knew their work as well. Part 1, “War in the Balkans. Towards the End of Empire”, is somewhat more factual than the others: it too deals with perceptions, stereotypes, images, “othering” etc., but it also refers more to the realities of the Balkan Wars and period preceding and following them. This part opens with the chapter by the experienced Fikret Adanir “Ethnonationalism, Irredentism and Empire” (13-55), which deals with ideological concepts and propaganda slogans (in plain words) used in the process of ousting Ottoman power from the Balkans since the early 19th century. In dealing with them the author does not limit his examina tion to local actors, but examines rather the views that various circles in the West (Philhellenes, Evangelicals) held regarding the Ottoman Empire. To be sure, the nationalism of Balkan peoples and their uprisings and wars against the Turks are also unavoidable in gredients. Adanir depicts the process of gradual ouster of the Ottomans from the Balkans since 1876, as well as the Ottoman government’s attempts to stop or reverse it. He is espe cially interested in the
parallel process of gradual “nationalisation” of the Ottoman elites: faced with growing nationalism of the peoples within the Empire and its impending dis memberment, they too tended to grow increasingly nationalistic, especially in the case of the Young Turks. The Balkan Wars and concomitant forcible population transfers eventu ally helped transform Turkish elites from imperial to ethnonadonal. At all times, even if he does not agree with every statement and claim, the reader feels the touch of the old master of Balkan studies. The text is supplemented by an 11-page long bibliography. The next chapter “Violence, Forced Migration, and Population Policies During and Af ter the Balkan Wars (1912-1914)” by Edvin Pezo (57-80), examines violence and migra tions caused against the backdrop of perceptions and images of undesirable “others”. For their part, these perceptions and images are construed by the author as part of population policy. While in retrospect they could be interpreted as having played that role, it would mean overstretching the facts if one would ascribe changes in the ethnic make-up only to animosity of the elites and peoples of the Balkan states toward the Ottoman Empire and Balkan Muslims. The very military operations, insurgency and measures to clamp down, unplanned (although often tolerated) excesses of irregulars and sometimes of regular sol diers, vengefulness on part of local Christian inhabitants, fear and religious convictions of the local Muslims and other factors certain!y contributed to krge population shifts that occurred during and right
after the Balkan Wars. The author justly sees violence as a com mon denominator behind all these occurrences. Yet, he also underlines the role of violence in reshaping society beyond pure ethnic and demographic changes and deplores that the “soft violence” after the wars was not better explored. In order to make the wartime vi olence understandable, Pezo deals briefly with anti-Ottoman plans and perceptions (not 386 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen devoid of doses of Orientalism of the Balkan variety) of the Balkan national elites. After a brief attempt at establishing the number of migrants, the author deals with migrations and population policies as a consequence of the Balkan Wars. This section is focused main ly on the Turkish-Greek problem, whereas other population transfers (as they came to be euphemistically called) were left out. Even though other population movements were not so accurately recorded, it is a pity they were omitted from this part of the chapter. The fact that the Turkish-Greek “exchange of populations” continued (under somewhat different circumstances) and was “legalised” after the First World War was not mentioned either, al though it would further highlight the importance of population transfers during the Bal kan Wars. Like Adanır, Pezo also observes the rise in Ottoman Muslim nationalism during the last years of the Empire’s existence - aimed primarily against the Greeks and Bulgar ians, but also against Albanian Muslim refugees in Anatolia. By resorting to ethnic na tionalism, Turkey joined other Balkan states in attempting to homogenise her population. The 3rd chapter in the first part, “Gjergj Fishta, the Albanian Homer’, and Edith Dur ham, the Albanian Mountain Queen. Observers ofAlbania’s Road to Statehood” by Daut Dauti (81-104) deals with two personages important above all for the Albanians in the pe riod of the Balkan Wars. The first was an Albanian Franciscan friar and patriotic poet, and the latter an English journalist and humanitarian worker. Both of them
depicted the strug gle of the Albanians for their statehood and supported it with their pens. Dauti shows how the perceptions of their activities changed over time and in keeping with political changes in Albania and Kosovo. It is interesting to note that Fishta was not a persona non grata for the Yugoslav communist regime after 1945, as he was in Albania, where he was “rediscov ered” only after the fall of communism. In his work Dauti quotes Albanian history text books several times so as to show their perception of certain events and phenomena. He does it without bias, but it would have been interesting if he had compared them with for eign historiographies and schoolbooks, especially of the neighbouring peoples. Katrin Boeckh’s article “The Rebirth of Pan-Slavism in the Russian Empire 19121913” ( 105-137) is a typical research work with a novel conclusion. The author argues that the Balkan Wars, especially the first one, resuscitated Russian Pan-Slavism that eventual ly served the purpose of preparing the Russian public for the First World War. The article initially gives a brief overview of Russian Pan-Slavism in the 19th century, and then turns to the activities of the Pan-Slavists during the Balkan Wars. The main source the author used for following social events and propaganda activities of the Pan-Slavists, is the cover age they received in the journal “Novoie vremia”. Public reactions, as well as reactions of the regime to such agitation were also dealt with. The final part of the chapter is devoted to Nikolaus von Hartwig, the Russian ambassador to Belgrade
1909-1914, who in spite of his German origin was one of the most prominent practicing Pan-Slavists. His impor tance was increased due to the fact that he was posted in one of the key capitals for Russian Balkan policy. As ambassador he was able to twist the orders of his minister in accordance with his own convictions and ultimately influence the Serbian government. Quoting the reference in Czar Nicholas’ WWI manifesto that linked Pan-Slavism with Russia’s interSiidost-Forschungen 76 (2017) 387
1848-1989 ests, Boeckh sees in Pan-Slavism “the last political idea to be disseminated before the col lapse of the empire” (135). With considerable plausibility she pin-points the date of birth of the last wave of Pan-Slavism at the time of the Balkan Wars. The outbreak of the Balkan Wars caused considerable hubbub in European capitals and in the European press. For that reason the 2nd part of the volume is entitled “European Eyes on the Balkans. Reassuring the Self”. It opens with Nicolas Pitsos’ “Marianne Staring at the Balkans on Fire. French Views and Perceptions of the 1912-13 Conflicts” (141-160). The author minutely listed and classified the major French papers of the time (together with their print run) and described the attitude of certain organs toward the conflict(s). He established that they were very much dependent on the ideological point of view of the social groups they represented. However, Pitsos also aptly distinguishes varying opinions within the one and the same ideological camp. Similar to this is Florian Keisinger’s ar ticle “The Irish Question and the Balkan Crisis” (161-178) that examines the attitude of the Irish press. Unlike the French one, it was divided along sectarian lines with the Roman Catholics (separatists) supporting the cause of the Balkan allies and the Protestants (union ists) sympathising mostly with Turkey. The interests of the Roman Catholics was far from academic: in the struggle of small Balkan peoples they saw an example they should emu late in their own struggle for independence. For these reasons, the Second Balkan War at
tracted much less attention. In his contribution “Political Narratives in Croatia in the Face of War in the Balkans” (179-196), Stjepan Matkovič examines the impact of the Balkan Wars on adherents of various political streams in Croatia. Like historians dealing with the topic before, he not ed the surge in pro-Yugoslav feelings in Croatia, especially among the youth. Also affected were many members of the Party of Rights. However, in politically divided Croatian soci ety the sympathies for Balkan allies were not universal. In chapter 9 (“Deviationist Perceptions of the Balkan Wars. Leon Trotsky and Otto Neurath”, 197-215), Günther Sandner depicts the Balkan correspondence activities of these two prominent nonconformist intellectuals. Like all foreign correspondents, both of them were not able to come very close to the frontline, but gathered information in Bal kan capitals. The author shows how they processed them in accordance with their ideolog ical views, criticising their own governments in the process. The tide of the 3rd part of the volume “Memories ofVictory and Defeat. Constructing the Nation”, is not well chosen since the articles deliver less than the title promises. They deal with the commemoration of the Balkan Wars in historiography, schoolbooks and society. One of them deals solely with Bulgaria, another with Serbia, the third one with both, the fourth with Macedonia, whereas other Balkan states unfortunately remained unmentioned. In their article “Bulgarian Historiography on the Balkan Wars 1912-13” (219-239), Svetozar Eldarov and Biser Petrov offered a
minute study of the subject. They adduced a huge bibliography that they divided into four ideological periods: 1912-1944,1944-late 1970s, the 1980s and afterward. The first was the most fruitfixl, albeit one-sided in the choice of topics and due to its Bulgarocentrism, while the second was marked by Marx388 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen ist dogmatism. During most of this period (except 1952-1963), the Balkan Wars were not a desirable topic for the political elite. During the third period, socialism was mixed with nationalism, and was subsequently followed by the post-socialist phase of transition that still lasts to this very day, but produced no major headway in the study of the Balkan Wars (with the exception of publication of some contemporaries’ memoires). When it comes to the wealth of information, this chapter is certainly the best in the whole volume. Stefan Rohdewald s chapter “Religious Wars? Southern Slavs’ Orthodox Memory of the Balkan and World Wars” (249-270), is quite another pair of shoes. As suggested by its title, it goes beyond the Balkan Wars themselves - in both directions. It starts with com mon Serbian and Bulgarian saints and shows how saints were “nationalised”, and how the nation was “sacralised” during the 19th century. It seems that the author puts too much em phasis on the militarisation and veneration of saints, forgetting the military parables that are as old as Christianity itself. This does not make his analysis of “nationalisation” of for merly common Slavic saints (Cyril and Methodius) or sacralisation of lieux de mémoire (like in Kosovo) less convincing. He carries his analysis of the (mis)use of the veneration of saints for the policy of remembrance and for practical politics into the inter-war period and the Second World War. Unlike half-baked Balkan-experts, Rohdewald is very much aware that the Serbs and the Bulgarians were nothing special in their (ab)
use of the sacred for nationalist goals. Briefly but sufficiently, he shows how such a practice is imbedded in the European nationalist tradition. Dubravka Stojanović’s chapter “The Balkan Wars in Serbian History Textbooks (19202013)” (275-289) examines how the Balkan Wars were depicted in Serbian schoolbooks. Her article focuses especially on several key topics connected with the Balkan Wars. She shows that during the 1920s the pupils were presented with a romantic picture of the causes of the wars, which became more realistic during the next decade. After the Second World War, the causes were depicted as both liberating and imperialist. Another point she dis cusses is the Serbian invasion of Northern Albania that was explained vaguely during the inter-war period, and more realistically after WW II, only to be nationalistically garbled after 2000. However, Stojanovič attests that the schoolbooks currently in use are objective on this subject. When writing about the Second Balkan War Serbian textbooks of the in ter-war period always depicted the Bulgarians as the bad guys. The books from the socialist period deplore the event as a fratricidal conflict. After the fall of Slobodan Miloševič, the tenor became more nationalistic, only to become more unbiased during the last couple of years. The author analyses the ideologies behind such presentations of the past, dictated by political needs of a given regime at a given moment. Her conclusions sound very plausi ble, but what makes them seem less so is the bibliography of only 15 textbooks at the end of the article. For so far
reaching conclusions, one would expect a much longer list. If the works were meant to stand as pars pro toto, it was never mentioned. The penultimate chapter of the volume is Petar Todorov’s article “From Bucharest 1913 to Bucharest 2008. The Image of the Balkan Wars in Macedonian Historiography and Public Discourse” (291-317). The author claims that the Balkan Wars are regarded Südost-Forschungen 76 (2017) 389
1848-1989 by mainstream Macedonian historiography as the most tragic event in Macedonian histo ry. The Macedonian people are seen as the wars’ main victim, their neighbours and great powers being their persecutors. Although the wars have been constantly used politically, they have not been thoroughly researched. In the opinion of the author one of the reasons is the diversified role the Macedonian people had played during the conflict. This makes it impossible to give a unified interpretation needed for nation building - that has always been the chief goal of mainstream Macedonian historiography. Todorov shows how the main tropes connected with the Balkan Wars have been dealt with in not very numerous works on the subject over time. The latest trend is that the views have become even more nationalistic than during the socialist period, and that they include the Albanians in the narrative. The last part of the article connects the perception of the Balkan Wars among the Macedonian public with current internal and especially external political problems fac ing the young republic at present. The book closes with Eugene Michails chapter entitled “The Balkan Wars in West ern Historiography, 1912-2012”. The basic flaw of the paper is that it includes the British, American and German historiographies, leaving out historiographies of important countries such as France or the Balkan countries’ neighbour, Italy. However, in the given framework the article offers good insight into the presence of the Balkan Wars in so defined scholar ship. The author’s conclusion is that there are
next to no works devoted specifically to the Balkan Wars after the Second World War. At the same time, he observed a kind of unifi cation (or de-nationalisation) of views on the conflicts after 1945. Like some authors al ready discussed, Michail suggests both orientalism and interest or ideologically-motivat ed views during the wars themselves. He also sees the Balkan states in the context of the then prevailing nation-state paradigm. He criticises the significant lack of knowledge of the Balkans in the West, and the tendency to use the report of Carnegie’s Endowment as the sole source. For the period after the Second World War, the author notes that the Bal kan Wars were usually dealt with in works with broader topics, only to be reinstated as a subject in its own right during the Yugoslav wars of dissolution - and then usually only as an explanatory background for contemporary events. He opposes the prevailing view that sees violence as something typical only for the Balkans (whereas it is allegedly only an oc casional aberration in the rest of Europe), putting most of the blame for this oversimplifi cation on the Carnegie report. The book “The Balkan Wars from Contemporary Perception to Historic Memory” will not enhance greatly our knowledge of these wars, but will certainly contribute much to knowledge of the wars’ perceptions — in the past and at present - in South-East Europe and in the West. Despite minor shortcomings of some articles, all of them are on extremely high level of scholarship and objectivity. Finally, a word is in place about the cover. Where as
the subject matter is clearly stated in the title of the volume, the super-abstract painting on the cover (one of those that require a users’ manual to be understood) suggests rather a volume of modern poetry or idealistic philosophy. Should the book live into a second edi tion, this should be changed for the sake of its visibility on the shelves. Its contents mer390 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen it a more attractive cover - i.e. more attractive for average historians and general readers likely to be interested in the topic. Apart from that, the publisher deserves high praise for using the good old footnotes instead of the irritating and unpractical endnotes, so beloved by most Anglo-Saxon publishing houses. Zagreb Zoran Janjetović Wolfram Dornik, Des Kaisers Falke. Wirken und Nach-Wirken von Franz Conrad von Hötzendorf. Mit einer Nachbetrachtung von Verena Moritz und Hannes Lei dinger. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag, 2. korr. Aufl., 2013 (Veröffentlichun gen des Ludwig Boltzmann-Instituts fur Kriegsfolgen-Forschung, 25). 279 S., ISBN 978-3-7065-5004-8, € 24,90 Unter den Generalstabschefs und Oberbefehlshabern der Großmachtarmeen des 1. Welt kriegs nimmt Franz Conrad von Hötzendorf eine Sonderstellung ein: Mit einjähriger Unter brechung 1911/12 leitete er den Generalstab Österreich-Ungarns von November 1906 bis Ende Februar 1917. Er prägte in hohem Maß die Kriegsvorbereitungen, beeinflusste nach Kräften die Sicherheitspolitik der Habsburgermonarchie in den Vorkriegsjahren und führte mehr als dreieinhalb Jahre das Armeeoberkommando (AOK), dessen offizieller Ober befehlshaber Erzherzog Friedrich seinem Generalstabschef weitestgehend freie Hand ließ. Niemand wurde dementsprechend stärker mit Österreich-Ungarns Siegen und Niederlagen identifiziert. Nach dem Krieg bemühte sich Conrad, Kritik an seiner Führung in Frieden und Krieg zu entkräften und seine Verdienste herauszustreichen. Er selbst war publizistisch aktiv, profitierte bei seinen
Bestrebungen aber auch davon, dass ehemalige Mitarbeiter in Publikationen ein positives Bild der Fähigkeiten und Leistungen ihres früheren Vorgesetzten zeichneten. Kritik wurde nur in Ausnahmefallen in die Öffentlichkeit getragen, denn das Prestige der „alten Armee“ schien es erforderlich zu machen, Conrads Ansehen nicht zu schmälern. Noch lange nach seinem Tod 1925 stellten das ehrende Angedenken an die Streitkräfte der Habsburgermonarchie und die Würdigung ihres langjährigen General stabschefs geschichtspolitisch zwei Seiten einer Medaille dar. Hagiographisch anmutende Biographien, aber auch die Benennung von Straßen und Plätzen hielten diese Sichtweise wach. In ihrer knappen, gut nachvollziehbaren „Nachbetrachtung“ gehen Verena Moritz und Hannes Leidinger dem lange Zeit in Forschung und Öffentlichkeit gepflegten Bild von Conrad nach (201-221). Eine kritische Herangehensweise, die Conrads Führungs fehler im Krieg und seine Rolle als Kriegstreiber in der Vorkriegszeit in den Vordergrund rückte, setzte sich allerdings zunehmend durch und dominiert seit mindestens drei Jahr zehnten die Forschungsliteratur. Südost-Forschungen 76 (2017) 391
1848-1989 Dennoch blieben die Straßennamen bestehen, beispielsweise in Graz, und diese Be obachtung regte Wolfram Dornik an, die Ergebnisse der neueren Forschung aufzugreifen und Conrads Lebensweg nachzeichnen (11). Zur Sprache kommen dabei die wesendichen Stationen seiner militärischen Sozialisation, die der Sohn eines früh pensionierten Offiziers auf der Kadettenschule in Hainburg, der Militärakademie in Wiener Neustadt, als Leutnant im Truppendienst und schließlich auf der Wiener Kriegsschule, der Ausbildungseinrichtung für Generalstabsoffiziere, erfuhr. Einsatzerfahrung sammelte Conrad in Bosnien-Herze gowina und Süddalmatien. Verschiedenen Verwendungen als Offizier im Generalstabskorps folgten Kommandofunktionen in Triest und in Innsbruck, bevor 1906 auf Initiative des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand zum Chef des Generalstabes ernannt wurde. Seine als Lehrer auf der Kriegsschule und in Publikationen erworbene Reputation als hervor ragender Kenner militärischer Taktik und sein kompromissloses Auftreten bei Unruhen in Triest ließen erwarten, dass er die Modernisierung der k.u.k. Armee energisch betreiben und dem Offizierskorps, dieser wichtigen Stütze der Habsburgermonarchie, neuen Elan verleihen würde. Diese Erwartungen wurden nicht enttäuscht und sollten den Grund stein dafür legen, dass Conrad auch nach den Niederlagen im Krieg den Respekt vieler Offiziere behielt. Die Reform des Generalstabs, die Verjüngung der Armeespitze, die rigorose Ausrichtung des Dienstbetriebs und der Truppenübungen auf die erwarteten Erfordernisse des Kriegsfalls stießen zwar auch
aufWiderstand, ließen aber eine deutlich erhöhte Schlagkraft der Armee erhoffen. Innenpolitisch bedingte Blockaden der Rüstungspolitik verzögerten allerdings die Sicherstellung einer der ungünstigen strategischen Lage entsprechenden Rekrutenzahl und Bewaffnung. Conrads Handlungsmöglichkeiten in der Rüstungspolitik waren begrenzt, dafür versuchte er massiv, auf die Außenpolitik Einfluss zu nehmen. Sein Drängen auf einen Krieg gegen Italien, den er als Präventivschlag gewertet wissen wollte, führte Ende 1911 zu seiner Amtsenthebung, doch die im Zuge der Balkankriege gesteigerte Gefahr eines bewaffneten Konflikts führte nach nur einem Jahr zu seiner erneuten Ernennung. 1909, 1912 und 1913 warb Conrad vergebens für Krieg gegen Serbien (und 1913 auch gegen Montenegro), aber in der Julikrise 1914 stimmten die zivilen Entscheidungsträger dieser Form der Konfliktlösung zu. Politisch motivierte Fehlentscheidungen begünstigten das Scheitern der Einleitungs offensive gegen Russland und führten zu einer bis zum Kriegsende nie mehr rückgängig zu machenden Abhängigkeit von deutscher Unterstützung, zunächst an der Ostfront, dann auch bei Niederwerfung Serbiens 1915 und Rumäniens 1916 sowie im Krieg gegen Italien. Auch der größte Erfolg des AOK unter Conrad, die Durchbruchsschlacht von GorliceTarnow, konnte nur mit deutscher Hilfe erkämpft werden. Conrad versuchte sich der Be vormundung durch die Deutschen zu erwehren, aber mit der erfolglosen Offensive in Italien und dem gleichzeitigen Zusammenbruch von Teilen der Verbände an der Ostfront im Früh sommer 1916 wurde erneut deutlich, dass
die k.u.k. Armee ohne deutsche Unterstützung ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsen war. Der junge Kaiser Karl L, der selbst den Ober befehl übernahm, entledigte sich schließlich des nur bedingt erfolgreichen Generalstabs392 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen chefs, dem zwar noch ein Armeekommando übertragen wurde, dessen Ära als wichtigster Militär der Habsburgermonarchie aber unwiderruflich vorbei war. Dornik schildert diese Entwicklungen und bietet auch Einblick in das Privatleben Conrads. Insbesondere sein langjähriges Verhältnis zu Gina Reininghaus, die er nach Gorlice-Tarnow im Herbst 1915 heiratete, darf in keiner Conrad-Biographie fehlen. Auch die Weitsicht und die Gemütslagen seines Protagonisten stellt der Verfasser vor. Neu ist das Bild des misanthropischen Sozialdarwinisten und intriganten Kriegstreibers eigentlich nicht, aber einem breiteren Publikum vielleicht doch noch wenig vertraut. Insgesamt ist die Darstellung Dorniks für die Entwicklung ab 1906 ausführlicher als die 2000 in englischer Sprache und 2003 auch in deutscher Übersetzung erschienene Biographie Conrads, die der US-amerikanische Militärhistoriker Lawrence Sondhaus geschrieben hat.1 Das Buch ist nicht ohne Schwächen. Sehr vehement hat darauf bereits Anatol SchmidKowarzik in seiner Online-Rezension verwiesen.2 Die von Schmid-Kowarzik genannten konkreten Beispiele für inhaltliche Fehler und Ungenauigkeiten brauchen hier nicht noch mals aufgeführt werden. Tatsächlich finden sich eine Reihe weiterer Formulierungen, die zu Missverständnissen Anlass geben könnten. Für gut informierte Leser deutet beispiels weise die Passage, ,,[d]ie preußisch-österreichische Rivalität im Deutschen Bund gipfelte in Solferino 1859 und dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866“ (24), auf den Zu sammenhang von deutschlandpolitischer Rivalität und Österreichs
Isolierung 1859 hin. Wer die Hintergründe nicht kennt, der könnte zur Annahme verleitet werden, bei Solferino hätten sich Preußen und Österreicher gegenübergestanden — eben wie 1866 bei Königgrätz. Irreführend ist auch die Textstelle, in der die Verantwortung für die deutsche Niederlage an der Marne 1914 angesprochen wird: „Conrad gab im Rückblick nicht seinem Vor bild Moltke die Schuld am Versagen, sondern der Situation im Generalstab (144). Tatsächlich sah Conrad, wie andere Militärs seiner Epoche, den „älteren“ Helmuth von Moltke, den preußischen Generalstabschef der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71, als Vorbild an, während dessen Neffe, der „jüngere“ Helmuth von Moltke, die deutsche Oberste Heeresleitung bei Kriegsbeginn 1914 führte und wohl nie (und für niemanden) Vorbildfünktion besaß. Sicherlich ließen sich diese und andere Unklarheiten vermeiden, wenn der Erläuterung komplexer Aspekte des Themas mehr Raum gegeben würde. Es gehört zweifellos zu den größten Herausforderungen, denen sich der Biograph Conrads zu stellen hat, den Kontext knapp und doch korrekt zu umreißen. Eine etwas ausführlichere Analyse des Rahmens, der den Handlungsspielraum Conrads begrenzte, wäre für die Leser nützlich. In einer Neuauf lage, die dem Buch zu wünschen ist, wäre Gelegenheit, hier Abhilfe zu schaffen und zudem auch die Einschätzungen des Verfassers noch deutlicher herauszuarbeiten. Dass ÖsterreichUngarn in der Vorgeschichte wie auch in der Geschichte des 1. Weltkriegs eine wesentliche Rolle gespielt hat, wurde lange Zeit v. a. von der englischsprachigen Historiographie nur selten
thematisiert. Das hat sich inzwischen geändert und die Flut an Veröffentlichungen aus Anlass der hundertsten Wiederkehr des Krieges, die 2012 einsetzte, bietet weitere An satzpunkte künftiger Untersuchungen, die der Habsburgermonarchie angemessenen Raum Südost-Forschungen 76 (2017) 393
1848-1989 geben. Dornik selbst hat mit seinen Publikationen zur Ukraine, zur Kriegserfahrung an der Ostfront oder zur Kriegsführung der k.u.k. Armee zu einem differenzierten Blick auf Österreich-Ungarns Part im Weltkrieg beigesteuert. Eine entsprechend überarbeitete Neu ausgabe der Biographie Conrads wäre ein weiterer wichtiger Beitrag zur Debatte. Augsburg Günther Kronenbitter 1 Lawrence Sondhaus, Franz Conrad von Hötzendorf. Architekt der Apokalypse. Wien, Graz 2003. 2 Unter http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21545 , 29.10.2017. Asen KožucHAROV, Obuchenieto na bălgarskite morski oficeri sad graniza (1882-1944) [Die Ausbildung der bulgarischen Marineoffiziere im Ausland (1882-1944)]. Varna: Ter ra Balkánica 2015. 258 S„ 8 Abb., ISBN 978-619-90140-6-6, € 10,Die Arbeit von Asen Kožucharov stellt die erste vollständige Untersuchung über die Aus bildung bulgarischer Marineangehöriger in renommierten ausländischen Marineschulen in den Jahren 1882-1944 dar. Sie bietet zugleich einen neuen Blick auf Schulung und Aus bildung von Bulgaren im Ausland. Auf der Basis reichen Archivmaterials aus bulgarischen Staatsarchiven, aus dem russischem Staatsarchiv der Seestreitkräfte in St. Petersburg und des Bundesarchivs (Militärarchiv in Freiburg/Br.) untersucht der Verfasser den Ausbildungs prozess der Bulgaren für den Erwerb von Meeres- und Marineausbildung und schätzt seine Bedeutung und seinen Einfluss über die Entwicklung der bulgarischen Seestreitkräfte sowie der Marineindustrie in Bulgarien ein. Angesichts des dominierenden Einflusses, den russische Meeres-
und Marineschulen auf die Entwicklung der bulgarischen Streitkräfte hatten, steht die Ausbildung bulgarischer Marineangehöriger in russischen Schulungszentren im Mittelpunkt der Analyse. Dargestellt werden u. a. die Gründe für die Bevorzugung russischer Marineschulen, die weitere beruf liche Laufbahn der Marinebeamten sowie die Auswirkung dieser Ausbildung auf die Ent wicklung der bulgarischen Seestreitkräfte, Einen besonderen Platz in der Arbeit nimmt der Schulungsprozess von bulgarischem Marinepersonal in Deutschland ein, das an vorderster Stelle unter den westeuropäischen Ländern, in denen im genannten Zeitraum Bulgaren ausgebildet wurden, steht. Der Schwer punkt der Darstellung liegt auf der Ausbildung während des 1. Weltkriegs und in der Zeit danach und reicht bis 1944. Ein wertvoller Beitrag des Autors ist dabei die mit neueren Archivdokumenten aus ausländischen Archiven (vor allem Dokumente aus dem Militär archiv in Freiburg/Br.) vorgenommene Darstellung der Schulung von Offizieren in der Marineschule „Mürwik“ in Flensburg während des 1. Weltkriegs. Wenn auch mit Ein394 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Schränkungen, schätzt der Autor die Bedeutung der Ausbildung in Deutschland für die weitere Entwicklung des Seewesens in Bulgarien hoch ein. Ebenfalls detailliert beschreibt Kožucharov die Schulung von Schiffbauern in der Technischen Schule in Berlin, die Aus bildung von U-Bootpersonal in „Sehrohrer Schule“ (U-Bootschule) in Kel und die Taucher kurse durch die kaiserliche Marine, die mit praktischer Ausbildungsteilen auf deutschen U-Booten verbunden war. Die Schulung von Belegschaft fur das Seeflugwesen in der Wasser flugzeugschule in Deutschland stellt laut Kožucharov sogar „den Anfang der systematischen Ausbildung von Marinepiloten“ (242) dar. Eingestreut in den Text finden sich immer wieder Verweise auf den Forschungsstand zum Thema. Die Arbeit enthält reiches Quellenmaterial und übersichtliche Tabellen. Das vorliegende Buch ist ein wertvoller Beitrag für die Erforschung des Problems der Schulung bulgarischer Marineangehörige im Ausland. Sofia Marija Koleva Jean-Paul Bled, Franz Ferdinand. Der eigensinnige Thronfolger. Übers. Susanna Grabmaver/Marie-Therese Pitner. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2013.322 S., ISBN 978-3-205-78856-8, € 35,Rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag des Attentats von Sarajevo erschien eine Biographie des Erzherzogs und Thronfolgers Franz Ferdinand von Österreich-Este aus der Feder von Jean-Paul Bled, 2012 im französischen Original, ein Jahr später in deutscher Übersetzung. Der Verfasser ist einer der besten Kenner der späten Habsburgermonarchie und hat neben wegweisenden Studien zum Katholizismus und Konservatismus der 1850er bis
1870er Jahre eine sehr lesenswerte Biographie Kaiser Franz Josephs I. und eine Darstellung des Lebens und Sterbens - des Konprinzen Rudolf vorgelegt. Dass Bled sich mit Franz Ferdinand auch des zweiten, ebenfalls gewaltsam zu Tode gekommenen Thronfolgers der Ara Franz Josephs zuwendet, erscheint daher nur folgerichtig. Souverän entfaltet der Verfasser das Lebensbild vor dem Hintergrund der Geschichte Österreich-Ungarns in den letzten Jahrzehnten vor dem Großen Kieg. Als Ausgangs punkt wählt Bled dabei das Jahr 1889, also die große Zäsur im Leben Franz Ferdinands: Es war der Selbstmord des Konprinzen Rudolf in Mayerling, der den Neffen des Kaisers zum nächsten Anwärter auf den Thron des Habsburgerreiches aufrücken ließ. Erzherzog Karl Ludwig, Franz Ferdinands Vater, zeigte weder Eignung noch Neigung, seinem älteren Bruder als Herrscher nachzufolgen, und so erschien Franz Ferdinand als ältester Sohn Karl Ludwigs schon vor dem Tod seines Vaters 1896 als wahrscheinlicher Thronerbe. Angemessen vorbereitet worden war Franz Ferdinand auf seine Rolle als künftiger Herrscher nicht, wie Bled zu recht konstatiert. In der Armee hatte er eine sorgfältige, sehr an katholischer Südost-Forschungen 76 (2017) 395
1848-1989 Frömmigkeit und Traditionsbewusstsein orientierte Erziehung durchlaufen und, wie alle Agnaten des Herrscherhauses, eine militärische Karriere begonnen, aber für seine Aufgabe als Monarch im komplexen System des multiethnischen und seit 1867 dualistisch auf gebauten Österreich-Ungarn fehlten ihm tiefere staatsrechtlich-politische Kenntnisse und ausreichend breite Sprachkompetenz. Erzherzog Albrecht, als General-Inspektor des Heeres faktisch der einflussreichste Militär der Habsburgermonarchie und zugleich selbsternannter Hüter dynastischer Tradition, ver suchte Franz Ferdinand auf konservative Werte zu verpflichten. Was Albrecht bei Kron prinz Rudolf gründlich misslungen war, fiel bei Franz Ferdinand nicht schwer, denn für liberale oder gar demokratisch-egalitäre Positionen hatte der neue Thronanwärter keinerlei Sympathie. Der in Wahrheit von einem Berater geschriebene Bericht über eine zehnmonatige Weltreise gab dann Gelegenheit, den Erzherzog auch in der Öffentlichkeit als welterfahren zu präsentieren. Eine lebensbedrohliche Lungenerkrankung weckte allerdings in Hofkreisen kurzzeitig Zweifel daran, dass Franz Ferdinand den Tag der Thronbesteigung auch erleben könnte. Der schwer erkrankte Erzherzog registrierte mit nachvollziehbarer Empfindlich keit alle Anzeichen dafür, dass mancherorts schon mit seinem jüngeren Bruder Otto als möglichem Thronfolger gerechnet wurde. Das daraus erwachsene Ressentiment blieb auch nach seiner Gesundung ein Zug von Franz Ferdinands Charakter. Vollends bestätigt sah er sich in seiner Abneigung gegen den Hof seines Onkels, als er
Gräfin Sophie Chotek ge heiratet hatte, die zwar aus altem böhmischem Adel stammte, aber nach den Regeln des Hausgesetzes nicht ebenbürtig war. Die Einwilligung Franz Josephs zur morganatischen Ehe war nur dadurch zu erreichen, dass Franz Ferdinand in einem feierlichen Renuntiationseid für seine zukünftigen Kinder aus dieser Verbindung auf alle Thronfolgerechte ver zichtete. Sophie, zunächst zur Fürstin, später zur Herzogin von Hohenberg erhoben, blieb nach den Vorschriften des Hofzeremoniells protokollarisch im Abseits. Dass die von ihm offenkundig sehr geliebte Gattin dadurch in kränkender Weise deklassiert wurde, ließ den Thronfolger zeidebens nicht ruhen und nährte einen regelrechten Hass auf den Hof des Kaisers. Es gehört zu den Stärken von Bleds Darstellung, dass die Kränkungen anschaulich gemacht und die irrational anmutende Dankbarkeit für Ehrungen und Freundlichkeiten, die ausländische Monarchen seiner Frau erwiesen, herausgearbeitet wird. Ausgewogen ist das Urteil des Verfassers in der Frage, ob Franz Ferdinand nach seiner Thronbesteigung wohl zugunsten seiner insgesamt drei Kinder den Renuntiationseid gebrochen hätte. Bled verneint diese Frage mit guten, wenn auch nicht unbedingt zwingenden Argumenten. Dass schon die Zeitgenossen darüber spekulierten, ob Franz Ferdinand sich an seinen Eid halten würde, zeigt recht deudich, mit wie viel Skepsis der Thronfolger in weiten Teilen der politischen Elite der Habsburgermonarchie betrachtet wurde. Sein misstrauischer und auf brausender Charakter, den Bled treffend herausarbeitet, trug sicher dazu bei, wohl aber auch
sein Eingreifen in Politik und Verwaltung. Die Abneigung gegen die Machtelite Ungarns war besonders ausgeprägt, und wenn es über zwei Jahrzehnte hinweg einen bestimmenden Zug im politischen Handeln des Thronfolgers gab, dann war dies seine Entschlossenheit, die herausgehobene Rolle Ungarns zurückzuschrauben. Juden, Protestanten, Liberalen und 396 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Sozialdemokraten stand er unverhohlen feindselig gegenüber, denn sie galten ihm als ge fährlich für den Zusammenhalt der - in seinen Augen - auf Tradition und Gehorsam ge gründeten Habsburgermonarchie. Nationalisten fielen zumeist auch in diese Kategorie, allerdings erkannte Franz Ferdinand in den Wortführern einzelner Nationalbewegungen zumindest zeitweise potentielle Verbündete bei dem Versuch, Ungarns Einfluss zurück zudrängen oder die Stellung der Wiener Machtzentrale zu stärken. Gut nachvollziehbar skizziert Bled das Agieren des Thronfolgers, und ganz zu Recht verdeutlicht er dabei, wie wenig sich Franz Ferdinand mit seiner Rolle arrangieren konnte, die es ihm eigentlich auf erlegte, seine Sorgen um die Zukunft Österreich-Ungarns seinem Onkel nur hinter ver schlossenen Türen nahezubringen, niemals aber der Politik des Monarchen öffentlich entgegenzutreten. Mit Hilfe seiner Militärkanzlei im Unteren Belvedere in Wien baute der Erzherzog, der schließlich ah 1913 als General-Inspektor der gesamten bewaffneten Macht firmierte, seinen Einfluss in weiten Bereichen von Politik, Verwaltung und Militär apparat stetig aus, nicht zuletzt auf dem Weg der Personalpolitik. Er scheute dabei weder vor Intrigen noch vor publizistischen Kampagnen zurück. Auch bei den Überlegungen zur künftigen Umgestaltung der Habsburgermonarchie liefen die Fäden in der Militärkanzlei zusammen. Bleds Einschätzung der Planungen ist weitgehend plausibel, auch wenn er letzt lich den letzten Vorkriegsjahren, als die Leitung der Kanzlei gewechselt hatte, wenig Auf merksamkeit schenkt.
Dies gilt auch für die Darstellung der außen- und militärpolitischen Bestrebungen Franz Ferdinands, die insbesondere in der von Alma Hannig verfassten Bio graphie Franz Ferdinands deutlich differenzierter analysiert werden.1 Der kurze Abschnitt über die k.u.k. Kriegsmarine (257-260) wird dem Engagement des Thronfolgers für den Aufbau der Seestreitkräfte nicht gerecht. Ganz besonders gut gelungen sind dagegen zwei Kapitel, die vom chronologischen Gliederungsschema des Buches ab weichen. Eines davon ist dem Alltagsleben des Erzherzogs und seiner - auch in den Augen der Zeitgenossen unmäßigen - Jagdleidenschaft gewidmet und folgt der durchaus reich haltigen Franz Ferdinand-Literatur. Einen klaren eigenen Akzent setzt der Verfasser jedoch im Abschnitt über das Verhältnis des Thronfolgers zur Kunst. Bled betont hier insbesondere den Mangel an kultureller Bildung, der den in seine eigenen Vorurteile vernarrten Erz herzog bei seinen mit Verve vertretenen Neigungen und Abneigungen leitete: „Seine ein geschränkte Ausbildung ließ Franz Ferdinand zum Gefangenen seiner Vorurteile, sprich: seiner Phobien, werden. Da er sich in vorgefassten Meinungen gefiel, hatte er einen fixen Geschmack, meist ohne Nuancierungen“ (185). Am Ende der Biographie, nach einem kurzen Abschnitt über das Attentat in Sara jevo und das Begräbnis des ermordeten Erzherzogs und seiner Frau, geht der Verfasser auf die viel diskutierte Frage ein, ob Franz Ferdinand die Habsburgermonarchie hätte retten können. Selbst wenn Bled daran zweifelt, dass Franz Ferdinand sein Programm zur Ver minderung der
Machtstellung Ungarns mit Gewalt umzusetzen versucht hätte, so bewertet er auch die Chancen einer friedlichen Durchsetzung dieses Vorhabens mit verständlicher Skepsis. ,Angesichts dieses engen Handlungsspielraums hätte er sich mit der Realität abfinden müssen. Sein Stolz hätte vielleicht gelitten, daran wäre aber nichts Ehrenrühriges Südost-Forschungen 76 (2017) 397
1848-1989 gewesen. Im Gegenteil, es gibt keine vernünftige Politik, die nicht von der Realität aus geht. Und hier endet die Aufgabe des Historikers. Es ist, wie es ist, und die Folgen, wäre es anders gewesen, stehen für immer auf einem unbeschriebenen Blatt“ (297). Schwungvoll führt das Buch durch das Leben und Wirken Franz Ferdinands, „wie es ist“. Nicht so pointiert und auch auf der Basis bislang kaum oder überhaupt nicht ge nutzter Quellen geschrieben wie Hannigs Analyse, bietet Bleds Darstellung einen überaus fundierten und gut zu lesenden Überblick über Franz Ferdinands Biographie. Augsburg Günther Kronenbitter 1 Alma Hannig, Franz Ferdinand. Die Biographie. Wien 2013. M. Şükrü Hanİoğlu, Atatürk. Visionär einer modernen Türkei. Übers. Tobias Gabel. Darmstadt: Konrad Theiss Verlag 2015. 320 S., zahir. Abb. u. Kt., ISBN 978-3-80623111-3, €29,95 M. Şükrü Hanioğlu ist Garrett Professor für Auswärtige Angelegenheiten und Nahost studien an der Universität Princeton. Als Historiker beschäftigt er sich seit Jahrzehnten mit der Ideengeschichte des späten Osmanischen Reiches und insbesondere mit jener der sog. jungtürkischen Bewegung, deren Politik die moderne Türkei weit über ihre Regierungs zeit (1908-1918) hinaus entscheidend geprägt hat. Seine Bücher „The Young Turks in Opposition“ (1995) und „Preparation for a Revolution. The Young Turks 1902-1908“ (2001) sind unverzichtbare Standardwerke auf diesem Gebiet. 2008 legte er auch eine „Brief History of the Late Ottoman Empire“ vor. Mit dem vorliegenden Buch bewegt er sich nun bis weit in die Republikgeschichte hinein und
widmet sich der Biographie eines zunächst eher unwichtigen Mitglieds des jungtürkischen „Komitees für Einheit und Fort schritt“ (KEF): der von Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk (1881-1938). Das Buch ist die gründlich aktualisierte und mit einem neuen Vorwort versehene Über setzung einer 2011 bei Princeton University Press erschienenen Atatürk-Biographie. Atatürk ist heute zweifellos die am besten erforschte und am gründlichsten auch in europäischen Sprachen behandelte Persönlichkeit, die das Osmanische Reich hervorgebracht hat. Als Gründer der Republik ist er bereits in zahlreichen Biographien gewürdigt worden, allein in den letzten 20 Jahren etwa von Andrew Mango1 und Klaus Kreiser2 sowie zuletzt von George Walter Gawrych3. Atatürk-Biographien werden in aller Regel nicht nur für ein Fachpublikum geschrieben und — wie in diesem Fall — bisweilen sogar in andere Sprachen übersetzt. Auf dem deutschen Markt steht das Buch also in einer gewissen Konkurrenz zu Klaus Kreisers Biographie, die 2014 in der 3. Auflage erschien. Ebenfalls ist seit 2010 İpek Çalışlars Biographie der Frauenrechtlerin und kurzzeitigen Ehefrau des Staatsgründers, 398 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Latife Hamm, auf Deutsch verfügbar, die in der deutschen Ausgabe mit „Mrs. Atatürk“ betitelt ist.4 Hanioğlus Buch ist aber nicht einfach nur eine weitere solche Biographie. Der Original titel trägt den Zusatz „an intellectual biography“ (ein zugegebenermaßen schwer übersetz barer Titel ֊ „Visionär einer modernen Türkei“ kommt dem Original wohl so nah wie es eben möglich ist). Hanioğlu interessiert sich ausdrücklich nicht für das legendenumwobene Privatleben Atatürks, auf das Çalışlar recht ausführlich eingeht, und er ist auch nicht darauf aus, eine weitere umfassende und erschöpfende Darstellung seiner Verdienste als Staatsmann zu schreiben. Statt dessen liefert er gewissermaßen die intellektuelle Bio graphie eines Nicht-Intellektuellen, indem er Atatürk in den ideengeschichtlichen Kontext seiner Zeit einordnet und auch sein gedankliches Erbe, nämlich den Kemalismus als Ideo logie, untersucht. Das Buch umfasst ein Vorwort zur deutschen Ausgabe, eine Einleitung über „Mustafa Kemal zwischen Forschung und Fiktion“, insgesamt acht thematische Kapitel und ein Fazit. Im Anhang finden sich die Anmerkungen, eine Bibliographie, ein Abbildungsverzeichnis, eine Tabellenübersicht, ein Register und - für ein populärwissenschaftliches Werk besonders wichtig — eine Zeittafel. Es bleibt mit insgesamt 320 Seiten auch in der vorliegenden ge bundenen Ausgabe noch ein handliches Buch, das man auch unterwegs lesen kann. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe bietet Hanioğlu zunächst eine kurze Einführung in die Geschichte des Kemalismus, der als Ideologie eigentlich erst nach
Atatürks Tod entstand und nach 1945 zu voller Blüte kam. In dieser Zeit, als Angehörige unterschied lichster Strömungen in der Türkei (nämlich eigentlich alle) sich selbst als Kemalisten bezeichneten, habe eine „wortmächtige Herrschaft der sinnentleerten Phrase“ (16) geherrscht. Seit der Regierungsübernahme durch die islamistische AKP 2002 hat sich der Charakter des Kemalismus in einer „post-kemalistischen Türkei“ jedoch entscheidend geändert. Er ist nun ein nationalistischer Diskurs mit stark antiwestlichem Unterton, der von einer zwar kleinen, aber umso lautstärkeren Gruppe vertreten wird. Nachdem er so die aktuelle Lage beschrieben hat (die Ausführungen sind auch angesichts der aktuellen Ereignisse weiterhin nützlich für ein Verständnis der politischen Gemengelage in der Türkei), diskutiert Hanioğlu in seiner Einleitung zunächst die existierende, äußerst umfangreiche Literatur und die Quellenlage. Letztere ist durchwachsen: Zwar sind einige Aspekte geradezu erschöpfend erforscht (so existiert ein Buch, das alle von Atatürk gelesenen Bücher zum Thema hat) und die meisten Schriften Atatürks sind in Form von Editionen verfügbar, andererseits bleiben wichtige Archivalien unter Verschluss. Außerdem wurden viele veröffentlichte Quellen ins moderne Türkeitürkisch „übersetzt“; Hanioğlu hat sich daher die Mühe gemacht, wo immer es ging, zurück zu den osmanischen Quellen zu gehen. Das 1. Kapitel behandelt Mustafa Kernais Kindheit und frühe Jugend in Thessaloniki, der multi-religiösen und multi-ethnischen Hafenstadt im heutigen Nordgriechenland, die ein wichtiger Umschlagplatz
nicht nur für Waren, sondern auch für Ideen war. Verwestlichende Reformen wurden hier früher umgesetzt und erreichten auch die muslimische Bevölkerung eher als in anderen Teilen des Reiches; und so kam es, dass Mustafa Kemal Südost-Forschungen 76 (2017) 399
1848-1989 als einer der ersten muslimischen Jungen für kurze Zeit die Vorzüge einer privaten Grund schule genoss. Er schlug früh eine Militärlaufbahn ein und erhielt in den Kadetten- und Offiziersschulen Sultan Abdülhamids auf Staatskosten die beste Ausbildung, die das Reich damals zu bieten hatte. Im 2. Kapitel geht es um Mustafa Kernais Zeit als Kadett und junger Offizier. Er war, wie alle Jungtürken, dem Staat in „unerschütterlicher Loyalität verbunden“ und „zutiefst elitär“ (63). Wie sie war er stark von Vulgärmaterialismus (Hanioğlu benutzt auch in der englischen Ausgabe durchgängig diesen abwertenden Begriff anstelle des geläufigeren „naturwissenschaftlicher Materialismus“ bzw. „scientific naturalism“), Szientizismus und Positivismus beeinflusst, verachtete die Religion im Allgemeinen und den Islam im Be sonderen, las u. a. mit Begeisterung das mit rassistischen Untertönen durchsetzte Buch über Massenpsychologie von Gustave Le Bon, Teile von Ludwig Büchners „Kraft und Stoff“ und Colmar von der Goltz’ „Volk in Waffen“. Anders als von der Goltz stellte sich Mustafa Kemal allerdings weniger den Staat als Armee vor, sondern eher die Armee als Staat im Staate. Hanioğlu benennt diese Differenz zu anderen Jungtürken als einen Grund dafür, dass er im geheimen KEF schon bald keine Karriere mehr machen konnte (65). Das ganze 3. Kapitel ist der Religionsfeindlichkeit der Jungtürken und Mustafa Kernais Vorstellungen von einer islamischen Reformation gewidmet. Kapitel 4 behandelt eher ereignisgeschichtlich den 1. Weltkrieg, in dessen Verlauf Mustafa Kemal vom weitgehend
unbekannten Oberstleutnant zum Kriegshelden, General und Kommandeur der 2. Armee aufstieg. Auch diese Blitzkarriere war, wie Hanioğlu zeigt, für Angehörige seiner Generation nicht ungewöhnlich: Die Jungtürken hatten die osmanische Armee 1913 weitgehend von altgedienten Offizieren „gesäubert“ und so den Weg für junge, an Militärschulen ausgebildete Offiziere geebnet. Wirksam wurden Mustafa Kernais politische Vorstellungen mit dem türkischen Unabhängigkeitskrieg 1919-1922, dem das 5. Kapitel gewidmet ist. Hanioğlu stellt hier eindrücklich dar, wie geschickt Mustafa Kemal im Laufe des Krieges Anleihen bei zwei politischen Ideologien machte, die er eigent lich ablehnte, und diese für seine Zwecke instrumentalisierte: Dies waren zum einen der Bolschewismus und zum anderen der politische Islam. Die Entwicklung seiner diesbezüg lichen Rhetorik stellt Hanioğlu u. a. mit Hilfe mehrerer Tabellen dar, was auf den ersten Blick etwas irritierend, auf den zweiten jedoch sehr überzeugend wirkt (125). Ebenfalls sehr erhellend ist seine Diskussion des politischen Systems dieser Zeit: In der Großen Türkischen Nationalversammlung, die 1920 das erste Mal zusammentrat, gab es zunächst keine politischen Parteien und auch keine Gewaltenteilung, und die vom Parlament ein gesetzten „Unabhängigkeitstribunale“ verbreiteten Angst und Schrecken (126). Den Aufstieg zum autoritären Präsidenten der Republik Türkei beleuchtet das 6. Kapitel: Mustafa Kemal ging im Anschluss an den Sieg im Unabhängigkeitskrieg daran, seine Vor stellungen eines säkularen Nationalstaats in die Tat umzusetzen. Dabei musste
er sich mit der Kritik einflussreicher islamischer Gelehrter aus dem In- und Ausland auseinandersetzen, die jedoch letztendlich die Abschaffimg des Kalifats sowie viele weitere säkularisierende Reformen nicht verhindern konnten. Mustafa Kemal zeigte reges Interesse am Parteien400 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen system der Dritten Republik in Frankreich, das er - teils mit Hilfe eigens fur ihn angefertigter Übersetzungen - gründlich studierte (147). Was seine Umsetzung solcher Ideen betrifft, bemerkt Hanioğlu trocken, dass er zwar eigentlich ein Mehrparteiensystem befürwortet habe, nur „eben nicht im geringsten mit Kritik umgehen“ konnte (156). Das 7. Kapitel ist den 1930er Jahren gewidmet, einer Zeit in der Mustafa Kemal (ab 1934 trug er den Ehrentitel und Nachnamen ,Atatürk“) mit de facto diktatorischer Macht herrschte. Hanioğlu widmet sich hier ausführlich den aus heutiger Sicht pseudowissen schaftlich erscheinenden Theorien dieser Zeit, die Atatürk zur Legitimierung des türkischen Nationalismus in Dienst nahm. Er macht aber zugleich deutlich, dass solche Ideen — im Kontext ihrer Zeit betrachtet und abgesehen von der Sonnensprachtheorie (derzufolge Türkisch die Ursprache schlechthin war) - keineswegs als obskure Spezialität Atatürks gelten konnten. Rassentheorien hatten auch in Europa Hochkonjunktur, und Schädelver messungen waren ebenso en vogue wie völkische Ideen. Das 8. Kapitel ist mit „Die Türkei und der Westen“ überschrieben. Hanioğlu behandelt darin all jene Reformen, die einen verwestlichenden Charakter hatten, etwa das Hutgesetz von 1925, die Schriftreform von 1928/1929, das Verbot traditioneller alaturka Musik im Radio, die Einführung der christlichen Zeitrechnung und des Sonntags als Ruhetag, das aktive und passive Frauenwahlrecht und die Einführung einer komplett an westliche Vor bilder angelehnten Gesetzgebung. Er geht dabei für die Kontextualisierung
sowohl auf Vor läufer solcher Reformen zu osmanischer Zeit als auch auf die fast zeitgleichen Bemühungen von Reza Shah im Iran ein. Insgesamt beschreibt er die Reformen dieser Jahre als „von oben oktroyierte Moderne“ (209), die vom Volk zwar überwiegend abgelehnt wurde, auf lange Sicht jedoch eine bemerkenswerte Wirkung entfaltete. Sie „zwang sogar die Vertreter der Tradition zu einer Reaktion“ (225). Hiermit meint er wohl u. a. die Bewegung um Said Nursi, die sich später in der Gülen-Bewegung fortsetzte, und die eine naturwissenschaft lich-technische Erforschung der göttlichen Schöpfung als nicht nur vereinbar mit dem Islam, sondern als einen Akt islamischer Frömmigkeit postuliert(e). Im Fazit fasst Hanioğlu die Ergebnisse des Buches zusammen. Atatürk sei kein Theoretiker gewesen; dementsprechend würden seine Theorien einem politischen Philosophen wohl „etwas dünn“ erscheinen (227). Darauf komme es allerdings auch gar nicht an: Die Wirkung und der Einfluss seiner Ideen auf die moderne Türkei sind unumstritten. Dass sie eine solche Wirkung entfalten konnten, liege wesentlich an einer außergewöhnlichen internationalen und nationalen Gemengelage, die Mustafa Kemal geschickt zu nutzen wusste: ,Atatürks Erfolg lag, anders gesagt, nicht in der Originalität seiner Ideen, sondern in der Singulari tät der Chance, die er zu ihrer Umsetzung ergriff“ (229). Eine Untersuchung der Ideen Atatürks und seines politischen Programms ist ein äußerst wichtiges Unterfangen, und zwar aus mehreren Gründen: Erstens haben die Ideen, die Atatürk und seine Generation prägten, in den politischen
Institutionen, im Militär, in den Schulen, Universitäten und ganz allgemein in der Kultur der Türkei tiefe Spuren hinterlassen, die bis heute wirksam sind. Sie zu kennen heißt, die Türkei und ihre aktuelle Situation besser zu verstehen. Zweitens war Atatürk eben nicht nur ein „Osmane“ seiner Südost-Forschungen 76 (2017) 401
1848-1989 Zeit, sondern er wurde von Ideen beeinflusst, die aus Europa kamen und sich auch dort in politischen (oft reaktionären bis faschistischen) Bewegungen niederschlugen. Indem er dies deutlich macht, stellt Hanioğlu Atatürk nicht nur in seinen osmanischen Kontext, sondern den osmanisch-türkischen Kontext in seinen europäischen. Diese Betrachtung er möglicht es einerseits, Atatürk zu demystifizieren (er war nämlich mitnichten das einsame Genie, das alles aus eigener Kraft schuf, als das ihn die türkische Historiographie gerne beschreibt). Andererseits hilft sie auch, das spätosmanische Reich als den Teil Europas zu betrachten, der es war, und so orientalisierenden Betrachtungen entgegenzuwirken. Das Osmanische Reich war zugleich Teil Europas und ein zutiefst vom Islam geprägter Staat. Das war kein Widerspruch, und es ist oft erhellend, wenn Hanioğlu Atatürks Umgang mit diesem Erbe in kurzen Einschüben mit der Politik anderer Reformer in islamisch ge prägten Ländern vergleicht. Kritik betrifft weniger Hanioğlus Ausführungen selbst, als ihren begrenzten Umfang: So wäre es interessant gewesen, auch die Wirkung der atatürkschen Ideen und Reformen auf eben die islamistischen Gruppen zu untersuchen, aus denen die aktuelle Regierungs partei AKP hervorgegangen ist. Hanioğlu deutet zwar an, dass auch traditionelle Kräfte auf Dauer nicht an diesen Ideen vorbeikamen, es wäre aber überaus erhellend gewesen, dies auch genauer zu diskutieren. Insgesamt entsteht manchmal der Eindruck, der Autor würde sich über die Wissenschaftsgläubigkeit und den „Vulgärmaterialismus“ der
Jungtürken und damit auch Atatürks - lustig machen. Das trägt zwar zum Lesevergnügen bei, mag aber auch ein bisschen unfair sein gegenüber einer Gruppe, der der Zugang zu seriöseren Wissensquellen eben versperrt war. Der Text ist ganz offensichtlich gründlich lektoriert worden, der Index detailliert und äußerst nützlich, die Karten informativ, kurz: Das Buch ist gut gemacht. Es weist nur seht wenige kleinere Fehler auf, die in einer 2. Auflage korrigiert werden sollten. So suggeriert eine Karte (78), dass das Königreich Griechenland auf der Peloponnes erst 1878 entstand, richtig wäre aber 1830. Das Hutgesetz von 1925 betraf nicht, wie angegeben, nur Staats bedienstete, sondern die gesamte männliche Bevölkerung der Türkei (210). Die Über setzung von Tobias Gabel ist sehr gelungen und leistet — wie auch Hanioğlu in der Dank sagung lobend bemerkt - mehr als eine bloße Übertragung ins Deutsche. An einer Stelle wäre jedoch auch hier eine Korrektur angebracht: Der Osmanismus war keine „überstaat liche“, sondern eine übernationale Ideologie (146, im Original: „supranational“). Insgesamt liefert das Buch eine gut lesbare, informative und gründlich recherchierte Einführung in die Ideen, die Mustafa Kemal und seine Generation prägten und beleuchtet ihre Wirkung auf die moderne Türkei. Sowohl Fachleute als auch allgemein interessierte Leserinnen und Leser werden ihre Freude daran haben. Bamberg Ellinor M о г а c к 1 Andrew Mango, Atatürk. The Biography of the Founder of Modern Turkey. Woodstock/NY 2002. 402 Südost-Forschungen 76 (20 Í 7)
Rezensionen 2 Klaus Kreiser, Atatürk. Eine Biographie. München 2008. 3 George Walter Gawrych, The Young Atatürk. London 2013. 4 İpek Çalişlar, Mrs. Atatürk. Latife Hanim. Ein Porträt. Berlin 2008. Cacilia Giebermann, Josef Marxen, Missionar in Albanien. Eine Spurensuche. Trier: Paulinus Verlag 2016. 69 S„ 25 Abb., ISBN 978-3-7902-2213-5, € 5,֊ Viele Jahre stand das kleine Land Albanien während des 20. Jh.s im Schatten welt politischer Entscheidungen. Nachdem die italienischen Truppen am 7.4.1939 Albanien besetzt und dem Königreich Italien unterstellt hatten, formierte sich unter der Führung der kommunistischen Partisanen der Widerstandskampf in den Jahren 1941-1944. Die Machtergreiftmg durch die Kommunisten, die im November 1944 einsetzte, erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die deutschen Truppen die albanische Hauptstadt Tirana geräumt hatten. Enver Hoxha (1908-1985) wurde zum Generalsekretär der albanischen kommunistischen Partei gewählt, was die Zerstörung der dort bestehenden religiösen Gemeinschaften nach sich zog. Die katholische Kirche, deren Mitglieder in jenen Jahren weniger als 10 % der Gesamtbevölkerung ausmachten, verlor all ihre Besitztümer, die chrisdiche Pressearbeit wurde eingestellt, die Jesuiten- und Franziskanerschulen durch Schulen marxistischer Prägung ersetzt und der Apostolische Delegat Erzbischof Leone Giovanni Battista Nigris (1884-1964) als „unerwünscht“ des Landes verwiesen. Hier setzt die „Spurensuche“ der vorliegenden Veröffentlichung an, erforscht durch die Enkelin von Pfarrer Josef Marxens Schwester Elisabeth. Cacilia Giebermann begann im Jahr
2008 mit ihren „Suchanfragen“ (7), lernte Albanisch und begab sich mehr als 60 Jahre nach dem gewaltsamen Tod ihres Großonkels mehrere Male in dieses Land, das ihr bis lang fremd geblieben war. Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut und in fünf Kapitel gegliedert. Das 1., „Der Weg zum Missionar (1906-1936)“ (8-20) überschrieben, beginnt mit den Eltern Josef Marxens, geht auf seine Geburt in Worringen bei Köln ein, überspringt aber seine Zeit auf dem Vronoverhof bei Rommerskirchen (Rheinland) und Bermeshausen (Südeifel), um sich auf seine Schulzeit in Zemmer nördlich von Trier zu konzentrieren. Seine Internats zeit war in Lohr am Main, wo er im Übrigen nur ein knappes Jahr blieb, um sich dann in St. Wendel (Saarland) auf das Abitur vorzubereiten. Sein Studienwunsch, in Russland als Seelsorger zu wirken, wurde vereitelt. So begann er nach seiner Priesterweihe 1936 für das albanische Bistum Dürres seine Tätigkeit, die im Kapitel .Ankunft in Albanien“ (21-26) beschrieben wird. Seine erste Pfarrgemeinde war „Perlat in den Bergen (1936-1941)“ (2740); hier fand Giebermann Zeitzeugen, die noch ausführlich und lebhaft über „Dom Zef‘ berichten konnten, insbesondere über seine Einsatzbereitschaft wie bei der Renovierung von Kirche und Haus, aber auch über das in der Bergbevölkerung übliche Gewohnheitsrecht, Südost-Forschungen 76 (2017) 403
1848-1989 Kanun genannt. In seiner zweiten Pfarrgemeinde in „Jubë an der Küste (1941-1945)“ (4149), als die deutsche Besatzung angesichts der politischen Lage ihm riet, sich aus Sicher heitsgründen nach Deutschland zurückzuziehen, blieb Marxen bei seiner Pfarrgemeinde. „Gefängnis und Ermordung (1945-1946)“ (50-59) heißt das 5. und letzte Kapitel; Marxen wurde zu Unrecht vorgeworfen, „er habe mit der Gestapo zusammengearbeitet und sei ein Freund des Kollaborateurs Xhafer Dava gewesen“ (54). In der Folge wurde er inhaftiert und am 16.11.1946 unweit von Tirana erschossen. Auf der Grundlage gesicherter Quellen (v. a. über den gegen Marxen angestrengten Prozess), verlässlicher Literatur, verbunden mit den Alben und Erzählungen aus der Ver wandtschaft, ist es der promovierten Autorin gelungen, das Leben dieses bislang weithin un bekannten deutschen Albanien-Missionars aufzuhellen und in die dramatische Geschichte dieses Landes einzuordnen. Es handelt sich um einen ersten Versuch, in das verworrene Dickicht dieses „ersten atheistischen Landes der Welt“ (7) einzudringen und die Gestalt dieses Seelsorgers - besonders fur die deutschsprachige Leserschaff - vor dem Vergessen zu bewahren. Leider entbehren die Fotos der erforderlichen Bildlegende. Marxen ist freilich in die Reihe der zahllosen Gewaltopfer im Albanien der Jahre 1945 bis 1974 einzuordnen, ohne die die geschichtlich komplizierte Wirklichkeit in Südosteuropa nicht authentisch aufgearbeitet werden kann. Köln Helmut Moll Dezmembrarea României. Anexarea de către URSS a Basarabiei, nordului Bucovi nei şi Ţinutului Herţa -
1940 (Studiu şi culegere de documente) [Die Zerstücke lung Rumäniens. Die Anexion Bessarabiens, der Nordbukowina und des Herza-Gebiets 1940 durch die UdSSR (Studie und Dokumente)]. Hgg. Mihai TAŞCĂ/Wolfram Niess. Chişinău: Cartea Juridică/Editura Serebia 2015. 948 S., ISBN 978-9975-3034-6 (Cartea Juridică), ISBN 978-9975-128-41-4 (Serebia) “On June 28, 1940, when the Soviet Union occupied Bessarabia, me, my mother and шу 76 year-old grandmother have not been able to flee to Romania because during the occupation my mother was ill, and after that, on August 11, 1940, she died, leaving [me] and my grandmother alone without support. Here we had a house and 4 hectares of land from which we lived, and which were currently nationalized”. This text was written on April 2 1941 by Alexandra Sherbako from the village of Burjărăuca in the Soroca county of Bessarabia to the Romanian Legation in Moscow, while requesting repatriation across the Prut River.1 This personal tragedy described above, chosen only by chance from a list of 55 documents of the same kind (a total of702 documents, out of which 659 were pub- 404 Siidost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen lished for the first time), is a common one among the Bessarabians who witnessed the oc cupation of their region by Soviet troops. During the Second World War, Bessarabia experienced three Romanian vs Soviet re gime changes - in 1940, 1941, and 1944 -, which subsequently reordered power priori ties, altered the administrative system and remoulded institutional hierarchies. Moreover, the changes in the political regime intensified the wartime state of incertitude and insecu rity, imposed forced recruitment and war requisitions, which ultimately left the Bessarabian cities and villages without a workforce and within a state on the verge of famine. Regard less of their social and ethnic background, and often without any patriotic or ideological motivations, people like Alexandra Sherbakov wanted to secure for themselves and their families a safer place to live and survive during the war. Thousands of people from other contested East European borderlands suffered a similar fate. One of the merits of the vol ume, edited on the occasion of the 70 th anniversary commemorating the end of the war, is shifting the perspective towards individual stories. When placed together they help us “witness” and acknowledge individual tragedies in war brought to the contested East Eu ropean borderlands, as well as offer the opportunity to “transfer” these individual trage dies to the collective scale. The collection “Dezmebrarea României”, edited by the well-known Moldovan historian and lawyer Mihai Taşcă and the young Austrian historian Wolfram Niess, is a valuable com
pletion to the already published official Soviet and Romanian documents (43 documents reproduced again in the volume). These documents concern the eve of the Soviet occupa tion of Bessarabia and Northern Bukovina, which was a direct consequence of the Mol otov-Ribbentrop “bargain” of August 23 1940, over the status of East European regions. The extensive introduction (50-pages), is dedicated to the little-known topic concerning the state of mind of the Bessarabian and Bukovinian populations on the eve of the Soviet occupation. The collection culminates with important conclusions that question the “clas sical” clichés of the Romanian “nationalist” historiography, almost exclusively set up in the “occupation-liberation” paradigm, which has dominated the historiographical debates in the preceding decades. The authors emphasise that the Romanian state exaggerated in its insistence to tackle those who spread rumours on the possible war between Romania and the USSR, and that there were not necessarily Jews who “eagerly awaited” for the Soviets to arrive. There were rather people of different nationalities in a precarious economic situation, including Romanians who hoped for an improvement of their poor living conditions under the Soviets. The excessive repressions and mass killing of Jews that followed the entrance of the Romanian and the German troops in Bessarabia in June 1941 thus did not justify the “scapegoat” approach of the Romanian regime towards the Jews who had to “pay” for their “betrayal”, as expressed one year earlier. Nevertheless, the authors avoided showing
that the Jews themselves had plausible motives to express discontent in a moment of cri sis, because of economic “Romanianizadon”2 and social marginalisation they experienced in Romania during the 1930s. This can explain the fact that the great majority of citizens Südost-Forschungen 76 (2017) 405
1848-1989 who requested to evacuate from Romania to the USSR were ofJewish origin (i.e., doc. 19 contains the names of 1132 people, rejected by the Soviet commission on July 9, 1940). The questionable loyalty among the Bessarabian Germans, as well among the Russians and Ukrainians, manifested on the eve of the Soviet occupation, is explained by the “fail ure of the (re-)Romanianization of Bessarabia” (LIV). This is a plausible argument that one already find in the Western historiography of the mid-1990s, but which was, until re cently, rejected by Moldovan and Romanian historians. Another conclusion, relevant for the understanding of the dominant state of anxiety and fear among the population in the immediate period before the Soviet invasion of Bessarabia and Northern Bukovina, is that there were breaches in the Romanian administrative system, “incompatible with the real demands and needs of the population”. Moreover, the state did not trust its own citizens and would question their loyalty in wartime (LI). The latter idea is demonstrated by docu ments on the excessive security and conscription measures, as well as on the public service recruitment policy. The authors contribute to a “bottom-up” approach in the researching of the topic, whereas proposing to shift the focus from the states “needs” and “expecta tions” from its citizens towards the constantly changing citizen’s needs and their expecta tions from the state in both peace and wartime. The classification of documents in eight thematic chapters, which undoubtedly eases the work with sources, points toward
under-researched and therefore hardly discussed topics re lated to the 1940 regime change in Bessarabia and Northern Bukovina. Among them were the activities of the “Bessarabian Circle” in Bucharest, founded by the Bessarabian politi cal and social activists to facilitate the evacuation and integration of Bessarabian refirgees in other parts of Romania. Other chapters comprise documents that describe in great de tail the process of evacuation of Bessarabians across the Prut. According to some estima tions, during the first days of annexation, around 100.000 Romanians left the region, to them around 220.000 Bessarabians, of whom 62.000 were public employees, should be added.3 Between September 1940 and June 1941 the total number of refirgees was 4511, the great majority of them being of Romanian origin (LXXXVII). Among refugees were public servants and intelligentsia that were afraid of being charged with “betrayal”, and then deported by the Soviet regime. Nevertheless, it was worth mentioning that those who evacuated together with the Romanian army and administration comprised only a small portion of the population. The great majority of Bessarabians, including low-rank public servants, stayed in Bessarabia and most of them continued their duty under the Soviet re gime, and subsequently under the Romanian military regime in 1941-1944. Both regimes questioned their loyalty; based on well-known contributions on loyalty in the contested East European borderlands, one can conclude that the case of Bessarabia is a rather typi cal one, not an exception. The volume contains
extensive lists of refugees, as well personal requests for evacuation of those who could not evacuate during the occupation or immediately afterwards. It also includes those to whom the right to evacuate was rejected for various reasons, either by the Romanian or the Soviet commissions responsible for the regulation of eventual conflicts 406 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen during the border establishment process. The collection would gain from the inclusion, besides Romanian documents, of Soviet documents held in GARF (fonds P-7627 Sovetsko-rumynskaja technicheskaja kommisija, 28.06-22.11.1940),4 which would allow the reader to corroborate the information provided, especially related to the topic of robber ies of the refhgees’ goods and belongings, which apparently took place only at the Soviet border. Between September 1940 and June 1941, 540 persons crossed the Romanian-So viet border from Romania to Bessarabia. Based on the documents held in the Romanian as well the Soviet archives, they were also robbed, in this specific case, by the Romanians. Based on the documents provided in the volume, the reader might wrongly conclude that the border robberies were an exclusively Soviet “deed”; it was rather a characteristic of the wartime treatment of East European refhgees, regardless of the direction they were mov ing. In this regard, the abusive confiscation of grains and cattle from the local population during the retreat of the Romanian army - in 1940 and 1944 - and the Soviet army - in 1941 - documented in both archives, remains to be added. Based on the title of the volume, one would expect that the introduction, as well the list of documents, contained also sources on the simultaneous evacuation of the population from Northern Bukovina and the district of Herţa. This would complete the documentary basis for the region, as well give the reader the opportunity to compare and contrast the facts and data for both Bessarabia and
Northern Bukovina. Despite this and other above-mentioned observations, the collection of documents “Dezmembrarea României”5 should become an indispensable tool for academics and the larger public interested in wartime East Europe an history. It is especially valuable in regards to the topic of forced migration, its causes, and immediate as well as long-term consequences for the regions’ contested borderlands. Regensburg Svetlana Suveica 1 Doc. 49, Scrisoarea Alexandrei Şcerbacov din com. Bujărăuca, judeţul Soroca, în adresa Legaţiunii Regale a României, Moscova, 2 aprilie 1941, p. 851. 2 See, at large, Stefan Cristian Ionescu, Jewish Resistance to “Romanianization”, 1940-1944. Basingstoke, London 2015. 3 Sehe, Die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik während des Zweiten Weltkrieges (19411945), von Vladimir Solonari, in Die Republik Moldau. Ein Handbuch, Leipzig 2012, 90. 4 Some documents from this archival fund were published earlier by Ion Şişcanu, who also aut hored the preface of the present volume. 5 Whereas finishing the review, I was informed about another volume of documents with the sug gestive title, Dezrobirea Basarabiei: 22 iunie 1941 -23 august 1944, edited by Mihai Taşcă. Chisinau 2016, presented by the editor as a “continuation” of the volume reviewed above. Südost-Forschungen 76 (2017) 407
1848-1989 Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg. Griechische und deutsche Er innerungskultur. Hgg. Chryssoula Kambas / Marilisa Mitsou. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2015 (Griechenland in Europa. Kultur — Geschichte - Literatur, 1). 509 S„ 4 Abb., ISBN 978-3-412-22467-7, € 59,90 Verzweifelt singt der Herzog von Mantua in „Rigoletto“: „Oh wie so trügerisch sind Weiberherzen, mögen sie klagen, mögen sie scherzen [.]“. Schon dabei allerdings offen baren sich die interkulturellen Probleme, Sprachbilder übertragen zu wollen. Im Original ist nämlich nur von der Frau im Singular die Rede, die wie eine Feder im Wind ihre Meinungen ändert. Den Sprachbildern, Vorstellungen, Erinnerungen sowie bewegten und unbewegten Bildern widmet sich der anzuzeigende Sammelband, bei dem die interkulturellen Über tragungsprobleme deutlich werden. Zunächst trügen — oder besser verwirren - Titel, Unter titel und Teile des Inhalts, die nicht recht zusammenpassen wollen: „Die Okkupation Griechenlands im Zweiten Weltkrieg“ klingt nach einer Gesamtheit der drei in Griechen land agierenden Mächte während der Besatzungszeit, nämlich Deutschland, Bulgarien und Italien (bis 1943). Dies schließt ihre Streitkräfte, ihre militärischen und wirtschaftlichen Aufträge, ihre Regime, Methoden, Massaker und Grausamkeiten sowie das Schicksal der Besetzten gleichermaßen ein. Der Untertitel jedoch schränkt dieses Unterfangen zugunsten lediglich einer Besatzungsmacht sowie der Besetzten ein und variiert das Thema noch in Richtung Erinnerungskultur. In zwei der insgesamt 27 Beiträge werden dann
allerdings Italien und Bulgarien - zu Recht - doch wieder thematisiert. Zudem, dies machen Ein leitung sowie einige Beiträge deutlich, ist das Thema in Deutschland trotz einiger maß geblicher Publikationen bis zur Finanzkrise eher eine unbekannte Größe geblieben; Süd osteuropa galt als „Nebenkriegsschauplatz“. In Griechenland war und ist es gegenwärtig. Insofern ist es wichtig, richtig und begrüßenswert, wenn aus mehrfacher Perspektive in einem Sammelband Bilanz gezogen wird. Er geht aus einer Münchner Tagung aus dem Jahre 2012 hervor, deren Titel lautete: „Erinnerungskultur und Geschichtspolitik der Okkupation Griechenlands (1941-1944). Deutsch-griechisches Gedächtnis in Medien und Literatur“ (9). Nun weiß natürlich jeder und jede, der bzw. die vom Fach ist, wie schwierig sich die Akquise von Referenten für Tagungen und somit auch von Autoren für Sammelbände sowie das Finden eines geeigneten Titels ist, bei dem letztlich der Verlag das Sagen hat. Der Rezensent tut sich sehr viel leichter, hier klagend zu beckmessern. Herausgekommen ist im vorliegenden Fall ein hochinteressanter und facettenreicher bunter Strauß, der die Vielfalt der Erinnerungskultur zur Okkupation Griechenlands im 2. Weltkrieg auslotet und abdeckt. Er macht deudich, wie sehr sich die Erinnerungskulturen „wie eine Feder im Wind“ in beiden Ländern gewandelt haben: Für Deutschland ist hier bei die Zeit des Ost-West-Konflikts, die Epoche der zwei deutschen Staaten, die Wieder vereinigung und die sehr unterschiedliche Behandlung der NS-Vergangenheit zu nennen. Bemerkenswert ist die Darstellung, wie sehr
sich deutsche Offizielle u. a. des Auswärtigen Amts nach 1945 bemüht haben, in diese griechische Erinnerung einzugreifen, um für 408 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen die Bundesrepublik heikle Themen, so etwa Massaker, der Vergessenheit anheimfallen zu lassen bzw. sie mit Druck zu unterbinden. Dies wirft einen Blick auf die personellen Kontinuitäten vor und nach dem Krieg, auf bewusste Verleugnung oder Nicht-WahrhabenWollen. Griechenland erlebte eine Besatzungszeit dreier Mächte, gegen die mehrere Wider standsorganisationen agierten, durchlitt einen Bürgerkrieg, ein Militärregime und diverse firisen. Dabei wurden unterschiedliche Aspekte des Widerstands, des Völkermords und der Massaker, bei denen die Klage „bald fließen Tränen“ zu Recht gilt, im Wechsel hervor gehoben oder aber mit Vergessen gestraft. Auch die jüngsten bzw. aktuellen Spannungen mit dem beiderseitigen Aufgreifen von Stereotypen werden in dem Buch thematisiert. Der Sammelband gliedert sich nach der inhaltsreichen Einleitung „Zwei Gedächtnisse einer Ver gangenheit und ihrer Gegenwart“ der Herausgeber (9-28) in drei große Abschnitte: „Ge spaltene Erinnerungen“ (31-230) mit zwölf Beiträgen, „Erfahrungen der Okkupierten“ (233-350) mit sechs Aufsätzen, und schließlich .Aufarbeitung oder Gedächtnisausfall“ (353-493) mit neun Beiträgen. Den 1. Abschnitt „Gespaltene Erinnerungen“ leitet Hagen Fleischer mit seinem Bei trag „Vergangenheitspolitik und Erinnerung. Die deutsche Okkupation Griechenlands im Gedächtnis beider Länder“ (31 -54) ein. Einem aufmerksamen Lektorat hätte dabei auffallen können, dass es das „Militärgeschichtliche Forschungsamt“ (MGFA), an dessen Wertung Kritik geübt wird (46f.), seit 2013 gar nicht mehr gibt. Es firmiert als Zusammenschluss mit
dem „Sozialwissenschafflichen Institut“ (SOWI) seither unter dem Namen „Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaffen der Bundeswehr“ (ZMSBw) in Potsdam. Filippo Foccardi und Lutz Klinkhammer nehmen diesen Ball an und behandeln „Die italienische Erinnerung an die Okkupation Griechenlands“ (55-66). Polymeris Vogel analysiert die „Rückkehr der Vergangenheit. Die Erinnerung an den Widerstand in der politischen Kultur Griechenlands 1974-1989“ (67-84), also nach dem Ende des Militär regimes. Odette Varon-Vvsard widmet sich dem „Genozid an den griechischen Juden. Zeugnisse des Überlebens und Geschichtsschreibung seit 1948 (85-114). Diesen Faden greift Michael Lychounas auf und behandelt „Denkmalschutz und Geschichtsbewusst sein“ unter dem Titel „Von der Sichtbarkeit jüdischen Lebens im nordgriechischen Raum“ (115-128). Nadia Danova führt fort: Sie erforscht das „Schicksal der Juden im bulgarischen Machtbereich der Jahre 1941-1944“ (129-142). Nach diesen drei Aufsätzen zum Genozid an den Juden stehen die Massaker auf dem Programm. Anna Маша Droumpouki ana lysiert „Das posthum gespaltene Gedächtnis von Kalavryta. Die öffentliche Geschichtswahr nehmung des Massakers in der Nachkriegszeit“ (143-154). Constantin Goschler schließt mit „Distorno und die Globalisierung der Entschädigung. Vom griechischen Massaker ort zum europäischen Erinnerungsort“ (155-168) an. Dimitris Kousouris leitet mit „Kollaboration und Geschichtsschreibung in Griechenland“ (169-186) zu einem weiteren Aspekt der Erinnerung über. Eberhard Rondholz setzt mit „Konstellation Kalter Krieg. Forschung und
Geschichtspolitik zur deutschen Besatzung Griechenlands in der DDR“ (187-198) fort. Gregor Kritidis weist unter dem Titel „Überläufer. Deutsche Deserteure in den Reihen der griechischen Befreiungsbewegung“ (199-210) auf einen wenig beachteten Südost'Forschungen 76 (2017) 409
1848-1989 Themenkomplex hin. Andrea Schellinger schließlich behandelt „Erinnerungskultur und institutionelle Kulturmittler. Paralipomena zur Rezeption von Besatzung und Widerstand im Athener Goethe-Institut“ (211-230). Den 2. Abschnitt („Erfahrung der Okkupierten“) beginnt Fragiski Abatzopoulou, „Griechische Juden und ihre Verfolgung als Thema der griechischen Titeratur“ (233-252). Angela Kastrinaki setzt fort mit dem „Bild der Deutschen in der griechischen Nach kriegsliteratur. Ein Tauziehen politischer Kontrahenten“ (253-266). Panayiota Mini stellt die „Okkupation Griechenlands im griechischen Kino“ (267-284) vor. Ulrich Moennig widmet sich unter dem Titel „Wie siamesische Zwillinge“ dem Thema „Widerstand und Bürgerkrieg in der griechischen Nachkriegsliteratur“ (285-310). Das heikle Thema der einheimischen Helfer erforscht Athanasios Anastasiadis, „Nicht die Deutschen, unsere eigenen Leute. Kollaborations-Diskurse in der Literatur der Nachgeborenen“ (311-328). Die deutsche Erinnerung an zwei Beispielen analysiert Chryssoula Kambas „Deutsche Kriegsbesatzung auf Kreta und Leros im postmodernen deutschen Roman“ (329-350). Den 3. Abschnitt „Aufarbeitung oder GedächtnisausfaU“ beginnt Miltos Pechlivanos mit seinem Beitrag „Zum historischen Gedächtnis der Geisteswissenschaften. Die deutsche Neogräzistik und die Okkupation Griechenlands“ (353-372). Volker Riedel greift das Motiv mit „Die deutsche Besatzung Griechenlands im Werk Franz Führmanns“ (373-390) auf, und Helga Karrenbrock setzt es mit „Erhärt Kästners Griechenland“ (391-398) fort; Nafsika Mylona schließt sich mit
„Delfi und der,Mythos des Nationalsozialismus“. Politisch-religiöse Implikate in Franz Spundas und Erhard Kästners Ortsbeschreibungen“ (399-408) an. Werner Liersch gibt seinem Beitrag zu „Erwin Strittmatters Einsatz in der Ägäis und sein Nachkriegsrealismus“ den Obertitel „Geleugnete Wahrheit“ (409-420). Die Thematik der deutschen Literaten nimmt Chryssoula Kambas auf: „Junge Dichter als Soldat. Die Besatzung Griechenlands bei Walter Hollerer und Michael Guttenbrunner“ (421 -452). Maria Biza setzt sie mit „Übersetzte Zyklen von Jannis Ritsos. Ein Beitrag zum deutschen Gedächtnis an Okkupation und Widerstand“ (453-466) fort. Dem schließt sich Walter Fahnders mit „Erasmus Schöfers Roman ,Tod in Athen““ (467-480) an. Martin VÖhlers Beitrag „Die Ägäis als Denkraum Erich Arendts“ (481-493) schließt den 3. Ab schnitt und somit den Band. Der Sammelband behandelt umfassend so vielfältige Aspekte und ermöglicht damit weitgehende Einblicke - die angesichts einer knappen Zeichenzahl gar nicht alle gewürdigt werden können —, dass es schwer fällt, nun ausgerechnet einen nur angerissenen Aspekt als eher fehlend hervorzuheben. Neben dem Geizen mit Karten betrifft dies den „leichten Sande“, auf dem das Konzept der Erinnerungskultur aufgebaut ist. Die Fragen nach den realen militärischen Aufträgen der Deutschen, nach dem Charakter ihrer Herrschaft und nach dem Partisanenkrieg selbst bleiben unterbelichtet. Folglich schleichen sich in einigen Fällen in die Bewertungen lediglich schwarz-weiße Konturen der vorgeblich scharfen Gegensätze Besatzung - Kollaboration - Widerstand, Täter - Opfer
und Revisionismus — Anerkennung der Schuld ein. Gab es dazwischen wirklich keine Grauschattierungen? Möglicherweise wurde in der Erinnerungskultur genau damit gearbeitet, aber in einer 410 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen wissenschaftlichen Behandlung sollte derlei thematisiert und wenn möglich überwunden werden. Die Klage des Herzogs von Mantua endet: „Doch bittre Reue wird der empfinden, der nur an eine sich fest will binden“. Potsdam Harald Potempa Sándor Horváth, Stalinism Reloaded. Everyday Life in Stalin-City, Hungary. Übers. Thomas Cooper. Bloomington/IN: Indiana University Press 2017. X, 298 S., zahir. Abb. und Kt., ISBN 978-0-253-02681-1, US-$ 22,35 Die Késdobáló Bar, untergebracht in einer Baracke in der ungarischen Modellstadt des Sozialismus, Sztálinváros, muss ein Trinkerparadies gewesen sein: Am Nachmittag war die Kundschaft schon schwer illuminiert und ließ sich auch von den Ordnungshütern nicht mehr unter Kontrolle bringen. Passanten mussten sich Beleidigungen anhören oder wurden gar tätlich angegriffen. Schlägereien waren an der Tagesordnung, wobei die unterliegenden Raufbolde zum Fenster hinaus in den Hinterhof expediert wurden, damit die anderen sich wieder dem Suff hingeben konnten - Getränk der ersten Wahl war damals, Anfang der 1950er Jahre, Bier mit Rum. Mitte der 1950er Jahre gelang es der Stadtverwaltung, diese berüchtigte Kneipe zu schließen, aber vergleichbare Lokalitäten unkontrollierten Alkohol konsums blieben eine Dauererscheinung in der Musterstadt. Während der distinguierte Bürger des Sozialismus zum Fünfuhrtee ins gepflegte „Goldener Stern“-Hotel ging, suchten die ungelernten Arbeiter (und Nicht-Arbeiter) zu ihrem Freizeitvergnügen Orte auf, die so gar nicht den Vorstellungen der kommunistischen Machthaber von einer „kultivierten“ Lebensweise
entsprachen. Sándor Horvaths Untersuchung des Alltagslebens in Sztálinváros, der nach dem 2. Welt krieg nach sowjetischem Vorbild errichteten Modellstadt des Sozialismus in Ungarn, ist voll von solchen Einblicken in die Ambivalenzen des alltäglichen Lebens während der ersten Dekade des Staatssozialismus. Das vorliegende Buch ist die von den des Ungarischen Un kundigen sehnlichst erwartete englische Version der an der ELTE verteidigten Dissertation des Autors, wobei es sich nicht „bloß“ um eine Übersetzung, sondern eine weitgehend revidierte Version der ursprünglichen Publikation handelt.1 Um es vorweg zu nehmen: Horváth ist eine meisterhafte und mustergültige historische Ethnographie des Staatssozialis mus geglückt. Diese bietet nicht nur eine sehr dichte - und immer wieder unterhaltsame Beschreibung des alltäglichen Lebens in einer mittelgroßen Stadt, sondern kann mit wesent lichen analytischen Einsichten in die Systemqualität des Stalinismus in Ungarn aufwarten. Am Beispiel von Sztálinváros zeigt sich erneut die Produktivität der historischen Linse auf sog. „sozialistische“ Städte, also Planstädte, die im Zuge der forcierten Industrialisierung sowie als Inkubatoren des „Neuen Menschen“ erbaut worden sind; vergleichbare Arbeiten Südost-Forschungen 76 (2017) 411
1848-1989 existieren über das sowjetische Magnitogorsk von Stephen Kotkin2 und das polnische Nowa Huta von Katherine Lebow3. Das besondere Verdienst von Horváth ist, nicht nur die realen Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Ambivalenzen des Versuches der konkreten Realisierung kommunistischer Utopie aufzuzeigen, sondern anhand dieses besonderen Falles Rückschlüsse auf die allgemeinen Charakteristika das Staatssozialismus ungarischer Prägung zu ziehen. Der Untersuchungszeitraum reicht dabei von 1950 bis 1961, als die Stadt in Dunaújváros umbenannt wurde und eine neue Zeit, nicht nur im Namen, an brach, nämlich der sog. „Gulaschkommunismus“. Das dem Buch zugrunde liegende Narrativ ist nicht chronologisch organisiert, sondern nach jenen zentralen Problemen, bei denen staatliche Gestaltungsversuche mit sozialen Praktiken kollidierten und daher in jeweils unerwarteten Ergebnissen mündeten. Die alltäglichen Handlungsmuster reichten von Aneignung der offiziellen Vorgaben, über Versuche der Evasion und Ignorierung bis hin zu Subversion. Diese Hauptthemen sind „Identitäten“, „Beziehungen“ und „Hierarchien“. In jedem der drei Felder werden jeweils verschiedene konkrete Handlungsfelder und soziale Räume erörtert, die für das alltägliche Leben ebenso wie das politische Handeln von Bedeutung waren. So liest man im Themen komplex „Beziehungen“ von Familie, Abtreibung und Scheidung. Der Leser wird somit bis in das Intimleben der Bewohnerinnen und Bewohner von „Stalin-Stadt“ geführt, aber im übertragenen Sinne - auch in das Intimleben der lokalen Parteikomitees und der Stadt behörden.
Deren Problemwahrnehmungen und Gestaltungsversuche vor dem Hintergrund der dominanten ideologischen Botschaften ihrer Zeit werden vom Autor detailliert ge schildert und interpretiert. Die besondere Plastizität der Darstellung rührt dabei von der gekonnten Verwebung individueller Schicksale, sozialhistorischer Daten, politischer Ent scheidungsfindungsprozesse und analytischer Reflexionen. Die einzige Leerstelle ist das Thema Arbeit, was insofern überrascht, als Arbeit nicht nur generell Kern der Vergesellschaftung im Staatssozialismus darstellte, sondern der Ort der Handlung, also Sztálinváros, als Schauplatz sozialistischer (Industrie-)Arbeit konzipiert war. Arbeit ist für eine Reihe der hier verhandelten Fragen - wie Identitäten, Mythologien und soziale Segregation ֊ von hervorragender Bedeutung gewesen, weshalb sich gerade an ihr die komplexen, von „unten“ ebenso wie von „oben“ erzeugten Dynamiken der Produktion des realexistierenden Stalinismus zeigen ließen. Andererseits ist diese Selbstbeschränkung des Autors nachvollziehbar, denn die Integration der Sphäre der Ökonomie hätte das Material für das Buch wohl endgültig unüberschaubar gemacht. Abgesehen von dieser einen, wesentlich den thematischen Vorlieben des Rezensenten geschuldeten Kritik, kann das Buch nur gelobt werden. Horváth gelingt es zu zeigen, dass die Geschichte der Stadt ganz wesentlich von ihren „normalen Leuten“ geprägt wurde: Arbeiter und Faulenzer, Trunkenbolde und Prostituierte, Männer und Frauen, lokale Büro kraten und örtliche Parteikader. Sie fanden sich verwoben in komplexen Aushandlungs
mechanismen. Diese führten einerseits dazu, dass die Ergebnisse der Politik niemals ihren Intentionen entsprachen, andererseits aber Politik und Ideologie auch immer in den sozialen Handlungsfeldern präsent waren. Auf einer soliden empirischen Basis weist Horváth die 412 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Vorstellung einer klaren Trennung von „Staat“ und „Gesellschaft“ zurück - sie müssen als stets ineinander verwobene, aufeinander bezogene Kategorien gedacht werden (3). Die „einfachen“ Menschen konnten die konkreten Formen des Stalinismus mitformen, gleich zeitig formierte der Stalinismus ihre Handlungsmöglichkeiten und -beschränkungen. Eines der überraschenden Ergebnisse der Untersuchung ist, dass gerade dieses Ineinandergreifen dem Stalinismus eine gewisse Flexibilität ermöglichte, so dass sich auf der Ebene des All tags über das Jahr 1953 hinaus mehr Kontinuitäten als Brüche zeigen. Der Autor bleibt allerdings eine genaue Definition von Stalinismus schuldig - wahrscheinlich hätte er genau so gut von „frühem Staatssozialismus“ sprechen können. Ein Thema, das die gesamte Untersuchung durchzieht, ist die Frage der sozialen Un gleichheit. An unterschiedlichen Beispielen - sei es die Frage, wo man seine Freizeit ver bringt, Kriminalität oder die Nutzung moderner Verhütungsmittel - kann Horvath die Persistenz bzw. Neukonstituierung sozialer Ungleichheit aufzeigen. Die „feinen“ Unter schiede verschwanden im Sozialismus nicht: Während die einen sich mit Rum-Bier besoffen (siehe oben), tranken sich die anderen mit Weißwein einen feinen Schwips an. Die Politik der Partei trug wesentlich zur (Re-)Produktion sozialer Hierarchien bei, teilweise bewusst, teilweise unbewusst. Wenn z. B. eine rigide offizielle Sexualmoral zwischen legitimer und illegitimer Sexualität unterschied, führte dies zur Produktion von Devianz qua Sexual verhalten. Auch in der räumlichen
Gestaltung der Stadt spiegelten sich dominante Vor stellungen in Bezug auf die funktionale Bedeutung einzelner sozialer Gruppen wider. Die Instrumentalisierung traditioneller gesellschaftlicher Vorstellungen über Status und Prestige durch den Staat gehörte zu den Faktoren, warum die stalinistische Ordnung eine gewisse Legitimität genoss. Es scheint, als ob die Verwirklichung der kommunistischen Utopie letztlich im Versuch einer kleinbürgerlichen Idylle gemündet hat, deren Verwirklichung wiederum stets an den ökonomischen Knappheiten scheiterte. Positiv gewendet ist die Studie von Sándor Horváth ein bestechendes Beispiel für die Hartnäckigkeit sozialen Eigensinns, an dem sich selbst ein totalisierender Staat die Zähne ausbeißt. Auch angesichts aktueller autoritärer Tendenzen in Osteuropa mag es beruhigend erscheinen, dass ideologische Borniertheit und staatliches Umgestaltungsbedürfnis ihre Grenzen im Alltag finden. Horvaths exzellentes Buch sei daher allen ans Herz gelegt, die das Funktionieren des östlichen Europa und natürlich insbesondere des Staatssozialismus besser verstehen wollen. Regensburg Ulf Brunnbauer 1 Sándor Horváth, A kapu és a határ. Mindennapi Sztálinváros. Budapest 2014. 2 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley/CA 1995. 3 Katherine Lebow, Unfinished Utopia. Nowa Huta, Stalinism, and Polish Society 1949-56. Ithaca/NY 2016. Siidost-Forschungen 76 (2017) 413
1848-1989 Georg Herbstritt, Entzweite Freunde. Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989. Göttingen: Vandenhoek Ruprecht 2016 (Analysen und Dokumente der BStU, 47). 582 S., 32 Abb., 11 Tab., ISBN 978-3-525-35122-2, € 40,Der Begriff der „Freundschaft“ war ein zentraler Baustein kommunistischer Rhetorik: Die 1946 gegründete FDJ benutzte den „Freundschaftsgruß“, die Gesellschaft für DeutschSowjetische Freundschaft wurde bereits 1949 gegründet und gehört damit zu den ältesten politischen Massenorganisationen der DDR, und „freundschaftlich verbunden“ war die DDR zumindest nach offizieller Lesart mit allen sozialistischen Ländern und wurde nicht müde, diese angebliche enge Verbundenheit auch zu zelebrieren. Der oft karikierte Bruder kuss zwischen Breschnew und Honecker gehört in die lange Reihe der offiziösen „unver brüchlichen“ Freundschaftszeichen. Dass diese Freundschaft zu den Gründungsmythen der DDR gehörte und weitgehend „erfunden“ war, ist inzwischen von der Fachliteratur aufgegriffen worden.1 Georg Herbst ritt hat nun im Herbst 2016 eine sehr umfassende Darstellung des Verhältnisses zwischen dem rumänischen Geheimdienst Securitate und dem Ministerium für Staatssicherheit vor gestellt: „Entzweite Freunde“. Wie der Titel suggeriert, war das Verhältnis zwischen beiden kommunistischen Satellitenstaaten unmittelbar nach deren Gründung zunächst gut, be vor es ab etwa 1964 einen einschneidenden Wandel erfuhr. Nachdem die Rumänische Kommunistische Partei erklärt hatte, einen eigenen, nationalen Weg zum Kommunis mus zu gehen, lockerte sich auch die
Verbindung zwischen den beiden Geheimdiensten und brach 1973 weitgehend ab. Einen verlässlichen Informationsstrom in die eine wie die andere Richtung gab es nicht mehr, Partei- und Staatsführung wie auch der jeweilige Geheimdienst gingen auf Distanz zueinander; die Geheimdienste vollzogen die gegenseitige Abwendung voneinander konsequenter als die Partei- und Staatsführungen sowie andere Institutionen beider Länder. Der Untertitel „Rumänien, die Securitate und die DDR-Staatssicherheit 1950 bis 1989“ präzisiert und erweitert Herbstritts Perspektive erheblich. Herbstritt ermöglicht auf der Basis von Unterlagen und Dokumenten beider Geheimdienste weitreichende Einblicke in die rumänische Gesellschaft. Dass Herbstritt Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen ist, weist ihn als exzellenten Kenner der Materie bereits aus und wird in dieser Arbeit noch einmal bestätigt. Dabei versteht er es, gleichsam informativ und unterhaltend die Dokumente vorzustellen. Die knapp 600 Seiten umfassende Darstellung ist die Neufassung der 2005 in rumänischer Sprache gemeinsam mit dem Bukarester Historiker Stejärel Olaru erschienenen Arbeit „Stasi und Securitate“. Während diese Vorläuferarbeit jedoch allein auf Dokumenten des MfS be ruhte, konnte Herbstritt nun auch in großem Umfang Akten der Securitate einsehen und das Verhältnis beider Staaten, Geheimdienste und Gesellschaften beschreiben und mitei nander vergleichen. Für den Leser - Zeitgeschichtler ebenso wie interessierte Laien - er gibt sich ein dichtes Bild, reich an strukturellen
Erkenntnissen und angereichert mit zahl reichen Fallbeispielen. 414 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Die sieben Kapitel der Arbeit folgen den drei Phasen im Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Rumänien: 1949 bis 1964 als Phase der planmäßigen Zusammen arbeit, gefolgt von der zunehmenden Distanzierung zwischen 1964 und 1973 und der ab schließenden vollkommenen Isolierung beider Sicherheitsinteressen ab 1973 bis zum Um bruch in beiden Staaten Ende 1989. Dass sich der rumänische Geheimdienst schon unmittelbar nach Gründung der DDR in Ost-Berlin eine legale Residenz schuf und in Ost- wie Westdeutschland agierte, überrascht nicht, bestätigt aber das Bild Berlins als Drehscheibe internationaler Geheimdienste. Die Bedeutung aus Rumänien stammender Spione zwischen Ost und West wie beispielsweise die Siebenbürger Sächsin „Gerda“ ist dabei hochspannend beschrieben. Das umfangreichste Kapitel ist das 2., das sehr differenziert die Abwendung der Rumänen von der auf die Sowjetunion und das östliche Bündnis ausgerichteten Politik beschreibt und die entsprechenden Auswirkungen auf die Aktivitäten der Staatssicherheit im Detail belegt. Auf insgesamt 130 Seiten trägt Herbstritt Dokumente der Securitate und Staatssicherheit sowie Akten anderer Provenienz aus den Jahren zwischen 1964 und 1989 zusammen - und zieht oftmals aus den Lücken in der Dokumentation aussagekräftige Schlüsse. Dabei spiegeln diese Dokumente das Leben der Bevölkerung in beiden kommunistischen Staaten eindrucksvoll wider, auch die vereinzelten Kontakte oppositioneller Gruppierungen auf beiden Seiten und aus beiden deutschen Staaten untereinander. Die Kapitel 4-7 widmen sich den für die
Geheimdienste besonders interessanten Gruppen, bspw. der deutschen Minderheit in Rumänien oder DDR-Touristen in Rumänien und deren Beschattung sowie den Flüchtlingen, Emigranten und Auswanderern aus dem Rumänien der 1970er und 1980er Jahre. Namen wie der der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller sind hier wiederholt zu finden. Auch zahlreiche andere bekannte rumänien deutsche Schriftsteller und Germanisten aus dem Banat und Siebenbürgen finden hier Er wähnung, ebenso führende offizielle Vertreter der deutschen Minderheit wie Eduard Eisen burger, Ernst Breitenstein und Nikolaus Berwanger. Herbstritts Arbeit bereichert und erweitert die vergleichende Totalitarismus-Forschung um ein erhebliches Stück. Nicht nur im Sinne einer akribischen Auswertung von geheim dienstlichen Dokumenten, sondern gerade auch der offensichdichen Lücken. Dabei gibt es immer wieder Überraschungsmomente, so wenn Herbstritt beschreibt, dass die Rumänen nach Erkenntnissen der Staatssicherheit Anfang der 1970er Jahre selbst einen kleinen Frei kauf DDR-deutscher Flüchtlinge in die Bundesrepublik in Gang gebracht hatten, bevor die DDR auf Drängen der Staatssicherheit hin Rumänien Ende 1972 vertraglich auf eine Beendigung dieser Praktiken verpflichtete. Herbstritt nennt seine Arbeit „Entzweite Freunde“, aber seine Darstellung geht weit über die bilateralen Beziehungen hinaus und eröffnet den Blick auf eine vergleichende Betrachtung der geheimdienstlichen Politik angrenzender Ostblockstaaten, vornehmlich Ungarns und Bulgariens. Nun drängt sich zwingend die Frage auf, wie diese Geheimdienste in den
vier Jahrzehnten ihres Bestehens zusammengearbeitet haben und wie ihr Verhältnis zu den geheimdiensdichen und politischen Vorgaben der KPdSU aussah. Südost-Forschungen 76 (2017) 415
1848-1989 Georg Herbstritt spricht mit dieser Arbeit zwei Interessengruppen an: das fachwissen schaftliche Publikum wie auch interessierte Laien. Die einen werden von der parallelen Dar stellung von MfS und Securitate und der umfassenden Wiedergabe zahlreicher Dokumente profitieren, die anderen von den vielfältigen Einblicken in die rumänische Alltagsgesellschaft: des Kalten Kriegs bis hin zum Wendejahr 1989. In jedem Fall ist „Entzweite Freunde“ ein außerordendich lesenswertes Buch. Berlin Rahel Frank 1 Jan C. Behrends, Die erfundene Freundschaft. Propaganda für die Sowjetunion in Poien und in der DDR (1944-1957). Köln 2005. Cornel Crăciun, Cineaşti români al deceniului şapte în revista „Cinema“ [Rumäni sche Cineasten der Sechziger Jahre in der Zeitschrift „Cinema“]. Sibiu: Editura Techno Media 2013. 392 S., ISBN 978-606-616-101-5, € 28,Die wiederholten Erfolge junger rumänischer Regisseure seit den 2000er Jahren auf französischen und deutschen Filmfestivals und die Etablierung einer landesspezifischen Filmrichtung, der „Romanian New Wave“ war nicht nur fur die internationale Filmszene eine gehörige Überraschung. ObwohL die Anfänge des rumänischen Films dank Über nahme französischer Technik auf das 19. Jh. zurückgehen - die erste Produktion datiert auf 1897, einer der ersten Historien-und Langfilme entstand 1912 („Independenţa României“; Aristide Demetriade) -, erreichten Regisseure und Schauspieler erst in den 1940er („O noapte furtunoasă“; Jean Georgescu, 1943) und 1950er Jahren („La Moara cu noroc“; Victor Uiu, 1955) ein ansprechendes filmkünstlerisches Niveau. Die
sozialistische Periode besorgte zwar eine starke technische Modernisierung, unterwarf die Filmschaffenden aber freilich den parteidiktierten Kunst- und Denkformen. Waren die 1950er und 1960er noch stark vom stalinistischen sowjetischen Kino geprägt, verfiel die rumänische Filmschule in den 1970ern zunehmend zu einer Artikulationsplattform nationalkommunistischer Ideo logie; eine „Nouvelle Vague“ wie in anderen Ostblockstaaten und insbesondere in der Tschechoslowakei, wo bedeutende Meilensteine der Filmgeschichte entstanden, entwickelte sich nicht. Die hieraus resultierende Erstarrung der Kunstformen in den 1980ern blieb bis Ende der 1990er Jahre prägend: Die maßgebenden Regisseure dieser Zeit disqualifizierten sich mit wenigen Ausnahmen bei internationalen Wettbewerben mit ihrem teils konfusen, teils trivialen und überholten Filmverständnis. Diese Sackgasse der Filmgeschichte wurde von der jungen, in den 1970er und 1980er Jahren geborenen Generation von Filmschaffenden schließlich überwunden. Während Geschichts- und Literaturwissenschaft sich noch nicht von nationalistischen Narrativen ge416 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen löst hatten, unternahmen sie mit Erfolg die „Demythologisierung“ der Vergangenheit und eine schonungslose, bisweilen auch überzeichnet wirkende Gegenwartsdarstellung durch einen dokumentarischen, minimalistischen Realismus. Der hohe Bedarf an Vergangenheits bewältigung bei zugleich solider filmischer Ausbildung sowie ein hohes Maß einer von na tionalistischen Diskursen distanzierten Kreativität machten diesen Fortschritt möglich. Die internationale Filmszene honorierte dies mit der „Entwicklungshilfe“ regelmäßiger Film förderungen und Auszeichnungen und unterhält - freilich nicht zu Unrecht — einen bis heute fortdauernden Hype um den neuen rumänischen „Ostfilm“. Diese gesteigerte Aufmerksamkeit manifestiert sich in einer höheren Zahl an film geschichtlichen Publikationen wie dem hier besprochenen Band, der Beiträge der damals in Rumänien wichtigsten Filmzeitschrift „Cinema“ aus den 1960er Jahren zu Filmschaffenden enthält. Crăciun präsentiert ausgewählte, meist zwei- bis vierseitige Interviews und Artikel je kapitelweise von und über Regisseure, Drehbuchautoren, Kameramänner und Film techniker. Mit wenigen Ausnahmen - jeder Interessierte am rumänischen Film wird Sergiu Nicolaescu vermissen - kommen dabei die Koryphäen dieses Jahrzehnts zu Wort, darunter Regisseure wie Liviu Ciulei, Victor Iliu, Lucian Pintilie, Ion Popescu Gopo oder der be deutende Drehbuchautor Titus Popoviči. Beim Lesen der Texte ֊ für deren Auswahl der Herausgeber im kurzen Vorwort kein Konzept oder Kriterium angibt - wird einerseits rasch deutlich, dass diese nur für be wanderte
Kenner der jeweiligen Filme als auch der rumänischen Filmgeschichte verständ lich sind - ohne Vorkenntnisse ist den zahlreichen Bezugnahmen und Zitaten kaum zu folgen. Andererseits tut sich auch ein Filmhistoriker schwer damit, sich aus den Beiträgen neue Perspektiven zu erschließen: Zu unkritisch, zu ideologiereferentiell, zu sozialistisch korrekt sind die meisten Stellungnahmen der Interviewten als auch die Fragen der inter viewenden Journalisten. Ein Beispiel bietet der Regisseur Lucian Bratu: „Die größte Persön lichkeit, welche die Sache des Volkes und dessen Revolution vertritt, ist Lenin“ (65). Die für damalige offizielle Diskurse typische „limba de lemn“ (Holzsprache) durchdringt auch hier unübersehbar den Diskurs. Hinsichtlich Paul Cälinescus, der während des Krieges einen faschistischen und 1946 einen monarchistischen Propagandafilm gedreht hatte und im Stalinismus aufgrund seiner unverzichtbaren Erfahrung als Filmexperte vom Regime re habilitiert wurde, erfährt der Leser im betreffenden Artikel (80f.) nichts weiter außer seiner offiziellen Biographie. Überraschend ist all das nicht, da es sich bei „Cinema“ um eine gleichgeschaltete Zeitschrift handelte, die ebenso wie die Filme einer besonders strengen Parteiaufsicht unterworfen wurde: Dem Film kam im Sozialismus eine wichtige Rolle in der Pädagogik zur Schaffhng des „neuen Menschen“ zu. Die Regisseure und Drehbuch autoren adressierten ihre Filme daher in erster Linie an die Partei, welche diese meist mehreren Zensurdurchgängen unterzog. Offizielle Publikationen wie die Parteizeitungen gaben dabei
gewissermaßen Gebrauchsanweisungen für Filmkritiker und für die Öffentlich keit ab, wie der jeweilige Streifen zu rezipieren war. Die Rezeption in „Cinema“ entschied dabei in der Regel über den Erfolg und weiteren Verlauf der Karriere eines Filmemachers. Über allem lag allerdings die Meistererzählung, dass das Regime eine insgesamt international Südost-Forschungen 76 (2017) 417
1848-1989 herausragende Filmindustrie finanzierte. Die Texte, die von Cornel Crăciun überdies nicht kommentiert werden, bieten somit dem Filmhistoriker - der diese teilweise ohnehin bereits kennen dürfte — kaum neue filmgeschichdiche Erkenntnisse, obwohl gerade dies im Vor wort versprochen wird: eine „Perspektive der Evolution ,in Aktion“1 der Filmschaffenden, wogegen das äußerst nützliche biographische Lexikon „1234 cineaşti români“1 als steriler und systematisierender „Insektenkasten“ („insectar“) bezeichnet wird. Die in anscheinend ständiger Sorge und Beachtung der totalitären Zensur entstandenen Texte bieten sich somit eher für einen diskursanalytischen Zugang zur Darstellung des Films durch das Regime an. Dem an einer kritischen Filmgeschichte interessierten Leser seien eher Memoiren wie etwa das geheime Tagebuch von Alexandru Tatos2 empfohlen. Zur Qualität der Edition ist überdies anzumerken, dass die Texte, die direkt nach den „Cinema“-Ausgaben abgetippt wurden, äußerst zahlreiche Tippfehler aufweisen. Leider verfügt der Band über kein Register. Verwiesen sei noch darauf, dass Cornel Crăciun parallel zum vorliegenden einen weiteren seitenstarken Band zu Schauspielern als eine weitere Publikation vorlegte.3 Regensburg Albert Weber 1 Bujor T. Rîpeanu / Cristina Corciovescu, 1234 cineaşti români. Ghid bio-filmografic. Bucureşti 1996. 2 Alexandru Tatos, Pagini de jurnal. Bucureşti 2010. 3 Cornel Crăciun, Actori români ai deceniului şapte în revista „Cinema“. Sibiu 2013. Ulrike Schult, Zwischen Stechuhr und Selbstverwaltung. Eine Mikrogeschichte sozia ler Konflikte in
der jugoslawischen Fahrzeugindustrie 1965-1985. Münster, Boston/ MA: LIT Verlag 2017. 358 S„ ISBN 978-3-643-13690-9, € 59,90 Nach einer bis in die 1980er anhaltenden Faszination für das Phänomen der jugo slawischen Selbstverwaltung seitens der jugoslawischen und westeuropäischen Industrie soziologie kam die Arbeitsforschung dieser Region zeitgleich mit dem postulierten „Ende der Geschichte“ zum Erlahmen. Südosteuropa ist hier kein Einzelfall1; bedingt durch Krieg und der damit verbundenen Konjunktur von Nationalismusforschung kam es allerdings zu einer zusätzlichen Verspätung des historiographischen Interesses an Arbeitern und Arbeiterinnen im jugoslawischen Sozialismus, die erst in den letzten Jahren aufgeholt wird.2 Ulrike Schult greift in ihrem Buch die beiden zur Legitimierung des jugoslawischen Staats systems wesentlichen Idealtypen ,Arbeiterselbstverwaltung“ und ,Arbeiterklasse“ auf und dekonstruiert sie in ihrer praktischen Widersprüchlichkeit und internen Fragmentierung. Zur Analyse der sich daraus ableitenden sozialen Konflikte bieten sich Mikrostudien auf der Betriebsebene an. Schult wählt mit dem Industriekomplex „Zavodi Crvena zastava“ im 418 Südost-Forschungen 7б (2017)
Rezensionen serbischen Kragujevac und „Tovarna avtomobilov in motorjev (ТАМ)“ im slowenischen Maribor zwei Großbetriebe aus derselben Branche - dem Fahrzeugbau. Sie leistet damit auch einen Beitrag zur historiographischen Fundierung dieses emblematischen sozialistischen Produktionszweiges, der in den letzten Jahren immer wieder von den Sozialwissenschaften aufgegriffen wird.3 Beides sind Großunternehmen - 6 000 Beschäftigte in ТАМ und 25 500 Beschäftigte in Zastava (1970) — und stellen die größten Unternehmen in den jeweiligen Städten. Den Untersuchungszeitraum wählt Schult von der Wirtschaftsreform 1965 bis in die tiefe Wirtschafts- und Legitimationskrise der jugoslawischen Arbeiterselbstver waltung 1985. Die Betriebsarchive bilden die Grundlage der mikrohistorischen Untersuchung. Leider hat die Autorin zwar Zugang zum zentralen Archiv der Zastava-Werke, das alle Unter lagen zur Gesamtbetriebsebene umfasst, aber nicht zum Archiv des größten Betriebsteils, der Autofabrik Zastava. Die Autorin wählt als Ausweichbestand das Archiv des Betriebs teils Zastava-Nutzfahrzeugfabrik. Das ist einerseits aus Gründen des Prestiges des für die Produktion der Yugo-Serie bekannten Betriebsteils bedauerlich, verstärkt aber sogar die Vergleichbarkeit mit dem slowenischen Betrieb. Leichter gestaltet sich der Zugang zum Werksarchiv der ТАМ, allerdings enthält er kaum Protokolle von Sitzungen des zentralen Arbeiterrats. Eine wesentliche Bedeutung kommt den Fabrikszeitungen zu, die für Schult einen „beobachtbaren Teil der offiziellen Betriebsöffentlichkeit“ (31) darstellen. Zudem konsultiert
sie die Archive der Massenorganisationen und des Gerichts der vereinten Arbeit. Zur Fokussierung der sozialen Konflikte innerhalb der Belegschaft greift Schult wesendich aufAlfLüdtkes Konzept von „Herrschaft als sozialer Praxis“ (15) zurück, in welchem Macht nicht bipolar gedacht wird, sondern als Kräffefeld, in dem alle Akteure über gesonderte Ressourcen verfügen. Konzeptuell bezieht sie sich in ihrer besonderen Thematisierung formaler und informaler Interessensdurchsetzung auf Thomas Welskopps Beschreibung des Betriebs als „soziales Handlungsfeld“ und als „Doppelwirklichkeit“ (17). Die sozialen Konflikte, die Schult untersucht, beziehen sich vor allem auf die Interessens vertretung in der Selbstverwaltung und auf die Verteilung von Lohn und Wohnraum. Im 1. Analysekomplex widmet sich die Autorin den formalen Wegen die Interessen in diesen Be reich durchzusetzen, wobei „formal“ den Rahmen der Selbstverwaltung bezeichnet. Sie stellt fest, dass qualifiziertes Personal in Produktion und Verwaltung durch eine starke Vertretung in den Massenorganisationen und in den Selbstverwaltungsgremien begünstigt war. Frauen, Migranten und Niedrigqualifizierte hingegen waren in diesen Gremien unterrepräsentiert. Man muss dieser Arbeit zu Gute halten, dass neben der Arbeiterselbstverwaltung bisher wenig erforschte Gremien einer Untersuchung unterzogen werden: die Arbeiterselbstver waltungskontrolle und Gerichte der vereinten Arbeit. Beide Organe sollten ab den 1970er Jahren die Arbeiterselbstverwaltung „in einem normativen System, das die Diflüsion von Verantwortung begünstigte“ (131)
legitimatorisch festigen. Schult konstatiert allerdings, dass auch die Kontrollorgane die sozialen Benachteiligungen nur repetierten. Rhetorische Anerkennung, wie etwa in den Betriebszeitungen, sollte zum Teil diese Ungleichheiten kompensieren und damit stabilisieren. Südost-Forschungen 76 (2017) 419
1848-1989 Neben den formalen Wegen konnten die Arbeiter und Arbeiterinnen auf eine Palette in formeller Praktiken wie klientelistischer Praktiken, Fluktuation und Toleranz von Disziplin übertragungen zurückgreifen. Diese beschreibt Schult im 2. Analysekomplex des Buches. Sie zeigt, dass auch der Zugang zu informellen Praktiken ungleich verteilt war und sie so nur zu einer verstärkten Hierarchisierung im Betrieb beitrugen. Auch Streiks, die als Instrument abseits der Arbeiterselbstverwaltung niemals institutionalisiert wurden, deren Existenz aber anerkannt war, können als informelle Praktik bezeichnet werden. Schult attestiert eine „relative Toleranz“ (232) gegenüber Streiks, die sie damit erklärt, dass die Dezentralisierung innerhalb der Betriebe, als Folge der Verfassungszusätze von 1971, zu einer Atomisierung von Protesten führte, die soziale Unruhen ausreichend entschärfte. Gewerkschaften und die Lokalpolitik sollten der Verfassung von 1974 zufolge im Konfliktfall vermitteln. Schon wie in „Titos Brief“ 1972 ist laut Schult hier ein Wille zu erkennen, Unzufriedenheit auf zugreifen und zu kanalisieren. Dass Streiks durchaus erfolgreich sein konnten, bewies ein angedrohter Streik bei ТАМ 1968, der sich gegen ein Importabkommen mit der DDR über 800 IFA-Lastwagen richtete. Nach der Androhung eines 15-minütigen, von der Gewerk schaften unterstützten Streiks gelang es, den Import von Lastwagen zu vereiteln. Die Arbeit liefert wertvolle Flinweise zur Erforschung der wirtschaftlich bedingten Zäsur von 1980. Die zeitgenössische Arbeitsgeschichte versucht im Augenblick, die
Trans formationen der jugoslawischen Arbeitswelt, die bisher ganz an die institutionellen Reformen des Selbstverwaltungssystem gekoppelt waren, auf Betriebsebene neu zu periodisieren. Von wirtschaftspolitischen Reformen unabhängig, zeigt sich in der Untersuchung eine deut liche Zäsur in der Wirtschaftskrise der frühen 1980er. So führten die Einführung einer außerbetrieblichen Kontrolle und die verstärkte gegenseitige Beobachtung der Betriebs teile zu einer rigorosen Einhaltung der Lohnfonds. Zudem wuchs auch der Druck auf das Leitungspersonal in Betrieben, Fehlverhalten nicht nur entmachteter, sondern erstmals auch mächtiger Belegschaftsmitglieder zu disziplinieren. Dabei ist eine Periodisierung „from be low“ konzeptuell immer problematisch und kann, wenn überhaupt, einzig auf dem Weg von Fallstudien und ihrer Kombination gewonnen werden. Ein weiterer wesentlicher Beitrag Schuhs besteht in den - wenn auch noch immer zu wenig konsequent umgesetzten ֊ Versuchen, die Rolle der Partei in den Betrieben zu be leuchten, in dem sie auf Organe der Betriebsparteiorganisationen, der Lokalpolitik und des gesellschaftlichen Buchführungsdienstes eingeht. Solche Forschung gibt es für den staats sozialistischen Fall,4 in dem die Betriebe einem parteilich-direktiven Programm folgten. Freilich ist der jugoslawische Fall hier komplexer - was aber nicht heißt, dass das Verhält nis nicht in dichter Beschreibung fokussiert werden könnte. Bei all den Stärken der vorliegenden Untersuchung möchte ich zwei Mängel in den Anwendung des Welskoppschen Konzepts des Betriebs als „soziales
Handlungsfeld“ be anstanden. Erstens macht eine solche Beschreibung des Betriebs eine Berücksichtigung sämdicher Akteure notwendig. Dabei gerät hier das Management zu kurz. So gibt es keinen Bezug zu Lydalls These, dass es die Maxime der Verfassungsreform von 1974 gewesen wäre, die Position des Managements einzuschränken, welches im Marktsozialismus überhand ge420 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen nommen hätte.5 Wir erfahren wenig über die Rolle der Betriebsleitung in den formalen und informalen Konfliktaustragungen. Wenn etwa die Rede von dem neuen Willen, Disziplinar verfahren auszusprechen oder qualifizierte Arbeiter mit höheren Löhnen zu locken, ist, impliziert das zweifeUos das Interesse der Direktion. Dadurch, dass Schult das nicht klar formuliert, wird der konzeptuelle Ansatz von Herrschaft als sozialer Praxis schwammig. Das Betriebsinteresse wird lediglich als unscharfes kollektives Interesse der Belegschaft, nicht aber als akteurhaftes Interesse eines Direktors mitbeschrieben. Zweitens bleibt der Versuch, Legitimität als Kraft hinter den sozialen Konflikten zu analysieren, unkonkret. Leider legt die Autorin kein Konzept vor, wie sie den Begriff der Legitimität versteht. Eine stärkere Einbeziehung neoinstitutionalistischer Ansätze könnte den Argumenten der Autorin weitere Schärfe verleihen. Regensburg Peter Wegenschimmel 1 Sabine Rutar, Towards a Southeast European History of Labour. Examples from Yugoslavia, in: dies. (Hg.), Beyond the Balkans. Towards an Inclusive History of Southeastern Europe. Wien, Berlin 2014, 323-356. 2 Einige Fallstudien: dies., Containing Conflict and Enforcing Consent in Titoist Yugosla via. The 1970 Dockworkers Strike in Koper, European History Quarterly 45 (2015), 275-294; Igor Stanic, Sto pokayuje praksa? Presjek samoupravljanja u brodogradilištu Uljanik 1961-1968, Časopis za suvremenu povijest 46 (2014), 453-474; Chiara Bonfiglioli, Gender, Labour and Precarity in the South East European Periphery. The Case of
Textil Workers in Stip, Contemporary Southeastern Europe 1 (2014), 7-23. 3 Petr Pävliínek, A Successful Transformation? Restructuring of the Czech Automobile Indus try. Heidelberg 2008; Ulrich Juergens / Martin Krzywdzinski, Work Models in the Central Eastern European Car Industry. Towards the High Road?, Industrial Relations Journal 40 (2009), 471-490. 4 Maciej Tymiński, PZPR i przedsiębiorstwo. Nadzór partyjny nad zakładami przemysłowymi 1956-1970 nadzór partyjny nad zakładami przemysłowymi 1956-1970. Warszawa 2001. 5 Harold Lydall, Yugoslav Socialism. Theory Practice. Oxford 1984. Südost-Forschungen 76 (2017) 421
Nach 1990 NACH 1990 Valeska Bopp-Filimonov, Erinnerungen an die „Nicht-Zeit“. Das sozialistische Ru mänien im biographisch-zeitgeschichdichen Gedächtnis (1989-2007). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014 (Balkanologische Veröffentlichungen, 61). 350 S., ISBN 9783-447-10142-4, € 54,Bereits in anderen Zusammenhängen ist festgestellt worden, dass die wissenschaft liche Beschäftigung mit der Erinnerung an die sozialistische Periode in den Kulturen Süd osteuropas nach 1989 nicht im Mittelpunkt steht. Diese Aussage, die das kollektive Ge dächtnis betraf, gilt umso mehr für die individuelle Erinnerung. Die Arbeit von Valeska Bopp-Filimonov, die von der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig 2011 als Dissertation angenommen wurde und in die in einem kongenialen und sich ergänzenden Zusammenspiel Anregungen von mehreren Forschungs und Arbeitsstätten eingeflossen sind (neben Leipzig sei noch Aachen erwähnt), füllt diese Leerstelle in der Forschungslandschaft und legt die Messlatte für künftige Arbeiten bereits sehr hoch an. In einer konsistenten Einleitung wird zunächst der Untersuchungsgegenstand dargelegt und die Forschungsfrage formuliert, die übergreifend lauten könnte: Wie erzählen Menschen ihre Erinnerungen an die sozialistische Zeit in Rumänien? Dabei spielen öffentliche und individuelle Erinnerungen eine Rolle. Der sich anschließende Stand der Forschung ist dreigegliedert. Zunächst werden Arbeiten zu kollektivem und individuellem Gedächtnis thematisiert, es folgen Forschungen zur Erinnerungskultur Ost- und Südosteuropas und
schließlich zur Geschichte und Erinnerung im Rumänien nach 1989/1990. Eine intensive Methodendiskussion und die darauf aufbauende Analyse sind die Marken zeichen dieser wissenschaftlichen Untersuchung. Innerhalb einer dichten Beschreibung zieht die Verfasserin unterschiedliche Quellen heran. Im Mittelpunkt stehen lebensgeschichtliche Interviews. Den Interviewpartnern nähert sie sich mit Hilfe der soziologischen Biographie forschung und die Interviews werden u. a. auch anhand der „objektiven Hermeneutik“ ge lesen; Ziel ist eine „Rekonstruktion von Bedeutungsmöglichkeiten“. Dabei greift die Autorin immer wieder auf Kontexte zurück. Die Kontextualisierung ist überhaupt ein zentraler Be griff in der gesamten Arbeit. Die individuellen Interviews werden in den familiären Zusammenhang eingebunden. In der Familie konzentriert sich das Gruppengedächtnis, in das auch öffentliche Diskurse mit einfließen. Dabei werden auch Selbstzeugnisse und Medien einbezogen, die im Ge spräch thematisiert wurden. Diese Herangehensweise erscheint Bopp-Filimonov gerade an gesichts von „gelenkten Öffentlichkeiten“ plausibel. Sie spricht in diesem Zusammenhang allerdings von „diktatorischen Gesellschaften“ (43) und nicht von diktatorischen Regimen. Waren die Gesellschaften diktatorisch? In die intensiv reflektierte Vorgehensweise wird die Gliederung begründet eingebunden. Den Lebensgeschichten und Erinnerungen ist eine sprachlich-diskursive Einführung in 422 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen die postsozialistische Erinnerungslandschaft Rumäniens vorangestellt. Die Biographie konstruktion erfolgt unter Berücksichtigung der historischen Rahmenbedingungen, die Erzählung der Biographie unter Einbeziehung prägender persönlicher Erlebnisse. Bei der Analyse des Bezugsrahmens der Selbstdarstellung werden weitere Quellen hinzugezogen. In der Arbeit werden zwei Stränge zusammengeführt, die Ebene des öffentlichen Dis kurses, die öffentlich-staatliche Erinnerung, sowie die individuellen Lebensgeschichten. Obwohl in der Erläuterung der Methode die Vorgehensweise bereits deutlich geworden ist, werden noch einmal zusätzlich in einem gesonderten Kapitel,Aufbau und Lesarten der Arbeit“ dargelegt. Im Hauptteil werden Wiederholungen als bewusstes Mittel eingesetzt. Der Autorin geht es um eine Vertiefung, ein „abgesichertes Verstehen“ und die Offenlegung der Methode. Auf diese Weise will sie im ethnographischen Sinn „dem Subjekt durch viel schichtige Kontextualisierungsschritte“ gerecht werden und „Erinnerungsaufschichtungen und Zitationen aus „Fremd-Diskursen“ aufzeigen. Die vielfachen reflektierenden Zwischen schritte auf dem Weg zur Analyse stehen für eine komplexe Vorgehensweise. Die Interviews beschränken sich nicht auf Erfahrungen aus der Zeitspanne des sozialistischen Rumäniens; der Erfahmngs- und Bezugsrahmen der Interviewpartner, die im Mittelpunkt stehen, geht weit darüber hinaus. Aus lebensgeschichtlicher Perspektive er scheint es somit sehr spannend zu verfolgen, wie die einzelne Person die sozialistische Zeit spanne in ihr Leben einordnet und diese
deutet. Nach den sehr ausführlichen methodischen Reflexionen, die auch die theoretische Erläuterung der einzelnen Arbeitsschritte im Fall eines lebensgeschichtlich-narrativen Interviews einbezieht, wäre es allerdings sinnvoll gewesen, dem Leser zumindest anhand eines Interviews auch zu eröffnen, mit welchem konkreten Anliegen die Autorin an ihre Interviewpartner herangetreten ist, d. h. wie die Einstiegs frage zur Erzählaufforderung konkret lautete. Im Rahmen einer diskurstheoretischen Annäherung wird im 2. Kapitel der Umgang mit der sozialistischen Zeitspanne in den Jahren von 1998 bis 2006 dargelegt. Das Kapitel dient zum einen der Hintergrundinformation: Der Kontext wird skizziert, in dem die Inter viewpartner leben. Zum anderen werden Materialien zur Darstellung genutzt, die auch den Personen, mit denen Gespräche geführt wurden, bekannt waren. Die Kultur der Er innerung an die Zeit vor 1989 wird geschickt am Beispiel des Umgangs mit dem Begriff „Kommunismus“ in der politischen Sprache verfolgt. Dabei dienten die bekannten Zäsuren als Vorlage: die Herrschaftszeit Ion Iliescus, das Zwischenspiel der Demokratischen Kon vention sowie die Amtszeit des Präsidenten Traían Bäsescu. Darin werden weitere Termini abgeklopft, die in der untersuchten Periode fallen: der „rote Faschismus“ (Ion Antonescu und der Holocaust), die „Antikommunisten“ nach 1996 sowie die „two-communist-episode“ nach 2004. Eine Rolle in den Überlegungen spielt auch der Umbruch im Dezember 1989 als umstrittener Erinnerungsort. Von dieser Grundlage aus fragt Bopp-Filimonov, wie sehr sich diese
Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum im biographischen Erzählen niedergeschlagen haben. Wie kann über eine Zeit auf individueller Ebene geredet werden, die im öffentlichen Diskurs verdrängt wird? Südost-Forschungen 76 (2017) 423
Nach 1990 Die zwischen 2005 und 2007 geführten, insgesamt 45 Interviews wurden sorgfältig transkribiert; vielfach wollen ausführliche Zitate die jeweilige Person zu Wort kommen lassen und zugleich die Arbeit der Verfasserin nachvollziehbar erscheinen lassen. Aus der großen Anzahl an geführten Interviews werden die Erinnerungen in drei Bukarester Familien ausführlich vorgestellt. Als Interviewpartner dienten ein 66-jähriger Literaturwissenschaftler, sein 37 Jahre alter Sohn, ein Priester (69 Jahre) und dessen Tochter (29 Jahre). Ein 3. Fallbeispiel musste ausfallen, nachdem die Betroffenen die Einwilligung zur Verwendung des Materials zurück zogen. In dieser Leerstelle reflektiert die Autorin diesen Vorgang auf einer Metaebene und zeigt Rahmenbedingungen und Grenzen von Oral history in einer von Konspiration und Misstrauen geprägten Umbruchszeit auf. Die Erinnerungen des 66-jährigen Literaturwissenschaftlers beziehen auch die Zeit vor dem kommunistischen Regime mit ein. Damit waren zugleich auch die enttäuschten Hoffnungen verbunden, nach 1989 daran anknüpfen zu können. Ansonsten wurde er in der sozialistischen Zeit geformt. Die Verfasserin konzentriert sich bei der Biographie auf die historischen Bedingtheiten und Möglichkeiten von Intellektuellen im Sozialismus und Post sozialismus sowie die Selbstzuschreibungen. Der Sohn erinnert sich vielfach an die Periode nach 1945 durch die Erzählungen der Eltern. Besonders komplex ist die Person des Priesters, dessen Karriere im Sozialismus begann, der sich dann aber als Geistlicher aus den politischen Institutionen zurückzog. Die
Tochter schließlich tat sich schwer mit einer Positionierung zum Thema „Kommunismus“. Die einzelnen Sequenzen werden hilfreich durch Zwischen fazits zusammengefasst. Diese machen das Ganze zusätzlich les- und verstehbar. In einem letzten großen Teil des Hauptkapitels werden die Informationen aus den Inter views mit dem Kontext zusammengebracht und analysiert. Die Autorin interessiert dabei aus den geführten Interviews - hier werden noch weitere Interviews verarbeitet — die re gionale Herkunft der Gesprächspartner (neben Bukarest noch Temeswar/Timişoara und Alexandria), Aspekte des familiären Generationengedächtnisses nach 1989, das Thema Faschismus in Rumänien und damit auch die Zwischenkriegszeit in der Erinnerung sowie der Zusammenhang von Erinnerungen und Emotionen. Im letzten, sehr spannenden Punkt bilanziert Bopp-Filimonov ihre Beobachtungen, nämlich dass in den Erinnerungen über die sozialistischen Jahre die Trauer fehle. Resümierend werden die Ergebnisse der Arbeit noch einmal pointiert zusammengeführt und schließlich die „Nicht-Zeit“ als „vielschichtiges und komplexes Gebilde“ charakterisiert. Im Anhang dieser überaus sorgfältig verfassten und intensiv reflektierten Arbeit findet der Leser außerdem eine Übersicht über alle geführten Interviews sowie die Transkriptionszeichen, mit deren Hilfe auch die zitierten Interview stellen in der Arbeit entschlüsselt werden können. Valeska Bopp-Filimonov schreibt in ihrer Arbeit viel von „Sprachspielen“ und „Sagbarkeitsregeln“. Ihr eigener Schreibduktus, ihr Spielen und Experimentieren mit Sprache, die wissenschaftliche
Redlichkeit und Trans parenz stellen einen intellektuellen Genuss und eine Anregung, daran anzuknüpfen, dar. Mainz 424 Hans-Christian Maner Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Geist hinter Gittern. Die rumänische Gedenkstätte Memorial Sighet. Hg. Katharina Kilzer/ Helmut Müller-Enbergs. Berlin: Frank Timme 2013 (Forum: Rumänien, 16). 213 S„ mehrere Abb., ISBN 978-3-86596-546-2, € 29,80 Gedenkstätten nehmen in unserer Gegenwart als Orte der Erinnerung, des Gedenkens und gegen das Vergessen einen zentralen Platz ein. Dies gilt in besonderer Weise für Ge denkstätten, in denen totalitäre Herrschaften das Thema sind. Während sich in Deutschland eine regelrechte Gedenkstättentopographie und -pädagogik entwickelt hat, ist das andern orts nicht so. Rumänien, das nicht nur den „linken“, sondern auch einen „rechten“ Terror durchleben musste, steht damit noch am Anfang. Umso wichtiger ist eine Publikation, wie die vorliegende, zur Gedenkstätte Sighet. Anders als mehrere Gedenkstätten mitten in Berlin befindet sich Sighet (vollständiger Name „Sighetul Marmaţiei“) in der äußersten nordwest lichen Ecke des Landes, 2 km entfernt von der Grenze zur heutigen Ukraine; weiter weg von der Hauptstadt Bukarest ist kaum möglich. Der Sammelband, herausgegeben von Unterstützern der rumänischen Gedenkstätte, bietet in gewisser Weise einen Rückblick auf Geleistetes, eine Bilanz. Das Erscheinungs jahr 2013 stellt den 20. Jahrestag der Gründung des Museums- und Forschungskomplexes Memorial Sighet dar. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge stammen allesamt aus dem engen Kreis der Unterstützer des Projekts. Neben den Gründern im engen Sinn, dem Schriftstellerehepaar Ana Blandiana und Romulus Rusan, zählen Weggefährten der ersten Stunde wie Stéphane Courtois
und Patrick Moreau dazu oder die Träger und Teilnehmer der Symposien und der Sommerschule in Sighet (Alexandru Zub, Dennis Deletant, Karl-Peter Schwarz, Hans Bergel, Pierre Hassner, Ulrich Burger, Ioana Boca, Vladimir Bukovski, Edward Kanterian, Sven-J. Irmer). Der Band weist eine grobe ungleiche Zweiteilung auf. Der überwiegende Teil der Beiträge enthält Reflexionen der Autoren über Sighet als Gefängnis wie Gedenkstätte und v. a. dar über, wann und wie sie selbst erstmalig mit der Gedenkstätte in Kontakt gekommen sind. In den engagierten Ausführungen kommen immer wieder Ana Blandiana und Romulus Rusan zu Wort bzw. werden vielfach erwähnt und im Zusammenhang mit der Entwicklung des vergessenen Ortes zur Gedenkstätte porträtiert. Dabei geht es um die „Wiederherstellung des kollektiven Gedächtnisses“ (Ana Blandiana), um die Positionierung von Sighet als „Ge dächtnis der Nation“ (Katharina Mizer) oder als „lebendiges Museum“ (Romulus Rusan). Hinter so mancher Zeile steckt viel Herzblut, wird der Einsatz für die Gedenkstätte Sighet regelrecht spürbar, so z. B., wenn vom Aufdecken „der“ Geschichte oder „der wahren“ Geschichte geschrieben wird. Daneben finden sich aber auch Reflexionen, die präzisieren, es handele sich bei Sighet um die Geschichte der Opfer (Dennis Deletant). Auch wird über die verschiedenen Facetten der Gedenkstätte nachgedacht (Alexandru Zub). Spannend und er kenntnisreich wäre es, Sighet mit Gedenkstätten in anderen Ländern Europas zu vergleichen. Darüber hinaus enthält der Leser aber auch einen Einblick in den Aufbau der Gedenk stätte als Museum. Spannend
ist in den Ausführungen von Helmut Müller-Enbergs zu Südost-Forschungen 76 (2017) 425
Nach 1990 lesen, wie und warum die einzelnen Räume als Ausstellungssäle ausgewählt wurden und was sie enthalten. Zu den historisch-wissenschaftlichen Beiträgen über den Kommunismus in Rumänien zählen die archivgestützten Ausführungen von Ulrich Burger über die „Mark EthridgeMission“ in Rumänien im Herbst 1945 sowie von Ioana Boca über die Folgen der Studenten revolte im Herbst 1956. Außerdem finden sich in dem Band auch Wiederabdrucke von markanten Beiträgen aus Zeitungen. Hans Bergei pointiert in seinen Ausführungen, die 2012 in der Siebenbürgischen Zeitung erschienen sind, den Weg der Regimekritikerin Blandiana und die Be deutung von Sighet als „Forschungs-, Ausstellungs-, Museums- und Tagungsstätte“. Edward Kanterian betont die zentrale Bedeutung von Sighet für die Aufarbeitung des Kommunis mus in Rumänien. Die Zeilen wurden bereits 2002 in der Neuen Zürcher Zeitung gedruckt. Wertvoll sind auch die Zeitzeugenberichte. So beschreibt Ana Blandiana die Umstände zur Zeit des Verfassens ihres Romans ,Applausmaschine“. Vladimir Bukovski erzählt aus seinem Leben, insbesondere über Ereignisse aus den Jahren 1953 (Tod Stalins und die Zeit unmittelbar danach) und 1956 (Revolution in Ungarn und Auswirkungen auf Rumänien). In den Nachworten von Romulus Rusan und Sven-J. Irmer wird zum einen ein Plädoyer für Sighet als „Denkmal gegen das Vergessen“ laut. Zum anderen wird die Bedeutung der Sommerschule in Sighet für die junge Generation hervorgehoben. Die Bedeutung dieses Sammelbandes, der eine ganze Reihe von Abbildungen über Sighet sowie Veranstaltungen in Sighet und im Anhang u.
a. ein Verzeichnis mit einer Auswahl an grundlegender Literatur enthält, liegt zum einen auf einer symbolischen Ebene, näm lich der Verankerung der Präsenz von Sighet im Bewusstsein. Zum anderen steckt in dem Band eine ganze Menge Geschichtskultur (d. h.: Wie erfolgt der Umgang mit Geschichte im Allgemeinen und mit Sighet im Besonderen?). Mainz Fred C. Abrahams, Hans-Christian Maner Modem Albania. From Dictatorship to Democracy in Europe. New York, London: New York University Press 2015. XII, 345 S., zahir. Abb. und Kt., ISBN 978-1-4798-3809-7, US-$ 25,Albanien hat sich 1990 als letztes europäisches Land auf den Weg des Systemwechsels begeben. Diese Phase der Transition ist in mancherlei Hinsicht immer noch im Gange. Menschenrechtsorganisationen wie Freedom House und Reporter ohne Grenzen be scheinigen dem Land - mit nicht immer transparenten Kriterien - erhebliche Defizite im Bereich der Menschen- und Bürgerrechte, und der Status des Beitrittskandidaten zur Europäischen Union, den Albanien nach langer Wartezeit 2014 erhalten hat, darf nicht 426 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen darüber hinwegtäuschen, dass es wesentliche politische und wirtschaftliche Kriterien für eine Vollmitgliedschaft nicht erfüllt. Die überwiegend negativen Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien und die derzeitige Schwäche der EU nach der Brexit-Entscheidung lassen auch nicht erwarten, dass die verbleibenden 27 Mitgliedsländer ihre Ansprüche an neue Beitrittsländer herunterschrauben. Der US-ameriltanische Menschenrechtsaktivist Fred C. Abrahams ist nicht der erste Aus länder, der sich um eine konzise Darstellung des letzten Vierteljahrhunderts albanischer Geschichte bemüht. Die Briten James Pettifer und Miranda Vickers haben mit „Albania. From Anarchy to a Balkan Identity“1 und „The Albanian Question. Reshaping the Bal kans“2 eine kritische Haltung gegenüber dem Regime von Sali Berisha (Staatspräsident 1992-1997, Ministerpräsident 2005-2013) bezogen, während Élez Biberaj es in ,Albania in Transition. The Rocky Road to Democracy“3 eher verteidigte. Als rein chronologische, nicht analytische Datensammlung hat der Rezensent eine dreibändige „Chronologie eines albanischen Vierteljahrhunderts (1990-2015)“4 vorgelegt. Abrahams war seit 1993 ständig in Albanien, sehr nah an den Ereignissen und berichtet als Augenzeuge, stützt sich aber auch auf zahlreiche Gespräche und Interviews, Presse artikel, Internetquellen, wissenschaftliche Studien und „graue Literatur“; er liest und spricht Albanisch. Er stellt das eigene Erleben aber (abgesehen vom Vorwort) nicht in den Mittel punkt, sondern das Land und seine Menschen. Seine Darstellung setzt mit Enver Hoxhas Tod 1985 ein,
der Befürchtungen und Hoffnungen zugleich weckte. Der neue Parteichef Ramiz Alia versuchte in den folgenden fünfJahren, das System mit systemimmanenten Reformen zu stabilisieren, geriet aber immer mehr ins Kreuzfeuer zwischen konservativen Kommunisten, die (völlig zu Recht) jeden Wandel als Anfang vom Ende ansahen, und einer immer unzufriedeneren Bevölkerung, die sich angesichts des Wandels im Ostblock und des Blicks auf die Konsumgesellschaften des Westens via Fernsehen nicht mehr mit der Stagnation und Rezession der Wirtschaft und damit ihres Lebensstandards abfinden wollten. Abrahams teilt viele - bisher wenig bekannte - Details aus dem Wendejahr 1990 mit, in dem mehr geschah als die Flucht tausender Menschen in die westlichen Botschaften im Juli und die Studentenbewegung im Dezember, die in die Etablierung des politischen Pluralismus mündete. Der Autor bestätigt, dass die Regierung zunächst erfolgreich versuchte, die Protest bewegung und die neuen Parteien und Verbände zu kontrollieren, aber bald die Zügel aus der Hand geben musste. Angesichts der bisher umfassenden Repression konnte sich in Albanien keine Dissidentenbewegung etablieren, aus deren Reihen die neue Elite hätte kommen können; es waren etablierte und systemnahe Intellektuelle wie der Arzt Sali Berisha und der Kunsthistoriker Aleksander Meksi, die den Ton angaben. Der Sturz der Hoxha-Denkmäler, die erste pluralistische Wahl von 1991, die die Kommunisten hoch gewannen, weil die neuen Kräfte auf dem Lande noch nicht organisiert waren, ein Generalstreik, die Bildung einer Allparteien-Koalition, deren Bruch und
die Spaltung der Partia Demokratike e Shqipërisë (Demokratische Partei Albaniens, PD) waren Südost-Forschungen 76 (2017) 427
Nach 1990 Etappen zum Wahlsieg der PD 1992, der Alia endgültig in Rente und bald ins Gefängnis schickte und Berisha und Meksi zu den wichtigsten Staatsämter verhalf. Aus dem Hoffnungsträger Berisha wurde jedoch sehr bald ein autoritärer Staats- und Parteiführer, der keine innerparteiliche Opposition zuließ. Abrahams bemüht sich um kritische Distanz gegenüber den albanischen und internationalen Akteuren und versucht, ihren Beweggründen und ihrem Handeln gerecht zu werden. Als US-Amerikaner hat der Autor auch gute Kontakte zu den äußerst einflussreichen USBotschaftern und anderen Diplomaten, die ihm wichtige Informationen und Unterlagen zur Verfügung stellten. Die Dynamik der westeuropäischen Länder in ihrem Handeln gegen über Albanien und Kosovo kommt bei ihm hingegen kaum vor, obwohl inzwischen eine reiche Memoirenliteratur westlicher Politiker vorliegt, in denen diese Fragen angesprochen werden. Der Autor wirft der US-Regierung wie den europäischen Regierungen vor, den Machtmissbrauch der Berisha-Regierung toleriert zu haben, weil in den 1990er Jahren eine Rückkehr der früheren Kommunistischen Partei, die sich 1991 als Sozialistische Partei (PS) neu konstituiert hatte, als größeres Übel erschien. Dies mündete in die hochgradig manipulierten Wahlen von 1996 und in den Kollaps der Investmentfonds („Pyramiden“) 1997, der zahllose Albaner um ihre letzten wirtschaftlichen Ressourcen brachte und in einen veritablen Bürgerkrieg mit anschließendem Machtwechsel zu einer PS-gefuhrten Regierung mündete. Die bis heute nicht vollständig aufgeklärte Ermordung des umstrittenen
PDPolitikers Azem Hajdari 1998 mündete in eine erneute Eskalation der Gewalt, aber nicht in einen Umsturz. Ein Jahr später rückte der Kosovokrieg die Albaner und ihre ungelöste nationale Frage in den Mittelpunkt der Weltöffendichkeit und verschaffte Albanien Respekt für die Auf nahme Hunderttausender Flüchtlinge. 2005 und 2013 verkraftete Albanien Regierungs wechsel, die zwar im Detail nicht ganz unumstritten waren, aber dem Mehrheitswillen ent sprachen, auch wenn die Wahlbeobachter jedes Mal erneut höfliche Worte für anhaltende Missbrauche (wie familienweises Abstimmen) finden mussten. Mit der Wahl der PS-LSIKoalitionsregierung unter Edi Rama 2013 und dem Kandidatenstatus für einen EU-Beitritt 2014 schließt die Darstellung. Abrahams bemüht sich, trotz so vieler Rückschläge positive Perspektiven im Vertrauen auf die jungen Leute zu finden, die sich zwischen Emanzipation und Täuschung für die richtige Alternative entscheiden müssen, aber er lässt durchblicken, dass nach so vielen enttäuschten Hoffnungen in den vergangenen 25 Jahren Optimismus nicht die nahe liegende Erwartungshaltung ist. Fred Abrahams ist ein guter Schriftsteller, dem interessante Porträts gelingen und der die chaotische Entwicklung dieses europäischen Landes so fesselnd zeichnet, dass die Lektüre nie langweilig wird. Er lässt sich von seiner tiefen Sympathie zu Albanien nicht zu vereinfachten Urteilen hinreißen. Hoffentlich wird dieses Buch auch in Albanien angemessen aufgenommen. Kiel 428 Michael Schmidt-Neke Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 1 James Pettifer / Miranda Vickers, Albania. From Anarchy to a Balkan Identity. London 1997. 1 Diess., The Albanian Question. Reshaping the Balkans. London, New York 2009. 3 Elez Biberaj, Albania in Transition. The Rocky Road to Democracy. Boulder/CO, Oxford 1998. 4 Michael Schmidt-Neke, Chronologie eines albanischen Vierteljahrhunderts (1990-2015). Bd. 1: (1990-2001): Vom Systemwechsel zum Krieg im Kosovo. London 2016 (Albanian Studies, 31); Bd. 2: (2002-2009): Konsolidierung Albaniens und Unabhängigkeit Kosovos. London 2016 (Albanian Studies, 32); Bd. 3: (2010-2015): Der lange Weg zur europäischen Integration. London 2016 (Albanian Studies, 33). Südost-Forschungen 76 (2017) 429
Volkskunde VOLKSKUNDE Eleutherios P. Alexakês, Λαογραφία ή ανθρωπολογία οίκοι; Ζητήματα μεθόδου και θεωρίας [Volkskunde oder Anthropology at Home? Fragen zu Methode und Theorie]. Athen: Ekdoseis Herodot 2015. 256 S., ISBN 978-960-485-131-7, € 25,40 Der ehemalige Redaktor am Forschungszentrum für Griechische Laographie der Akademie Athen, dessen Arbeiten auf diesen Seiten schon vielfach vorgestellt werden konnten,1 konsequenter Vertreter einer sozialanthropologischen Spielart der griechischen Volkskunde, legt hier seine theoretischen und methodologischen Studien zur Volks kunde, Kultur- und Sozialanthropologie Griechenlands und des Balkanraums vor. In den jüngsten Schriften zu den Studien der Volkskultur ist der Begriff ևogmphia eigentlich nicht mehr angezweifelt (außer von den institutionellen Fachanthropologen), da er ideo logisch unbelastet ist (hellenistisch „Volkszählung“, entspricht etwa der Kameralstatistik der mitteleuropäischen Aufklärer), und die Konversion beider Forschungsrichtungen mit den unterschiedlichen Forschungstraditionen lässt eigentlich das Kontroversschrifttum und die Auseinandersetzungen, der viele ältere Studien in diesem Band noch gewidmet sind, etwas überholt erscheinen.2 Nichtsdestotrotz ist diese Zusammenstellung für die Fach geschichte nicht nutzlos. Eine Einleitung in den Studienband beschreibt diese Parallel entwicklung in den Zeitphasen von 1900-1970 und 1970-1990 sowie die Konvergenzen und Divergenzen im Jahrzehnt vor dem Millennium (13-25). Jeder dieser Abschnitte ist von einer Bibliographie ergänzt, die die Abbreviationen in den
Fußnoten aufschlüsselt. Es folgen dann die Einzelstudien in eher chronologischer Abfolge: „Sozialanthropologie und griechische Volkskunde: ein theoretisches und methodologisches Problem“ (29-54, Kongressreferat von 1989, erschienen 1993), „Von der Folklore und der Ethnographie zur Ethnologie. Ein schwieriger Prozess in den Balkanländern“ (55-62)3, „Die anthropologische Forschung und Theorie in Griechenland. Der Fall von drei wissenschaftlichen Periodika“ (63-78, Kongressreferat von 2001, veröffentlicht 2004), ,Anthropology at Home oder Volkskunde? Ein epistemologischer Ansatz“ (79-105, Kongressreferat 2002, veröffentlicht 2003), „Die komparative ethnologische Methode in der Volkskunde oder Nikolaos Politis zwischen Nationalismus und Humanität“ (107-127, Kongressreferat 2002, 2012 veröffent licht), „Die französische ethnologische Schule und die Volkskunde von Dimitrios Lukams“ (120-147, Tagungsreferat 2004, 2008 publiziert), „Von der Sammlung volkskundlichen Materials zur spezifizierten ethnographischen Feldforschung von Dauer. Erfahrungen und Probleme“ (149-168, Referat im Volkskundearchiv der Akademie 2006), „Volkskunde als Anthropologie und Anthropologie als Volkskunde in Griechenland. Eine Insider-Kritik“ (169-191, Kongressreferat 2009, veröffentlicht 2012). Wie zu erwarten, kommt es hier zu vielfachen Überschneidungen, sowohl inhaldich wie bibliographisch, die Belegdichte im theoretischen Diskurs ist wie immer hoch. In einem Epimetron kommt noch ein Kongress referat zu den Beziehungen von Volkskunde und Geschichte zum Abdruck (195-210, 1979, veröffentlicht 1982). 430
Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Einen gewissen Vollständigkeitsdrang in der Wiederveröffentlichung peripherer und umstandsgebundener Referate wird man dem Band wohl nicht absprechen können. Es folgt noch ein ausführliches English Summary, vorwiegend der Einleitung („Laographia or Anthropology at Home? Issues of Method and Theory“, 211-222) und die Register (225-237). Somit liegt praktisch das Gesamtwerk von Alexakis - auch die Tagebücher der Feldforschung und die eine deutsche Übersetzung4 - in selbständigen Publikationen vor. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. Südost-Forschungen 40 (1981), 526f.; 45 (1986), 539-542; 61/62 (2002/03), 489-493; 67 (2008), 492-494; 68 (2009), 723-725, 725-728; 72 (2013), 553f. 2 Vgl. meine Einleitung in dem Band Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas. Wien, Köln, Weimar 2009. An der Universität Thrakien in Komotini gibt es inzwischen ein Semi nar für Volkskunde / Anthropologie sowie einen Studiengang Anthropologie in Volos an der Thessalischen Universität, der auch rein volkskundliche Methoden verwendet. 3 Kongressreferat 1997, auch als: From Folklore and Ethnograpy to Ethnology. A difficult Path in the Balkan Countries, Etudes et documents balkanique et méditerranéens 23 (2001), 5-9. 4 Eleutherios Alexakis, Die Kinder des Schweigens. Familie, Verwandtschaft und Heirat bei den Arvaniten im südöstlichen Attika (1850-1940). Wien, Köln, Weimar 2008. Manóles G. Barbounēs, ΣύΛεκτα Σαμιακού Λαϊκού Πολιτισμού και Εκκλησιαστικής Παράδοσης [Sammlung zu Folklore und kirchlichen Tradition auf Samos], Bd. 1: Σαμιακά Παραδοσιακά και Νεωτερικά Λαογραφικά
[Traditionelle und moderne Folk lore aus Samos]. Bd. 2: Ζητήματα Σαμιακής Εκκλησιαστικής Παράδοσης και Ιστορίας [Studien zur kirchlichen Tradition und Kirchengeschichte auf Samos]. Thessaloniki: Ekdoseis Ant. Stamulis 2016 (Holy Metropolis of Samos and Ikaria. Ecclesiastical, Histo rical and Cultural Research Centre, Series of Scientific Studies, 2, 3). 695 u. 1119 S., zahir. Abb., ISBN 978-618-5161-42-2, € 67,90 Der Volkskunde-Professor der Thrakischen Universität in Komotini, der auf diesen Seiten schon öfters mit seinen Werken, vorwiegend zur religiösen Volkskunde Griechen lands vorgestellt werden konnte, hat in den Jahren 2001 bis 2005 ein dreibändiges Studien werk zur Volkskunde und Kirchengeschichte seiner Heimatinsel Samos vorgelegt (die über 2 000 Seiten starken Studienbände wurden damals von der Präfektur Samos heraus gegeben). Dieses Sammelwerk findet nun seine Fortsetzung in einer zweibändigen Ausgabe, die dieses Unternehmen für das Folgejahrzehnt von 2005 an weiterführt, allerdings nun in thematischer Untergliederung, wo die rein ekklesialen Thematiken in den umfangreicheren 2. Band ausgelagert werden. Der 1. Band umfasst 44 Studien, z. T. noch unveröffentlicht Südost-Forschungen 76 (2017) 431
Volkskunde oder in Edition befindlich, die in verschiedenen Zeitschriften, Periodika, Sammelbänden, Kongressakten und Jahrbüchern innerhalb und außerhalb Griechenlands (keineswegs nur von lokaler Reichweite, mit besonderer Vorliebe z. B. in „Erytheia. Revista de Estudios Bizantinos y Neogriegos“) erschienen sind. Dies ist feinsäuberlich in einem Quellenver zeichnis der Erstveröffentlichungen (667-670) am Bandende aufgeführt, wo sich auch ein Namens- und Personenverzeichnis befindet (671-695), das sich für die Entschlüsselung der Informationsschätze als hilfreich erweist. Die Studien selbst sind untergliedert in traditionelle Thematiken (Nr. 1-27) und innovative (Nr. 28-44). Eine Rezension solcher Sammelwerke kann eigentlich nur die Reichweite und Unterschiedlichkeit der Forschungsthemen mit Generalnenner die Volkskultur der Insel Samos in der östlichen Ägäis aufzeigen. Unter den traditionellen Studien themen finden sich: die armenischen Kommunitäten der Insel in Geschichte und Kulmrentwicklung; altgriechische Namensgebung im 19. Jh.; Volkslieder aus Handschriften um 1900; orale Überlieferungen und Gedenkstätten; Revolution und Annexion von Samos 19081912 in der Volksdichtung der Insel; religiöse Bruderschaften; Klosterbesitz nach 1912; Klosterleben in der Türkenzeit; Kirchenarchitektur und Kirchensprengel in der Hauptstadt der Insel; Chora aus volkskundlicher Sicht; Familiengeschichte; Mönchswesen auf Samos und in Kleinasien; Zyprioten auf Samos; Samioten in Ägypten; Heptanesier auf Samos im 18. und 19. Jh., Karpathier auf Samos (19.-20. Jh.); ekklesiale Silberkunst auf
Samos; die Friedhöfe; Oliven und Olivenbäume in der traditionellen Volkskultur; Weinberge und Winzerwesen; und vieles mehr. Im innovativen Sektor befinden sich nicht nur Studien zu rezenten Phänomenen, sondern auch solche, die zeitgenössischer Methodologie der Kultur wissenschaften folgen. Hier geht es um Wunderikonen und die rituelle Handhabung des Metaphysischen; Spotdieder auf die Touristen; insulare Identitäten zwischen Tradition und Modernität in literarischen Werken; Kulturvereine und rezente Volkskultur; samiotische Kulturvereine im In- und Ausland; volkhafte Reimeschmiede und ihr Werk; die Volksmusik tradition der Insel; fremdsprachige Touristenführer über die Insel; der Dudelsack; Samos in der Literatur; die rezente neo-samiotische Liedproduktion; ausgewanderte Samioten als „Amerikaner“ und „Athener“; die Kulturmanifestationen des Sommers; Trachten und Trachtenpflege; die Kulturkalender der samiotischen Vereine. Eine solche rein thematische Aufzählung ist für den 2., weit umfangreicheren Band mit seinen 80 Studien nicht mehr möglich. Hier befinden sich auch einige wenige englische Studien und eine deutsche („Der heilige Theodoras, Grigorios und Leon von Samos (4. Jh.)“ und „Elite powers and their impact on the education of the Principality of Samos (18341912)“). Angeschnitten werden Themen der lokalen Kirchengeschichte, Synaxarisches, Erziehungswesen, namhafte Persönlichkeiten, Psalmensänger, Metropoliten, Kloster wesen, Beziehungen zum Patriarchat von Jerusalem, Metochien, Epigraphisches, Kloster handschriften, Kirchenbibliotheken, Lokaldichter,
Prosopographisches, Klosterfeste, die Kollyvadenbewegung auf Samos, samiotische Mönche auf anderen Inseln, kykladische Handwerker auf Samos, Neomärtyrer, die italienische Besatzung 1941-1943, Wand malereien, historische Dokumente, Kirchen und Kapellen, und Handschriftenverzeichnisse. 432 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Der Aussagewert solcher Mini-Studien geht in einer größeren geographischen Übersicht z. T. verloren, ist jedoch von seinem durchgehenden Lokalbezug her zu bewerten. Bei der Inselkultur wiederholt sich das Paradox, das von den Bergsiedlungen her bekannt ist: Einer seits die Abgeschlossenheit und Isolation (von Bergen oder vom Meer umgeben), anderer seits die Existenz von Fernkontakten und Extrovertiertheit, die gerade das Ergebnis dieser schwierigen geographischen Position ist. Das Meer isoliert und verbindet gleichzeitig. Der Band endet mit einem Verzeichnis der Samos-Studien des Autors seit 1989, den Erstver öffentlichungen und einem Personenverzeichnis (1087-1119), das in diesem Fall unabding bar ist, weil niemand einen so differenten Studienband in einem Zuge durchlesen wird. Doch die lokale Kulturgeschichte hat neben der selektiven Lesetaktik eben auch einen differenten Fokus und eine unterschiedliche Methodologie, wo die thematische Disparität nicht unbedingt ein Hindernis bildet, weil das alles zusammenhaltende Band eben das Interesse an der spezifischen Lokalität selbst ist. Unter diesem Aspekt sind solche Bände auch zu rezipieren und erhalten ihre angemessene Validität als die minimalsten Monaden der Kulturgeschichtsschreibung. Derartige Lokalgeschichten waren in Griechenland unter den Auspizien des Lokalpatriotismus seit dem 19. Jh. mit institutioneller Unterstützung von Sponsoren, Lokalvereinen und Lokalzeitschriften geläufig, fanden ihre moderne Fort setzung allerdings nicht in den kultur- und sozialanthropologischen case studies, sondern unter
Erneuerung der Methodologie und der Fragestellungen in Sammelbänden wie diesen, die allerdings einer institutioneilen Fundierung bedürfen, um überhaupt erscheinen zu können, was im Falle der Insel Samos allerdings gegeben scheint. Athen,Wien Walter Puchner Franz Alto Bauer, Eine Stadt und ihr Patron. Thessaloniki und der Heilige Deme trios. Regensburg: Schnell Steiner 2013. 488 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-79542760-3, € 79,Mit der hier zu besprechenden Monographie hat Franz Alto Bauer ein Werk vorgelegt, in welchem er auf eindrucksvolle Weise die verschiedensten Facetten der Verbindung zwischen einer Stadt und ihrem Schutzheiligen beleuchtet. Der Band ist in 13 Kapitel gegliedert, die im Wesentlichen chronologisch aufeinander aufbauen. Der 1. Abschnitt stellt einen Prolog dar, in welchem Bauer die Überführung der Reliquien des Heiligen Demetrios vom italienischen San Lorenzo in Campo nach Thessaloniki in den Jahren 1978 und 1980 sowie ihre Vorgeschichte als Ausgangspunkt seines Streifzugs durch die Jahrhunderte nimmt. Dabei sieht Bauer im Heiligen eine ,Antwort auf individuelle wie kollektive Ängste“, eine „Entsprechung zu Hoffnungen und Wünschen, erfüllten wie unerfüllten“ (9). Bauer fragt, wie es hierzu kommen konnte, Südost-Forschungen 76 (2017) 433
Volkskunde woher der HL Demetrios sein Ansehen und seine Autorität bezog und warum unter den vielen Heiligen gerade er es war, der zum Stadtpatron Thessalonikis aufstieg. Dass diese Leitfragen nur den kleineren Teil des umfangreichen und unterschiedlichste Aspekte be handelnden Werkes ausmachen, wird bei der Lektüre jedoch schnell deutlich. Die Abschnitte 2 bis 12 stellen den eigentlichen Kern der Untersuchung dar. Im 2. Abschnitt geht Bauer den Ursprüngen des Demetrioskultes nach und schließt sich der Forschungsmeinung an, dass die Reliquien des Heiligen im Kontext der Völkerwanderung von Sirmium (Sremska Mitrovica, Serbien) nach Thessaloniki überführt worden seien und den Beginn der Demetriosverehrung dargestellt hätten. Der 3. Abschnitt widmet sich der frühen Stadtgeschichte Thessalonikis und insbesondere anderen hier verehrten Heiligen. Ab schnitt 4 beschäftigt sich - ausgehend von den Schäden, die der große Brand des Jahres 1917 verursachte — mit der Kirche Hagios Demetrios, insbesondere aber mit ihrer komplizierten Baugeschichte. Bauer hält dabei eine Datierung des Ursprungsbaus - einer fünfschiffigen Querhausbasilika - ins frühe 6. Jh. für wahrscheinlich, der später - aufgrund eines Brandes oder Erdbebens - erheblichen Veränderungen unterworfen worden sei. Im 5. Abschnitt geht Bauer der Funktion der Demetrioskirche als Verehrungsort nach, wobei der Altarbereich, die so genannte Ostkrypta sowie das Ziborium im Mittelpunkt des Interesses stehen. Der 6. Abschnitt ist dem Wechselspiel zwischen Wort und Bild gewidmet und nimmt dabei einerseits die (heute fast gänzlich
verlorene) mosaikale Ausgestaltung der Demetrioskirche, andererseits die - als historische Quelle vieldiskutierte Legendensammlung ֊ „Miracula Sancii Demetrii“ in den Blick. Im 7. Abschnitt geht Bauer der Entwicklung des Demetrios vom lokalen Stadtheiligen Thessalonikis zu einem reichsweit verehrten Soldatenheiligen nach (6.-11. Jh.), wobei er insbesondere auch die sich ändernde ikonographische Dar stellung des Heiligen untersucht. Der 8. Abschnitt führt chronologisch weiter in die Zeit der Komnenen und Angelot (1081-1204). Bauer berücksichtigt an dieser Stelle insbesondere auch die Rezeption der Demetriosverehrung bei Normannen, Bulgaren, Russen und Serben. Im 9. Kapitel wird die Aneignung des Demetrioskultes im lateinischen Westen unter sucht. Dabei arbeitet Bauer heraus, dass die lateinische Übersetzung einiger Wunder durch Anastasius Bibliothecarius (9. Jh.) zunächst keine erkennbare Wirkung entfaltete, sondern Episode blieb. Eine erneute Übernahme des Demetrioskultes im Westen sei dagegen erst wieder ab dem späteren 11. Jh. insbesondere im Kontext der Kreuzzüge zu beobachten; doch habe Demetrios „im Westen nie richtig Fuß fassen“ (329) können. Im 10. Kapitel stehen zunächst Demetriosreliquien bzw. -reliquiare im Mittelpunkt sowie die Eigenschaft des Heiligen als Öl-, Myron- bzw. Blutspender. Gerade im Kontext der Myroblysie, also des „Ölausströmens“ sei die Konkretisierung der Präsenz des Demetriosleibes zu sehen. Des Weiteren geht Bauer auf ikonographische Demetrioszyklen ein. Außerdem steht das Schicksal des Ziboriums im Verlauf der Jahrhunderte im Mittelpunkt des
Interesses. Der 11. Abschnitt führt in die spätbyzantinische Zeit (13.-15. Jh.) und behandelt unterschied liche Aspekte wie die Demetrien (d. h. die jährliche Messe), die Bedeutung des Heiligen bei der Konkurrenz zwischen den beiden byzantinischen Exilreichen von Epiros / Thessaloniki und Nikaia sowie bauliche Veränderungen und bildliche Ausschmückungen der Kirche des 434 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Heiligen. Im 12. Kapitel schließlich widmet sich Bauer der osmanischen Eroberung der Stadt sowie dem Schicksal der Demetrioskirche in osmanischer Zeit. In einem Epilog (13. Abschnitt) schließt Bauer gewissermaßen den Kreis, indem er nochmals auf die Überführung der Demetriosreliquien zu sprechen kommt. Des Weiteren geht er aber auch auf die Demetriosikone von Sassoferrato ein, die er als „eine ,hyper byzantinische1 Collage, in der sich die Bedürfnisse· der westlichen Besitzer und Betrachter spiegelten“ (460), interpretiert. Der Band endet mit einer Bibliographie (463-474), einem nützlichen Glossar, in welchem wichtige Fachtermini erklärt werden, (475f), einem Register (477-483) sowie den Ab bildungsnachweisen (484-488). Der stringent aufgebaute, gut lesbare Band ist mit zahlreichen, in aller Regel äußerst hochwertigen Abbildungen versehen. Positiv hervorzuheben ist zudem, dass den eigent lichen Text des Autors eine große Anzahl an Quellenübersetzungen begleitet, wobei jene Quellen, von denen bislang keine deutsche Übersetzung existierte, zumeist von Elisabet Sotiroudi, gelegentlich auch von Albrecht Berger ins Deutsche übertragen wurden. Was die Quellen betrifft, wurde im Falle des Petrus Tudebodus (331, Anm. 18) sowie des Demetrios Chomatenos (410, Text 8) allerdings die Nutzung der aktuell maßgeblichen Edition versäumt.1 Als kleiner Kritikpunkt sei zudem der Hinweis gestattet, dass dem Manuskript auf ortho graphischer Ebene eine nochmalige Durchsicht gut getan hätte. Dies betrifft insbesondere Slavica (38: Сирмшјума [lies: Сирмијума]; 119, zu Abbildung 73:
Poreč [lies: Poreč]; 308 und 311: Pees [lies: Peć]; 315, Anm. 112: Граһа [lies: Грађа]; 292: Veliki T'rnovo [lies: Veliki Tărnovo]; 314: Cařgrad [lies: Cargrad]) sowie Graeca (182, Anm. 87: αυτούς [lies: αυτούς]; αύτά [lies: αύτά]; 421, zu Abbildung 18: ό [lies: ô]; 433, Anm. 7: Ανατο λής [lies: Ανατολής]), gelegentlich aber auch Deutsches (55: Au ewahrungsorte [lies: Auf bewahrungsorte]; ebenda: Heilige [lies: Heiligen]; 57: Spä-tantike [lies: Spät-antike]; 147: erhaltenen [lies: erhalten]). Ebenso wäre ein nochmaliger kritischer Blick auf die ein oder andere Karte bzw. Ab bildung wünschenswert gewesen: So ist auf einer Karte (325) das Kaiserreich von Trapezunt zwar eingezeichnet, findet sich jedoch nicht in der Legende. Auf einer Abbildung (37) sollen laut Legende die Säulen aus prokonnesischem Marmor grau markiert sein. Grau markierten Säulen tauchen hier aber gar nicht auf. Gelegentlich kann man auch inhaltlich anderer Meinung sein. Da der Rezensent weder Kunsthistoriker noch Archäologe ist, muss die Bewertung der diesbezüglichen Ab schnitte Spezialisten Vorbehalten bleiben. Doch sei im Folgenden auf einige problematische historische Aspekte des Bandes verwiesen: Die Transferierung des Handels mit den Bulgaren von Konstantinopel nach Thessaloniki unter Leon VI. (886-912) dürfte doch eher profanere Gründe gehabt haben als die Dankbarkeit des Kaisers gegenüber dem Heiligen Demetrios (256); zur Problematik des Beinamens „Bulgarentöter“ (271) für Kaiser Basileios II. (976-1025) siehe Stephensons „The Legend of Basil the Bulgar-Slayer“2. Die Frage nach der Echtheit des
Briefes des Kaisers Alexios I. Komnenos an Robert von Südost-Forschungen 76 (2017) 435
Volkskunde Flandern (320f.), die Bauer als für das Thema unerheblich betrachtet, gewinnt letztlich doch an Bedeutung, wenn er ihn (meines Erachtens zu Unrecht) als Beleg für die These heranzieht, die Teilnehmer des 1. Kreuzzugs (1095-1099) seien mit dem Argument nach Konstantinopel gelockt worden, es sei besser, ihnen fielen die Schätze Konstantinopels in die Hände als den „Ungläubigen“. Die Ereignisse des 4. Kreuzzugs sind dermaßen kondensiert wiedergegeben, dass vieles unklar oder missverständlich bleibt (324£): Dass man den Seeweg deshalb wählte, um Konflikten mit Byzanz aus dem Weg zu gehen, scheint eher unwahrscheinlich. Vielmehr war aufgrund des ursprünglichen Ziels des Kreuzzugs unternehmens (Ägypten und nicht, wie behauptet, das Heilige Land, 325) der Seeweg die konsequente Wahl. Warum mit der Eroberung Zaras (Zadar, Kroatien) 1202 klar ge wesen sein sollte, dass Byzanz als Gegner der Kreuzfahrer zu betrachten war, bleibt un klar. Zara unterstand zu diesem Zeitpunkt dem ungarischen König Béla III. Völlig aus geblendet werden zudem die innerbyzantinischen Auseinandersetzungen (Flucht des Kaisers Alexios IV. Angelos in den Westen), welche die Umlenkung des Kreuzzugs nach Konstantinopel erst auslösten. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Behauptung, die Kreuzfahrer hätten bald nach der Eroberung Zaras an eine Eroberung Konstantinopels gedacht, um sich der dortigen Schätze zu bemächtigen, so nicht zu halten ist. Es ging zu nächst lediglich darum, Alexios IV. bzw. dessen gestürzten Vater Isaak II. Angelos (wieder) einzusetzen - wenn auch gegen entsprechende
Entlohnung. Diese Mónita bzw. divergierende Sichtweisen stellen jedoch letzdich Quisquillen dar, die nichts daran ändern, dass Bauer mit seiner Monographie ein beeindruckendes Werk vorgelegt hat, welches Vertreter unterschiedlichster mediävistischer Disziplinen, aber auch interessierte Laien in Zukunft sicherlich mit großem Gewinn heranziehen werden. Göttingen, Frankfurt/M. Martin Marko Vučetić 1 Petrus Tudebodus, Historia de Hierosolymitano itinere. Hgg. John Hugh Hill/Laurita L. Hill. Paris 1977 (Documents relatifs à l’histoire des croisades, 12); Demetrius Chomatenus, Ponemata diaphora. Hg. Günter Prinzing. Berlin, New York 2002 (Corpus Fontium Históriáé Byzantinae, 38). 2 Paul Stephenson, The Legend of Basil the Bulgar-Slayer. Cambridge 2003. Thomas M. Bohn, Der Vampir. Ein europäischer Mythos. Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag 2016. 368 S„ 20 s/w-Abb., 2 Kt., ISBN 978-3-412-50180-8, € 24,99 Ein Buch über die Figur des Vampirs muss nicht begründet oder gar gerechtfertigt werden, denn mit zyklischer Regelmäßigkeit boomen sowohl mediale Präsenz (Belletristik, Kino) als auch entsprechender Erklärungsbedarf. Die vorliegende Monographie erklärt 436 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Vampirismus, also den Glauben an wiedergehende Untote und Blutsauger, als langfristiges, vorrangig imperial-grenzräumliches, in Europa verortetes Phänomen. Die Gliederung folgt vorrangig chronologischen, räumlich und thematisch ergänzten Gesichtspunkten. Kapitel 1 stellt das zugrundeliegende Konzept von „Vampirismus als imperiale Kategorie“ vor, Kapitel 2 („Vampirismus im Okzident“) widmet sich Wieder gängern im Mittelalter und Nachzehrern in Früher Neuzeit, Kapitel 3 („Vampirismus im Orient“) dem gleichen Zeitraum im Kiever Reich und Polen-Litauen zum einen und den griechischen Gebieten unter osmanischer Herrschaft zum anderen. Kapitel 4 („Vampirismus in den Schlagzeilen“) fokussiert zum einen die heute als paradigmatisch angenommenen serbischen Fälle des 18. Jh.s und zum anderem ihre großräumige Kolportage und dis kursive Wirkung; Kapitel 5 („Vampirismus im Volksglauben“) rekurriert wieder stark auf Räume (Ost- und Ostmitteleuropa vs. Donau-Balkan-Raum) und konzentriert sich auf ethnologische Erfassung, sowie fiktionale Ausgestaltung als literarisches Motiv im 18., insbesondere im 19. und punktuell im frühen 20. Jh.; Kapitel 6 („Vampirismus in der Moderne“) behandelt die 2. Hälfte des 20. Jh.s im östlichen Europa und Deutschland; Kapitel 7 schließlich thematisiert den „Vampir als lokalen Sündenbock“. Der Schwerpunkt des Interesses liegt auf der Erforschung kollektiver Ängste vor dem Hintergrund breiter thanatologischer Zusammenhänge, wobei sozialgeschichtliche Hinter gründe und Kontexte stets mitgedacht werden. Eindringlich wird gezeigt, dass der Vampir
schon im Mittelalter ein Bild für soziale Ungleichheit oder zumindest Versagen der Gesell schaft sein konnte, wenn etwa Selbstmord als Ursache für Vampirismus gedeutet wurde; in der Frühen Neuzeit war er zunehmend Mittel der Sozialdisziplinierung vor dem Hinter grund religiös-konfessioneller Auseinandersetzungen. Ab der Behandlung des 18. Jh.s ge währleistet der Autor eine breite Einbettung seiner Ausführungen in die Ereignis-, Sozialund sogar Literaturgeschichte des östlichen Europas; in der Analyse des Vampirglaubens werden nun auch Erklärungen angeboten, die heute als medizinisch und insbesondere psychologisch (Einbildung / Suggestion, Ängste / Schuldgefühle und ihre Verarbeitung v. a. im Schlaf, Persönlichkeitsspaltung) bezeichnet werden. Daneben spitzen sich im 19. Jh. auch hinsichtlich des Vampirglaubens Exklusionsmomente ethnischer Art zu - der Vampir wird jedenfalls mit der Aufklärung zum Marker für zivilisatorische Rückständigkeit. Ver gleiche, Bewegungen und Transfers des Motivs entlang des West-Ost-Parameters werden vom Autor laufend berücksichtigt, wobei er sich bei aller geographisch-räumlichen Präzision stets auch der „Beliebigkeit des Diskurses“ (133) bewusst ist — etwa im Zusammenhang mit antisemitischer Konnotation des Blutsaugens. Bohn kommt diesem Aspekt mit breiter Kontextualisierung hin zu vergleichbaren, angrenzenden oder überlappenden, häufig mit Verdammnis und Teufel assoziierten Vorstellungen (Geister, Totenkulte, Hexenglauben, Wahrsagerei, Zauberei etc.) bei. Kategorisierung und Systematisierung haben daher un missverständlich ihre Grenzen:
Vielgestaltigkeit und Poly-Bedeutung des sowohl männlich als auch weiblich anzutreffenden Vampirs machen die Zurückführung auf einen Ursprung und die Hinführung zu einer allgemeinen Bedeutung unmöglich. Dennoch können in Friktion von vorchristlichen Vorstellungen und Orthodoxie drei Funktionen festgemacht Südost-Forschungen 76 (2017) 437
Volkskunde werden: Er ist Transmitter zum Jenseits, Feindbild zum „kontrollierenden Umgang mit Ängsten“ (295) und Sündenbock. Die Vielfalt vampirischer Vorstellungen wird mittels Materialreichtum gespiegelt und in satztechnisch exponierten Fallbeispielen gezeigt. Die Arbeit ist mit Karten, interpretativ genutztem Bildmaterial, einem Personen- und einem Ortsregister großzügig ausgestattet. Bedauerlicherweise fehlt eine Diskussion um die Gültigkeit globaler Bezüge, die noch mehr gesellschaftspolitische Relevanz des Buches gewährleisten würden: Immerhin unter sucht der Autor politisch-administrative Entitäten über die Kontinente hinaus - etwa das Osmanische Reich. Thanatologische Erklärungsmuster in Asien oder Afrika haben doch frappierende Ähnlichkeiten zur Vielgestalt des europäischen Vampirs, die zumindest skizziert hätten werden können. Hinsichdich der Gliederung ist Kapitel 5 zu problematisieren, da es fast ein Drittel des Gesamtumfanges (159-271) ausmacht und unpräzise überschrieben ist: Es beschäftigt sich nicht nur mit dem Volksglauben, sondern auch mit bekannter (Bürger, Goethe, Polidori, Le Fanu, Stoker) und in diesem Zusammenhang weniger bekannter (Mickiewicz, Karadžič) bzw. bewusst fiktional-belletristischer Literarisierung des Motivs. Ferner werden hier Vampirismus-Fälle, die doch ausgeprägt typologische Züge hinsicht lich ihrer Akteure und Abläufe haben, v. a. fur Südosteuropa minuziös nach Regionen ge gliedert; damit werden potentielle historische oder anthropologische Zusammenhänge eher verschleiert als verdeutlicht. Zudem wird die durchaus differenzierte
Gliederung unterhalb der Ebenen von Kapitein und Unterkapiteln im Inhaltsverzeichnis nicht deklariert. Im wissenschaftlichen Apparat muss auffallen, dass nicht alle Titel in den Anmerkungen auch im Literaturverzeichnis zu finden sind. Dies mag der Verschlankung des Apparates dienen der Übersicht über benutzte oder eben nicht benutzte Literatur dient es aber leider nicht. Zusammenfassend gesagt dominieren jedoch ganz klar die Stärken der Arbeit. Der Autor versteift sich ganz bewusst nicht darauf, die Herkunft des Vampirglaubens zu klären; stan dessen zeigt er anhand einer umfassenden Zusammenführung von Materialien, Motiven und Erklärungsmustern die vitale Kraft der mythischen Figur Vampir sowohl in ihrer Viel falt nach innen als auch in ihrer Offenheit nach außen. Wien Christoph Augustynowicz Culinaria balcanica. H gg. Thede Kahl / Peter Mario Kreuter / Christian Vogel. Berlin : Frank Timme 2015 (Forum: Rumänien, 24). 376 S., 21 Abb., ISBN 978-3-73290138-8, €49,80 Forscher verschiedener Fachrichtungen und Mitglieder des Balkanromanistenverbandes haben sich vom 17. bis 19. Mai 2012 in Bad Kissingen getroffen, um die Gaumenfreuden Südosteuropas in theoretische und sachliche Kostproben szientifischer Diskursivität zu 438 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen verwandeln und sich zu fragen, ob es überhaupt so etwas wie eine (oder mehrere) Balkan küchein) gibt. Davon ist schon im Vorwort die Rede: „Die Frage nach den Eigenheiten der Culinaria balcanica führt unweigerlich zu einem integrativen Ansatz, der die Tat sache berücksichtigt, dass die Ingredienzien der balkanischen Küchenkulturen unterschied licher, oft schwer bestimmbarer, da multikultureller Herkunft sind, was jedoch nicht im Gegensatz zu stehen braucht zur Herausbildung nationaler, lokaler oder überregionaler Charakteristika. Was unter den Speisen und Getränken eigen, fremd, romanisch oder gerade nicht-romanisch ist, steht im Mittelpunkt dieses Bandes. Unser Blick in die Kochtöpfe, auf die Speisekarten und Tischsitten der Balkanromanen — aber auch Türken, Griechen, Albaner, Bulgaren, Makedonier, Serben, Kroaten, Bosnier, Ungarn etc. fragt nach ge meinsamen und unterschiedlichen Spezialitäten“ (9). Und an anderer Stelle heißt es: „Die verschiedenen Zugänge zum Thema, die unser vorliegendes Buch vereint, reflektieren die Veränderungen des Habitus, spiegeln die wechselvolle historische Entwicklung von Ess kultur und kultureller Identität in Südosteuropa. Im spannungsreichen Verhältnis zwischen Geschichte und Fiktion gilt es, Begriffe, Sprichwörter, Sprachen, alltägliche und wissen schaftliche Diskurse zu erforschen, in welchem Essen und Trinken ein zentraler Ort sind, an dem tradierte Normen, Wertvorstellungen, individuelle Erfahrungen und kollektive Er kenntnisse verhandelt werden“ (10f.). Mit erhöhter Speichelproduktion und zerebraler
Belastungserwartung wendet der Leser die Seite und findet sich im Hauptteil des Buches. Hat er vorher das Inhaltsverzeichnis studiert, so weiß er, dass die 22 kulinarischen Essays in drei Hauptteile gegliedert sind: „Culinaria balcanica“, „Culinaria balcanica romanica“ und „Culinaria balcanica romanica literara“, also in konzentrischen Kreisen und Ringen von den leiblichen Freuden zu den geistigen. Bejahrtere Balkanologen werden sich daran erinnern, dass Dagmar Burkhart schon einmal einen ähnlichen Kongress organisiert hat, 1989 in Hamburg.1 Den Reigen der Beiträge im panbalkanischen Abschnitt eröffnet Klaus Steinke, „Balkanküche - revised“ (15-28), „revised“ deshalb, weil er sich schon einmal auf das Thema eingelassen hat.2 Der Artikel ist aus deutscher Sicht geschrieben und analysiert die Wellen der Rezeption der Balkanküche in Mitteleuropa: zuerst die Kroaten mit den Ćevapčići usw., dann die Türken mit dem Döner, die Griechen mit Suvlaki und Gyros usw., die alle bereits Charakteristika der globalen westlichen Massenkultur geworden sind. Da stellt sich gleich auch die Frage nach den Differentialkriterien zu anderen Küchen, die komplexe Sprachsituation, dass die überwiegend türkische Nomenklatur zwar für einen Großteil dieser Speisen geläufig ist, die Etymologien jedoch in verschiedene Richtungen weisen, die Frage nach Ingredienzien und Zubereitung, die soziale Ausdifferenzierung der Speisen, die semantischen Differenzierungen der Namengebung. Diese Fragen münden aus in den Vorschlag der Erstellung eines Balkankulinaria-Atlasses mit Verbreitungskarten, dessen
Feldforschungsarbeit und Zusammentragung gesicherter Daten sicherlich einen guten Magen erfordert. Nach dem Grundsatzreferat, das die Erwartungen des Lesers etwas herabgedrückt hat, folgen speziellere Beiträge: Der Rezensent berichtet über,Anthropomorphe Brotgebilde in Südost-Forschungen 76 (2017) 439
Volkskunde Südosteuropa und ihre Beziehungen zur byzantinischen Ikonographie“ (29-37); Johannes Kramer beschäftigt sich aus sprachwissenschaftlicher Sicht mit dem „Balkanischen Wander wort pitta,Blätterteiggebäck1 “ (39-54), wo deutlich das Wort (mit seinen etymologischen Verzweigungen) über die (schmackhafte) Sache den Sieg davonträgt. Schon feuriger ist der Artikel von Gabriella Schubert, „Wem gehört der/die/das Paprika?“ (55-65), die sich schon einmal dieser (Streit) Frage gewidmet hat3; der mediterranen Diät widmet sich Corinna Leschber, „,Wein‘ und ,Ö1‘ in ihren mediterranen Bezügen“ (73-82), gefolgt von einem „berauschenden“ Artikel von Dagmar Burkhart, „Rakija und der Rauschteufel. Zu Symbolik und Axiologie des Schnapses auf dem Balkan“ (83-96) mit Ausblicken in den ritualen Gebrauch, die einschlägigen Sprichwörter, Legenden und Geschichten,4 als Teufelstrunk im Gegensatz zum hieratischen Wein usw. Zur Ernüchterung braucht der Leser nun Kaffee: Er wird von Valeria Heuberger serviert, „Zur Kulturgeschichte des Kaffeegenusses im Osmanischen Reich sowie im Balkanraum“ (97-110), wo auch die be kannte Geschichte, wie der „Museltrank“ während der 2. Wiener Türkenbelagerung in die Wiener Kaffeehäuser kam, im Rahmen der Verbreitung des „krankmachenden“ Getränks (Bach, „Kaffee-Kantate“) seit dem 15. Jh. gebracht wird. Im 2. Teil wird der Themenkreis enger und beschränkt sich auf die Balkanromanik. Den Beginn macht Ioana Scherf, „,Die Sprache bittet zu Tisch“: Zu Lebensmittelbegriffen in rumänischen Redewendungen“ (113-130, ein systematischer und rundum „sättigender“
Artikel); sprachwissenschaftlich geht Thede Kahl vor, „Zum Schicksal kulinarischer Orientalismen“ (131-148, vor allem im Rumänischen) mit einer reichhaltigen Lexem liste und Beispielen aus der Literatur5; Jürgen Kristophson wartet mit einem etwas enigmatischen Titel auf: „Warum können Kebap und seine Ableitungen keine romanischen Erfindungen sein?“ (149-156), wobei die Revue derTurzismen bei einem schwer übersetz baren Balkanwort endet: chefmit seinen semantischen Nuancen - das Wohlbefinden nach Speise und Trank, zechen, feiern (im Griechischen κέφι ein seelischer Zustand der Animiertheit und des gehobenen Wohlbefindens, das sich auch in Sangesfreude und Tanzlust äußert, Lustig-Sein, Freude-Empfinden). Hier ist ein Problemfeld der Semasiologie angeschnitten, das nicht mehr nur linguistisch zu lösen ist, sondern ethnologischer Feld- und Ritual forschung bedarf.6 Weiter geht es mit Luminiţa Fassel, „Haben die Rumänen eine eigene Küche? Eine diachronische und nicht zuletzt moldauische Perspektive“ (157-168), sowie Bilijana SiKiMić und Annemarie Sorescu-Marinkovič über Nahrungsfeldforschung bei der Zigeunergruppe der Boyash: „Food of the Boyash. Comtemporary fieldwork data“ ( 169-184). Reiseberichte aus der Phanariotenzeit wertet dann Peter Mario Kreuter aus: „Zuckerwerk und zehn Bouteillen Wein. Oder: Was uns Reise- und diplomatische Berichte über das kulinarische Leben in den Donaufürstentümern mitteilen können“ (185-202). Es folgt ein rumänischer Beitrag von Adrian Majuru, „Timpul şi memoria alimentaţiei urbane. O atitudine faţă alimentaţie în România între anii 1840 şi
1940“ (203-222) über die Änderung der Essgewohnheiten mit Verbrauchstabelle nach Produkten im Zeitraum von 1840-1940. Die letzten Beiträge des Abschnitts sind von Anton Sterbling, „Die karge Banaler Küche“ (223-238), Octavian Buda, „Receptarea vegetarianismului în Ţările 440 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Romane. О istorie a alimentaţiei după doctorul Pavel Vasici Ungureanu (1806-1881)“ (239252) und Rodica-Cristina Ţurcanu, „Erlebtes, Erzähltes, Erforschtes. Eine kulinarisch linguistische Reise durch Rumänien mit zeitlichen und räumlichen Abstechern“ (253-274). Der unterschwellige Eindruck eines gewissen thematisch erzwungenen Essayismus wird im letzten Abschnitt noch etwas manifester, da die rumänische Literatur aufAngaben zu Essund Trinkkultur durchforstet wird. Es beginnt mit Anke Pfeifer, „Von mămăligă, plăcintă und anderen guten Sachen. Zur identitätsstiftenden Funktion von Ess- und Trinkkultur in der rumänischen Literatur“ (277-291). Hier muss auch Ionesco als gebürtiger Rumäne herhalten, in dessen absurdem Drama-Debut „La cantatrice chauve“ (1950) das Thema bereits angerissen ist, um in „La soif et la faim“ (1964) dann endgültig zum Durchbruch zu kommen, wie auch von Klaus Heitmann in „Naturalia sunt turpia. Eugène Ionescos dramatische Meditationen über das Essen und Trinken“ (293-317) besprochen wird. Den Abschluss bilden dann Urmuz (Demetrų Demetrescu-Buzäu, 1883-1923) mit Christina Vogel, „Die ideale Nahrung. Das Verschlingen der Literatur im Werk von Urmuz“ (319329), wo das anthropophagische Motiv an die „Pariser Einakter“ (1958/59) von Vasilis Žiogas erinnern8, und Ion Luca Caragiale mit gleich zwei Artikeln: Horst Fassel, „Poetik und Essen. Caragiale definiert seine Zielsetzungen“ (331-356, mit einem übersetzten An hang aus den „Fragmenten“) und Ilina Gregori, „,Meine Herren, ich bin der Enkel eines arnautischen Kochs“. Eine Mitteilung von Ion Luca
Caragiale — ein Scherz?“ (357371), wo die Vorliebe des satirischen Dramatikers, an die griechisch-albanische Herkunft seiner Familie von der Insel Hydra zu erinnern, als Ausgangspunkt genommen wird. Seine dialogischen Sketche „Momente“ (1901), die Ionesco später als Ausgangspunkt seiner absurden Dramatik bezeichnet hat9, geben für das Thema der alimentaţie in Rumänien nicht allzuviel her10, vergleicht man etwa die detaillierte Beschreibung der Essgänge und Tafelfreuden, Fischarten und anderer kulinarischer Erlesenheiten im dritten Gedicht des byzantinischen Ptochoprodromos.11 Der ganze Abschnitt erweckt die Lust auf Mehr. Die Untersuchung dieser erfreulichen und für die Balkankultur so charakteristischen Thematik könnte doch auf die gesamte südosteuropäische Literatur, diachronisch bis ins Altertum, ausgedehnt werden. Das gilt in gewissem Sinne für den ganzen Band. Die wissenschaftliche Erfassung von Esswaren, Rohstoffen, Zubereitung, Würzung, Kocharten und Bratweisen, Küchengeräten, Tischsitten, Essgewohnheiten, Formen der Nahrungsaufnahme, Verhaltensweisen bei Tisch, Gebeten und Segnungen, Essgeräten, Speiseritualen, Speisen in Ritualen, Tischordnung, Familienfeiern, religiösen Festen, slava, Gemeinschaftsessen bei panegyria oder nach dem Sammelumzug, Trinken, Trinksprüchen, Saufritualen, Trinkgelegenheiten, Ernüchterungs strategien, Getränken, Essen und Trinken am Grab, Totenschmaus usw. bietet ein weites Feld kulturologischer Untersuchungsmöglichkeiten, denn die geordnete Nahrungsaufnahme ist sowohl ein sozialer wie auch ein kultureller Akt. In diesem Sinne ist der
vorliegenden Band etwas strenger bei den Wörtern und Sachen geblieben, etwas mehr geschmackszentriert und gaumenfokussiert, nomenklaturfixiert und speisekartenbezogen. Essen und Trinken ist eben nicht nur Essen und Trinken im Sinne einer Überlebensnotwendigkeit, sondern Südost-Forschungen 76 (2017) 441
Volkskunde auch ein Akt kulturellen und sozialen Handelns. Oder wie ein österreichisches Sprichwort sagt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Athen, Wien Walter Puchner 1 Dagmar Burkhart (Hg.), Körper, Essen und Trinken im Kulturverständnis der Balkanvölker. Beiträge zur Tagung vom 19. bis 24. November 1989 in Hamburg. Wiesbaden 1991. 2 Klaus Steinke, Die Türken und die Balkanküche. Kulinarisches und Sprachliches aus Bulga rien und Rumänien, in: ebenda, 219-227. 3 Gabriella Schubert, „Pfeffer“ und „Paprika“ im Südosten Europas. Eine sprachliche und kul turhistorische Betrachtung, Zeitschriftfür Balkanologie 28 (1992), 104-130. 4 In der Sammlung von Friedrich Salomo Krauss gibt es gleich vier ätiologische Anekdoten über die Entstehung dieses Teufelstrunks, dem Branntwein: Nr. 178-181, in: Friedrich Salomo Krauss, Volkserzählungen der Südslaven. Märchen und Sagen, Schwänke, Schnurren und erbauliche Ge schichten. Hgg. Raymond L. Burt/Walter Puchner. Wien, Köln, Weimar 2002,298-312 und 638. 5 Thede Kahl, Dynamics of the Common Balkan Lexemes. New Research Perspectives and De siderata in the Field of Balkan Linguistics, Die Welt der SUven 59 (2014), 310-334, 331. 6 Zu regionaler, sozialer und individueller Nuancierung und Ausfuhrungsvarianten der Gebär densprache etwa: Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009, 557-564. Zu den psychischen Voraussetzungen dieser Art des Feierns vgl. die wesentlichen Anmerkungen von Brandi in Rudolf Brandl / Diether Reinsch, Die Volksmusik der Insel Karpathos. Die
Lyramusik von Karpathos. Eine Studie zum Problem von Kon stanz und Variabilität instrumentaler Volksmusik am Beispiel einer griechischen Insel 1930-1981. Göttingen 1992 (1. Hbd.) und meine Anzeige in Südost-Forschungen (53) 1994, 623-628. 7 Ein gutes Bild über die Verschwendungssucht und den Modeputz der Adelsklasse geben nun auch die auf Griechisch verfassten Satiren aus Bukarest vor und nach 1800 ab: Walter Puchner, Κοι νωνικές σάτιρες στο ελληνικό προεπαναστατικό θέατρο (1800-1820). „Κωμωδία νέα της Βλαχίας“, „(Τα αγγούρια του Γενεράλη)“, „Ο χαρακτήρ της Βλαχίας“. Athen 2014. 8 Ders., Ποίηση και μύθος στα θεατρικά έργα του Βασίλη Ζιώγα. Athen 2004, 49-95 — das Motiv ließe sich balkanweit in der Literatur mit Gewinn untersuchen. 9 Eugène Ionesco, Notes et contre-notes. Paris 1965, 117-120. 10 Vgl. zu diesen dramatischen Miniaturen und ihrer dramenhistorischen Bedeutung: Walter Puchner, Historisches Drama und gesellschaftskritische Komödie in den Ländern Südosteuropas im 19. Jahrhundert. Vom Theater des Nationalismus zum Nationaltheater. Frankfhrt/M. u. a. 1994, 108-110. Und zum Vergleich mit Ionesco: Samuel Minea, Das Drama des Alltags bei Caragiale und Ionesco. Diss. Wien 1977. 11 Dazu die hervorragende deutsche Übersetzung von Hans Eideneier, Ptochoprodromos. Ein führung, kritische Ausgabe, deutsche Übersetzung, Glossar. Köln 1991 (Neograeca Medii Aevi, 5). 442 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Δημοτικό Τραγούδι και Ιστορία. 5ο Πανελλήνιο Συνέδριο, Καρδίτσα 23-25 Οκτωβρίου 2015, Πρακτικά [Volkslied und Geschichte. 5. Panhellenischer Kongress, Karditsa 23.-25. Okt. 2015, Akten], Hgg. Evangelos Audikos/B. Koziu. Karditsa: Zentrum fur Histo rische und Laographische Studien „Apollon“ 2017. 558 S., Abb., Musiknoten, ISBN 978-960-89243-5-2 Die themenspezifischen volkskundlichen Kongresse, die seit Jahren in der thessalischen Kreisstadt Karditsa in schöner Regelmäßigkeit stattfinden und vom Zentrum fur Historische und Laographische Studien „Apollon“ und der Abteilung für Geschichte, Archäologie und Sozialanthropologie der Universität Thessalien organisiert werden, ziehen einen großen Kreis volkskundlich interessierter Lehrer und Professoren an. Sie zeichnen sich durch die große Anzahl der Beiträge, manche auch sehr spezifisch, aus, bringen jedoch auch innovative Fragestellungen, die für die Kulturforschung von allgemeinerem Interesse sind. Der 1. Kongress war den Musikinstrumenten und Musikanten gewidmet, der 2. dem Kulturerbe von Thessalien, der 3. hatte das Thema „Frau und Tradition“, der 4. Volks kultur und Schule, und 2015 war der Kongress dem historischen Volkslied bzw. der Be ziehung der gesungenen Oralkompositionen zur Geschichte gewidmet. Hier seien nur die interessantesten Beiträge besprochen. Den Beginn macht Evangelos Avdikos, Professor für Sozialanthropologie der Uni versität Thessalien in Volos, mit seinem Referat zu den Lamentationen über die Gefallenen in den Makedonienkriegen 1912-1913 (13-41), v. a. über die Ermordung von Georg I. am
18.3.1913 in Thessaloniki. Die Analysen von Klageliedern können sich auf eine breite Bibliographie stützen, die Lektüre der vielen Beispiele bleibt dennoch bewegend. Die Fortsetzung bringt L. A. Grivellas zu den Kleftenliedem (42-52) und der Rezensent zu Historizität und archetypischen Mythen im Volkslied des Balkanraums (53-61).1 Unter den weiteren Beiträgen ist zu erwähnen das Referat von Ioannis Papakostas über eine unbekannte anonyme Volksliedsammlung aus dem Jahr 1842, entstanden in Lixuri auf Kefalonia (69-78) sowie die methodologische Kritik von M. G. Meraklis an der Kritik von Giannis Apostolakis der epirotischen Volksliedsammlung von P. Aravantinos aus dem Jahre 1880 (79-86). Von besonderem Interesse ist der Artikel von Antonis A. Antoniu über den öko nomischen Realismus im Volkslied (87-94), v. a. in den Liedern auf die Fremde, aber auch in satirischen Liedern auf den bejahrten reichen Bräutigam, die „romantischen” Schrift kundigen, in Hochzeitsliedern usw.; aber unübertroffen an Aktualität ist der umfang reiche Beitrag von Georgios I. Thanopulos, zu den improvisierten Volksliedern von Volksdichtern und Reimeschmieden auf die gegenwärtige Wirtschaftskrise Griechenlands (95-124): die Überbesteuerung; die nicht mehr zu bezahlenden Kredite; die „giftigen“ Rechnungen, die mit der Post eintreffen; die capital controh und die Schlange der Rentner, die vor den Geldautomaten stehen; die Besuche der Troika in Athen, die zu immer neuen Steuerbelastungen führt; Armut und Arbeitslosigkeit; die teuren Medikamente; Zustände, die die Nachkriegszeit in Erinnerung bringen; die
Verantwortungslosigkeit der Politiker; die Südost-Forschungen 76 (2017) 443
Volkskunde stufenweise Reduzierung von Gehältern und Pensionen, aber auch die unbebauten Felder, die verschwendeten Hilfspakete aus Brüssel, die Leichtfertigkeit der Kreditaufnahme; die Steuer hinterziehung als Nationalsport; der Rückgang der Geburtenrate und Eheschließungen; das Memorandum in wiederholten Auflagen als neue Okkupation; Aufrufe zum Widerstand; die „kalanda“ (Neujahrslieder) aufAngela Merkel („Erster Monat, Jahresanfang - wir leben im tiefsten Winter / ein guter Anfang dieses Jahr — zugleich eine Besatzung. “, oder: „Erster Monat, Jahresanfang / im Schneesturm der Krise / der kommt auch dieses Jahr / vom Thron der Troika. // Die Nummer Dreizehn kommt/ und begrüßt uns alle / und aus Berlin kommt sie/mit Geigen und Klarinetten“). Weitere Themen sind Realitätsflucht, Depression, die Auswanderung der jungen Generation, Satire und Humor, das Motiv der Zahlungsver weigerung usw. Diese provisorische Sammlung allein ist ein getreues Stimmungsbarometer der öffentlichen mentalen und psychischen Reaktionen breiter Populationsschichten auf die Krise: Wut und Verzweiflung, Selbstkritik und Depression, das Gefühl der Fremdherrschaft und gewaltsamen Okkupation (Reminiszenzen der historischen Vergangenheit), Satire und Humor, Trauer um die junge Generation, düstere Zukunffsaussichten, Aufrufe zum Wider stand usw. Der in den balkanischen Volkskulturen traditionelle Widerstand gegen den Staat findet hier vorgegebene Mentalitäten und fertige Formulierungen aus der Vergangenheit der Graben zu „Europa“ ist wieder breiter geworden. Weiter von Interesse ist die Studie über die
Auswanderungslieder in Zagora im Pelion-Gebirge (125-134), den Einfluss der byzantinischen Musik auf den Volksgesang (155-161); V. D. Anagnostopulos über das Motiv des Verrats der Tochter, die sich als Palikare verkleidet, durch den Hl. Georg (162-169)2; zum selben Thema auch Panagiotis Nannos (170-177). Weitere Studien beschäftigen sich auch mit dem Tanz: Zoi N. Margam zum „Makrynitsa“Tanz im Pelion-Gebirge (178-190, mit reichhaltiger Bibliographie); Tanzspezialist K. G. Sachinidis über historische getanzte Lieder im Kreis Elásson in Nordthessalien (191-215); A. Ch. Cheilam zum „tsakonischen“ Tanz (245-251). Interessant auch der Beitrag zur Obszönität im Volkslied von A. Kubura (286-293) mit ihrer satirischen Übersteigerung ins Groteske sowie der historische Beitrag von K. Liapis über die Revolution von 1821 im Pelion-Gebirge im Volkslied (340-350). Andere Studien beschäftigen sich mit den Varianten der Ballade von der Artabrücke (358-365); der weiblichen Schönheit im zypriotischen Volks lied (366-374); mit historische Liedern auf namhafte Räuber (375-382); oder PartisanenLiedern aus Kreta (383-392). Ein Großteil der übrigen Beiträge ist pädagogischen Themen gewidmet: der Unterricht des Volksliedes in der Schule, das Volkslied in der Schullektüre und den Textbüchern, die Singpraxis in der Klasse, innovative Programme für Singen und Instrumentenspiel usw. Ein Großteil des Publikums und der Kongressteilnehmer kommt aus der Lehrerschaft. Der nächste Kongress ist den Pflanzen und Kräutern in Therapie, Magie, Kochkunst und Kosmetik gewidmet. In Griechenland nach wie vor eine
Domäne der besseren weib lichen Hälfte. Athen,Wien 444 Walter Puchner Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 1 Vgl. Walter Puchner, Die Folklore Südosteuropas. Eine komparative Übersicht. Wien, Köln, Weimar 2016, 19-38, 264-296. 2 Zur balkanischen Verbreitung: ebenda, 37f., 294£, mit weiterer Bibliographie. Panagiõtês Iõ. Kamēlakēs, Οικονομική ζωή και επαγ/έλματα της Κιμώλου (17ος -20ός αιώνας) [Wirtschaftsleben und (traditionelle) Berufe aufKimolos (17.-20. Jh.)]. Athen: KimoliakaNea2016 (Κιμώλιακή βιβλιοθήκη, 10). 174 S., zahir. Abb., ISBN 978-618-82462-1-8 Unter den vielen, immer noch erscheinenden Lokalmonographien über ein Dorf oder eine Mikroregion mit gemischtem historisch-ethnographischen und regionalkundlichen Inhalt aus dem ägäischen Inselraum sei hier eine kleine Monographie über das Wirt schaftsleben der „Kreide-Insel“ Kimolos in den Kykladen vorgestellt, die der ehemalige Redaktor des Forschungszentrums der Griechischen Laographie der Akademie Athen, Panagiotis Kamilakis, als Beiwerk zu einer Druckausgabe der Handschrift des genannten Volkskundearchivs aus der Feder von Georgios K. Spyridakis über einen Forschungsaufent halt auf der Insel aus dem Jahr 196311 erarbeitet hat. Sie wurde von privater Seite finanziert und vom heutigen Bürgermeister der Insel in Auftrag gegeben sowie eingeleitet, und zeichnet sich durch ihren Materialreichtum, die gute Lesbarkeit und die vielen Illustrationen, sowie die dichte bibliographische Belegung aus. Der 1. einleitende Teil bringt allgemeine Informationen (15-50): die geographische Beschreibung der vulkanogenen und metall reichen Insel, der Rückgang der Einwohnerzahlen im 20. Jh. und die Populationsent wicklung seit
dem 17. Jh. (mit den wichtigsten Archontenfamilien) sowie eine kurze Geschichte der seit dem Altertum für ihren weißen Bimsstein bekannten Kykladeninsel, die eng mit der größeren Nachbarinsel Milos verbunden ist und während der Türkenzeit viele Piratenüberfälle auszustehen hatte. Der 2. Teil ist dem eigentlichen Wirtschaftsleben gewidmet: In einer Einleitung (51-64) wird auf die Wichtigkeit des Seehandels und des Bimssteinabbaus hingewiesen, eine Tätig keit, welche die Handelsverträge des Osmanischen Reiches mit Russland Ende des 18. Jh.s erleichterte. Im Abschnitt zur primären Produktion (65-96) kommt die Landwirtschaft zur Sprache, die Viehzucht, Fischfang und Jagd sowie Bienenzucht. Diese Ressourcen wurden niemals in dem Maße ausgenutzt, wie dies möglich gewesen wäre, denn die Sekundärwirt schaft (97-108) mit Handarbeit und Manufakturen sowie dem Abbau, der Verarbeitung und der Ausfuhr von Bimsstein, Ton und Metallen war immer bedeutender. Zu dem relativen Wohlstand führten auch die Seefahrt und die Auswanderung (109-123). Dies ist alles historisch, aus Reiseberichten und anderen Quellen, Statistiken und Lokalgeschichten, aufgearbeitet und akribisch illustriert und wird in den Ergebnissen der Untersuchung synoptisch zusammengefasst, wo auch die Grenzen der Interpretierbarkeit der Informationen festgehalten sind, sowie ein Ausblick auf die rezenten Entwicklungen durch den Tourismus Südost-Forschungen 76 (2017) 445
Volkskunde gegeben wird; zusammen mit der unbewohnten Nachbarinsel Polyaigo gehört die Insel zu den europäischen Naturschutzgebieten von „Natura 2000“. Mehrere Anhänge (130-164) bringen noch verschiedene historische Originaldokumente, darunter auch ein Glossar zu den Einzelteilen der Segelboote, Volkszählungen, Berufsstatistiken, Dokumente zum Ver einswesen, Lageberichte aus dem Bürgermeisteramt usw. Das sympathische Bändchen ist von einer Spezialbibliographie beschlossen (165-173). Athen, Wien Walter Puchner 1 Georgios K. Spyridakis, Λαογραφικά σύμμεικτα της Κιμώλου. Λαογραφική αποστολή etę Κίμω λον (14-29 Αύγουστου 1963). Einleitung, Editorial, Glossar von Panagiotis Кампашѕ. Athen 2015. Konstruktionen mediterraner Insularitäten. Hgg. Reinhold von Bendemann / Annet te Gerstenberg/Nikolas Jaspert / Sebastian Kolditz (unter Mitarbeit von Kathrin Kelzenberg). Paderborn: Verlag Wilhelm Fink/Ferdinand Schöningh 2016 (Mittel meerstudien, 11). 279 S., zahir. Abb., Grapheme, Kartenskizzen, ISBN 978-3-77055826-1 (Fink)/ISBN 978-3-506-76633-5 (Schöningh), € 44,90 „Der vorliegende Sammelband dokumentiert die Ergebnisse der vom Bochumer Zentrum für Mittelmeerstudien veranstalteten Tagung Konstruktion mediterraner Insularitäten“ (31. Mai und 1. Juni 2013). Initiator war eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe des Zentrums, die sich über zwei Jahre hinweg kritisch mit dem Konzept der Insularität auseinandergesetzt hatte. Aufgrund der in langen Diskussionen gewonnenen Überzeugung, dass sich die Viel falt mediterraner Inseln als historische Landschaften kaum durch ein einheitliches
Konzept von „Insularität“ beschreiben lässt, formulierte die Gruppe für die Tagung das Ziel, diesen Begriff in die Pluralität seiner Konstruktionsweisen aufzulösen und den zugehörigen, aus rezenten Forschungsdiskursen erwachsenden Paradigmen vertieft nachzugehen. Vor diesem Hintergrund ist das breite Spektrum der Fragestellungen und Herangehensweisen der im vorliegenden Band versammelten Aufsätze zu verstehen.“ So beginnt die tiefschürfende Ein leitung der Herausgeber (6-41), die Forschungsgeschichte, -stand und -problematik der in ternationalen Nissologie mit geradezu stupender Literaturkenntnis aufrollen, um dann bei den Mittelmeerinseln zu landen, wobei die Forschung immer mehr das Westmittelmeer als das ostmediterrane Becken (also Südeuropa statt Südosteuropa) im Auge gehabt hat, was zweifellos mit dem traditionell düsteren Byzanz-Bild zu tun hat und den negativen Konnotationen des Osmanischen Reichs bzw. dem kognitiven Stereotyp vom Pulverfass Balkan. Als Kontergewicht kann eigentlich nur die griechische Antike in die Waagschale gelegt werden (einen Ausnahmefall bildet Zypern aufgrund der maritimen Pilgerreisen nach Palästina). Es ist erstaunlich, dass das französische Konzept einer méditerranéité, das in der 446 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 1960er und 1970er Jahren v. a. die Sozialanthropologie zu vergleichenden Studien rund um das Mittelmeerbecken angereizt, heute aber an Elan wesentlich eingebüßt hat (im Ver gleich etwa zur Balkanologie), kein pointiertes eigenständiges Insular-Konzept entwickelt hat, sondern gleichsam an den Küstenstränden vor dem Meer stehengeblieben ist und vor wiegend nur Großinseln wie Sizilien, Sardinien und Zypern behandelt hat, also Inseln die über bedeutende quasi-kontinentale Binnenlandflächen verfügen, welche mit dem Meer eigentlich nichts mehr zu tun haben. Das Meer isoliert und verbindet gleichzeitig. Die Naturgegebenheiten führen zu Intro version und Stabilität in der longue durée, die Begrenztheit der Ressourcen aber zu Extra vertiertheit (ähnlich wie bei den Bergsiedlungen) und geostrategische Schlüsselstellen fuhren zu Handel und Fernkontakten oder auch zu militärischen Operationen, Besetzungen und Fremdherrschaften (also Instabilität). Die gut belegte und von einer enormen Nach weislast rezenter Bibliographie begleitete Einleitung der Herausgeber setzt sich zuerst mit der Definitionsfrage auseinander („Von Inseln zu Insularitäten. Zu Terminologie und Forschungsgeschichte“), setzt sich mit Begriffen wie islandness und insularity und ihren Konnotationen in den „Island Studies“ (mit Periodikum „Island Studies Journal“) aus einander, wobei geographische Größe und kontinentale Nähe eine Rolle spielen (sind die Briten eigentliche Inselbewohner?). Die Definitionsfrage führt zur Erkenntnis, dass es verschiedene „Erfahrungs- und Verarbeitungsmodi,insularer Welten*“
gibt: 1) natürliche Voraussetzungen und sinnliche Wahrnehmung (rundherum Wasser, Innenansicht-Außen ansicht, Gesundbrunnen und Heilungsparadiese, Erholungsraum, Hippokrates/Kos); 2) kognitive Konzeptualisierung und Darstellungsformen (Geographie, Mythos, SegelItinerare und PeriplousAAteratm, Archipelagos, einmalige und seltene Ressourcen usw.); 3) soziale Inszenierung und Persistenz (Laboreffekt der Isolation, Utopien von idealen Gesellschaften, Autonomie, Kolonialisierung, Erwartungshaltungen der Einheitlich keit, Atlantis und ihre Rezeptionsgeschichte); und 4) emotive Auffassung und religiösmetaphyische Integration (Glücksparadiese, Insel der Seligen, Reiseprospekte, Straf- und Verbannungsinseln, Mysterienkulte, Stationen der Verbreitung des Christentums, aber auch der Flüchtlinge aus Afrika und Asien). In der umgreifenden Spannweite der Interdisziplinarität des Ansatzes hat jeder Leser sicher noch etwas zu ergänzen: Als Balkanologe würde ich anmerken, dass es nicht nur Lampedusa ist, das unter dem Flüchtlingszustrom praktisch versinkt, sondern auch Chios und Lesbos / Mytilene (24), als Kulturhistoriker, dass es nicht nur Malta als Schiffbruchsinsel des Apostels Paulus anzuführen ist, sondern auch Zypern für Lazarus nach seiner Wundererweckung (26).1 Ein weiterer Abschnitt „Insularität des Mittelmeerraums — Horizonte der Forschung“ geht dann auf die dominante Westperspektive ein, die Dialektik von Abgrenzung und Konnektivität, das beschränkte Interesse der Nissologie am Mittelmeerraum - im Ostmittelmeerraum herrscht eher das archäologische Interesse vor (Kykladen,
Zypern). Unter sozialanthropologischen Aspekten sind nur die Arbeiten von Emile Kolodny genannt.2 Der Abschnitt endet mit der Be obachtung, dass nur die staatliche Eigenständigkeit und die Zugehörigkeit zur EU spezi fische Inselforschungsprogramme dynamisiert haben, was v. a. Malta und Zypern betrifft. Südost-Forschungen 76 (2017) 447
Volkskunde Die Einleitung endet dann mit einer ausführlichen Darlegung der „Ergebnisse und Schwer punkte der Beiträge dieses Bandes“. Nach der Lektüre des Sammelbandes verbleibt der Leser mit dem Eindruck, dass sich diese gewichtige Einleitung eigentlich für ein konziser gefasstes Kompendium geeignet hätte, als es die eher disparaten Beiträge dann tun. Der enorme Radius der Interdisziplinarität (von der prähistorischen Archäologie über Antike, Mittelalter, Neuzeit bis hin zur rezenten politischen und sozialen Geschichte) hat dies wohl nicht mehr erlaubt. Hier hätten z. B. auch die natur- und kulturgeographischen Arbeit von Helmut Riedl und der Salzburger Geographischen Schule, die Inseln und Inselsiedlungen wie Santorini, Mykonos, Syra, Naxos, Siphnos, Seriphos und Thasos systematisch behandelt haben, ihren Platz.3 Die Er gänzungsmöglichkeiten an Konzepten und Methoden sind praktisch uferlos und das ist wohl auch die Crux dieser Fächerkombination mit dem Zentrum die „Insel“. Die ver gleichende Balkanologie könnte die Problematiken rund um die Insularität jedoch gewinn bringend in ihre methodologischen Konzepte einbauen, denn erkleckliche Teile der süd osteuropäischen Kulturgeschichte der Neuzeit, im adriatischen, ionischen und ägäischen Raum, in Kreta und auf Zypern, hat sich aufgrund der „fränkischen“, venezianischen und genuesischen Herrschaft auf den Inseln abgespielt. Dies lässt sich auch kulturgeographisch in einem Langzeitmodell von konzentrischen Ringen rund um den kontinentalen Balkan raum belegen: Im Westen, Süden und Osten sind es die Inselregionen und
Küstenstreifen, die zuerst auf die literarischen Vorbilder der Italienischen Renaissance, des Manierismus und Barock reagieren.4 Die neun z. T. umfangreichen Beiträge setzen mit Marco Frenschkowski ein: „Fortunatae Insulae. Die Identifikation mythischer Inseln mit realen geographischen Ge gebenheiten in der griechischen und römischen Antike“ (43-73). Die Typologie dieses weitreichenden Ansatzes, der sich nicht nur auf den Mediterranraum beschränkt, enthält Paradiesinseln, Toteninseln, numinous-gefährliche Eilande, utopische Eilande und reale, aber sagenumwobene Inseln, Orte des Numinosen, des Eschatologischen, des Monströsen, des Utopischen oder der Glückseligen, meist im Westen angesiedelt (Atlantik, Nordsee, Westmittelmeer), jedoch immer an Rande der damals bekannten Welt. In die Antike führt auch der 2. Beitrag: Christy Constantakopoulou, „Centrality and Peripherality. In sularity and the Appeal of the Religious Networks of Delos and Samothrace in the Clas sical and Hellenistic Periods“ (75-93) - Delos war Sakralzentrum wegen seiner zentrale kontaktiven Lage, Samothrake wegen seiner Isolation und peripheren Lage; hier ist also die gleiche Dialektik am Werk wie beim Insel-Sein generell: Isolationstrend und Kontakt freude, das Meer trennt und verbindet. Eine weite chronologische Spannweite hat sich Simon Puschmann vorgenommen: „Insularum Variētas. Die Inseln Lesbos und Chios in Antike und Mittelalter“ (95-116); was die beiden ziemlich unterschiedlichen Inseln der Ostägäis verbindet, ist die Anbindung an das kleinasiatische Fesdand, die Fernkontakte aufgrund ihrer
geographischen Lage, die Anpassung an historisch wechselnde Macht blöcke wie Persien, Athen, Genua und das Osmanische Reich. Diese 1000-Jahr-Studie ist spannend zu lesen, denn solche Übersichten sind selten. Die Verschiedenheit der beiden 448 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Inselschicksale könnte größer nicht sein: Mehmet II. eroberte Lesbos 1463 gleich nach der Einnahme von Konstantinopel, Chios wurde erst 1566 dem Osmanischen Reich einverleibt, behielt aber wesentliche Privilegien bei. Beide waren Handelsstationen, agierten aber auch als Seemächte an der Peripherie; von Isolation ist eigentlich wenig zu erkennen. Sobald es die Machtkonstellation im Archipelagus erlaubte, entwickeln sie Autonomiebestrebungen; diese haben jedoch niemals zu Konflikten zwischen den beiden Inseln geführt. Nach Sizilien fuhrt dann Giuseppe Petralla, „Im Herzen des Mittelmeers. Das mittel alterliche Sizilien zwischen regionaler Dimension und mediterranen Systemen“ (117-135), von unmittelbarem Interesse für die Südosteuropa-Forschung ist jedoch der sozialanthropo logische Beitrag von Chris tian Giordano, „Mediterrane Insularitäten zwischen Zentrum und Peripherie: Selbstrepräsentationen und Handlungsstrategien“ (137-159), der auf die Übertragbarkeit der „transmediterranen Metapher“ am Ende auch hinweist.5 Es geht um folgendes: Alle großen Inseln des Mittelmeers, Zypern, Kreta, Sizilien, Sardinien und Korsika haben Jahrhunderte wechselnder Fremdherrschaft hinter sich, die zu einer „politischen Kultur des öffentlichen Mißtrauens“ führten (Kapitelüberschrift mit Untertitel: „Zur Rationali tät von mediterranen Betrogenen der Geschichte“). Ich zitiere weitere indizierende Titel thematischer Unterabschnitte: „Die Ungerechtigkeit der dritten Gewalt. Die Justiz als heimtückische Staatsinstanz“, „Politik und öffentliche Verwaltung als Depravationsprozess.
Politiker und Staatsbeamter als ,Kleptokraten‘“, „Die Gesellschaft als Patronage- und Klientel system“, „Ambivalenzen und Konflikte zwischen staatlicher Legalität und gesellschaftlicher Legitimität. Zur sozialen Logik des öffentlichen Misstrauens in der politischen Kultur“ und „Schlußbemerkungen. Zur Rationalität des öffentlichen Misstrauens mediterraner Akteure“. Dies ist für Sardinien und Sizilien geschrieben, entspricht aber ziemlich genau der balkanischen Widerstandskultur gegen Staat, Gesetz und Öffentlichkeit. Ich zitiere aus der Zusammenfassung: „Der hier zum Schluss erwähnte politische Skeptizismus mediterraner Akteure lässt sich am deutlichsten in den Inselgesellschaften empirisch beobachten. In diesem Sinne sind vor allem Sizilien, Sardinien, Korsika, Kreta und Zypern aufgrund des regen, historisch nachweisbaren Fremdherrschaftswechsels und der entsprechend tiefgreifenden Überlagerungserfahrungen der Menschen besonders geeignete Feldforschungsräume für die empirisch arbeitende Anthropologie“ (159). Diese „transmediterrane Metapher“ lässt sich, so das Fazit, auch auf Südosteuropa oder Südamerika übertragen. Julia Chatzipanagioti-Sangmeister beschäftigt sich mit Reiseberichten über Zypern: „Der Wechsel der Worte. Netzwerke, Informationskanäle und Rezeption des Anderen in Reiseberichen des 18. Jahrhunderts über Zypern“ (161-173). Als letzte Station der Seereise ins Heilige Land (und erste auf der Rückreise) war Zypern seit dem Mittelalter die am besten dokumentierte Insel des Mittelmeerraums, was die Reiseberichte betrifft. Interessant ist nun die
Informationsbeistellung in der osmanischen Zeit der Insel nach 1571. Das Informantennetzwerk oraler Natur bestand zu dieser Zeit (im 18. Jh. setzt dann die periegetische Literatur dynamischer ein) aus katholischen Geistlichen, Konsulatsbeamten und Kaufleuten. Aufgrund fehlender Sprachkenntnis bzw. beschränktem Bewegungsradius kommen die Periegeten selten mit Einheimischen in Kontakt. Südost-Forschungen 76 (2017) 449
Volkskunde Die restlichen Beiträge beschäftigen sich mit verschiedenen Themen: Gian Franco Chiai, „Thinking Spaces as Islands. Insularität als mentales Modell in der Antike“ (175- 198), Dirk Godenau, „Islands, Borders and Migratory Transnationalism. The Case of South Moroccans and the Canary Islands“ (199-223) und Christian Depraetere/Michael Meichsner, „A Geohistorical Perspective on the Islands of the Mediterranean and the Baltic Sea“ (225-264). Der interessante Band ist von einem Register beschlossen. Athen, Wien Walter Puchner 1 In seinem zweiten Leben Bischof der Stadt Kition / Larnaka, in Zypern auch als Heiliger ver ehrt, dies nach der orthodoxen Tradition; nach der katholischen landete er auf der Mittelmeerflucht in Marseille, vgl. Walter Puchner, Studien zum Kulturkontext der liturgischen Szene. Lazarus und Judas als religiöse Volksfiguren in Bild und Brauch, Lied und Legende Südosteuropas. 2 Bde. Wien 1991,1: 35£, II: 175-179. 2 Emile Kolodny, La population des îles de la Grèce, 3 Bde. Aix-en-Provence 1974; ders., Iles et population en Méditerranée orientale. Istanbul 2004. Zu zahlreichen anderen Monographien darf ich auf die Bibliographie in Walter Puchner, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des me diterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009, 29f., 36-43 verweisen, sowie ders., Θεωρητική Λαο γραφία. Athen 2009, 64-66, 77-91. 3 Herausgegeben in den Editionsreihen „Salzburger Beiträge zur Geographie des Mediterra nen Raums“, „Salzburger Geographische Arbeiten“ und „Salzburger Geographische Materialien“, v. a. in den Bänden der Beiträge zur Landeskunde
Griechenlands I-VI (1979, 1981, 1989, 1993, 1995, 1998) sowie in selbständigen Monographien (Santorini/Mykonos 1980, Syra 1981, Naxos 1982, Siphnos 1983, Seriphos 1986, Thasos 1994). Vgl. dazu Helmut Riedl, Die Griechenlandfor schung am Institut fur Geographie (Rückblick und zukünftige Aspekte), in: Jürgen Breuste/Mar tina Frombild-Eisebith (Hgg.), Raumbilder im Wandel. 40 Jahre Geographie an der Universität Salzburg. Salzburg 2005, 9-25; Herbert Weingartner, Greece as Research Area for Austrian Geo graphers. History, Projects, Results and Perspectives, in: Herbert Kröll (Hg.), Austrian-Greek En counters over the Centuries. History, Diplomacy, Politics, Arts, Economics. Innsbruck, Wien, Bo zen 2007, 197-204 (mit detaillierter Bibliographie). 4 Dazu Walter Puchner, Die Literaturen Südosteuropas. 15. bis frühes 20. Jh. Ein Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2015. 5 Dazu Christian Giordano, The Anthropology of Mediterranean Societies, in: Ullrich Kockel/Mairead N. Craith/Jonas Frykman (Hgg.), A Companion to the Anthropology of Euro pe. Oxford 2012, 13-31, und ders., Ehre, Status, Reputation und Schichtzugehörigkeit in der sizilianischen Gesellschaft. Eine sozialanthropologische Untersuchung, in: Wolfgang Gruber/Stephan Köhler (Hgg.), Siziliens Geschichte. Insel zwischen den Welten. Wien 2013, 188-204. 450 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Medieval and Early Modem Performance in the Eastern Mediterranean. Hgg. Arzu ÖzTÜRKMEN / Evelyn Birge Vitz. Turnhout: Brepols Publishers 2014 (Late Medieval and Early Modern Studies, 20). XXXVI, 576 S., 82 Abb., ISBN 978-2-503-54691-9, € 130,Der dem verstorbenen türkischen Theaterhistoriker Metin And gewidmete und von Richard Bauman mit Reflexionen zum performative turn in den Kulturwissenschaften ein geleitete, umfangreiche und gehaltvolle Band geht auf eine Konferenz in der Boğaziçi Uni versität in der Bosporus-Metropole 2007 mit dem Thema „Performance and Performers in the Eastern Mediterranean from the 11th to the 18th Century“ zurück und unterstreicht in der ausführlichen Einleitung (XXI-XXXVI) neben den Inhaltsanalysen der Einzelkapitel zu Beginn auch die Tatsache, dass in den Studien zum Kulturbegriff der z. T. imaginierten mediterranéité der sozial- und kulturanthropologischen Studien seit den 1960er Jahren der Ostmittelmeerraum der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Periode vorwiegend unter der Osmanenherrschaft zu kurz gekommen ist, was natürlich auch vorwiegend eine Quellenfrage darstellt. Die relative lange Inkubationszeit des Sammelbands, der an Qualität und Quantität die einfachen Kongressakten eigentlich schon übersteigt, ist jedoch der Aus gewogenheit in der Thematik und z. T. auch der Güte der Inhalte zugute gekommen. Dabei sind durchaus nicht alle Beiträge von gleicher Innovativität. In der Performance-Diskussion um eine mögliche Definition dieses Begriffs folgt man eher den Eingrenzungsversuchen von Richard Bauman1 und schließt
folkloristische Gattungen wie die oralen Erzählgenres und das Schattentheater, aber auch traditionelle Tanzformen mit ein. Diese bedeutende Spann weite von Phänomenen die nach den methodischen Vorgaben der performance studies große Teile der Gesamtkultur umfassen, werden in fünf Hauptgruppen untergeteilt: „Verbal Art as Performance“, „Performance Under Imperial Realms“, „Modes and Varieties of Enter tainment“, „Iconography“ und „Ritual Roots of Performance“. Die Auswahl der Einzel themen ist nicht nur auf das Vorhandensein von ausgewiesenen Spezialisten angewiesen, sondern vielfach auch einfach durch die historische Quellenlage bestimmt. Der 1. Teil, „Verbal Art as Performance“, umfasst sieben Studien. Den Beginn macht, nach einem Kurzardkel zu Leben und Werk von Metin And (1927-2008) aus der Feder der Heraus geber (3-4), die Studie des Geehrten „Storytelling as Performance“ (5-18), der eine Typo logie und Morphologie des meddah in der arabischen und osmanischen Literatur gibt bzw. zum Märchenerzähler in der heutigen Türkei, im Iran und in Ägypten. Jeder Einzelbeitrag ist durch eine Bibliographie abgeschlossen. In der Folge kommen die hebräischen Geschichten erzähler und ihre performativen Elemente zur Sprache (Revital Refael-Vivante, „The Maqama — Between a Tale and a One-Man Show. In Search of its Form of Performance“ 19-36), z. T. auf Shmuel Moreh2 rekurrierend; sodann die performativen Elemente im spät mittelalterlichen Epos (spätes 15. Jh.) der anatolischen Turk-Völker „Dede Korkut”3, die deut lich auf orale Übermittlung weisen (Arzu Öztürkmen, „Orality, Text,
and Performance in the Book of Dede Korkur, 37-46), die Performabilität der kroatisch-glagolitischen Legende um den Hl. Johannes Chrysostomos (Marija-Anna Dürrigl, „Signals of Performability in the Croatian Glagolitic ,Legend of St John Chrysostom1“, 47-62), deren Text wahrscheinSüdost-Forschungen 76 (2017) 451
Volkskunde lich laut vorgelesen wurde (mit einem Textbeispiel zur Dialogizität und dem Gebrauch der direkten Rede - diese Elemente sind jedoch in der Predigtliteratur ist Ost- und Westkirche seit der Kirchenväterzeit gang und gäbe)4. Nach Acra in Palästina während des 7. Kreuzzugs 1248-54 entfuhrt uns der darauffolgende Beitrag, wo Jean de Joinville, der Autor von „Vie de Saint Louis“, 1250/1251 ein französisches Credo in Deum verfasst hat, dessen Illustrationen erstaunliche Dramatik aufweisen (Michael Corschmann, „The Performance ofJoinville s Credo“, 63-76), während die letzten beiden Beiträge dieses Abschnittes wieder zur Oralität zurückfuhren: zur Fabel um den Fuchs, der sein Herz zu Hause gelassen hat, als rabbinisches Predigtmärlein (AT/ATU 91) (David Rotman, „Medieval Folktales, Modern Problems, and a Gifted Preacher. The Case of Rabbi Joseph Hayyim and the ‘Tale of a Fox that Left his Heart at Home““, 77-88) und zu der in Ost und West verbreiteten syrisch-griechischen hagiographischen Siebenschläferlegende um die Siebenschläfer von Ephesus (Evelyn Birge Vitz, „‘The Seven Sleepers of Ephesus’. Can We Reawaken Performance of the Hagiographie Folktale?“, 89-121; mit Textbeispielen in englischer Übersetzung). Der 2. Teil, „Performance under Imperial Realms“, umfasst ebenfalls sieben Beiträge und bezieht sich sowohl auf Byzanz als auch auf das Osmanische Reich. Den Beginn macht Przemysław Marciniak, „How to Entertain the Byzantines. Some Remarks on Mimes and Jesters in Byzantium“ (126-148), der dem Schaustellerwesen in der Reichshaupt stadt in verstreuten Quellen
nachgeht („Mimus“ wird hier allerdings nicht als organisierte Theaterform verstanden, sondern mit Gauklern und Akrobaten gleichgesetzt). Derselben unklaren Quellenlage in Byzanz, verursacht durch die Polysemie der einschlägigen Termini, widmet auch Tivadar Palágyi seinen Beitrag „Between Admiration, Anxiety, and Anger. Views of Mimes and Performers in the Byzantine World“ (149-165) und einer speziellen Facette des Themenkomplexes Koray Durak, „Performance and Ideology in the Exchange of Prisoners between the Byzantines and the Islamic Near Easterners in the Early Middle Ages“ (167-180). Die restlichen Beiträge dieses Abschnittes sind dem Osmanischen Reich gewidmet: Suratya Faroqhi, „Fireworks in Seventeenth-Century Istanbul“ (181-194, auch mit Papierfigurenverbrennung); Özdemir Nutku, „Clowns at Ottoman Festivities“ (195202); Danielle Haase-Dubosc, „Lady Mary Wordey Montagu (1689-1762). Her Turkish Performances“ (203-213; Turkish Letters 1716-1718 und ihr Nachleben); und Ehud R. Toledano, „The Fusion ofZar-Bori and Sufi Zikr as Performance. Enslaved Africans in the Ottoman Empire“ (215-240), ein gut dokumentierter Artikel, der auf mehreren Arbeiten desselben Autors zur sog. Neger-Sklaverei im Osmanischen Reich im 19. Jh. beruht (es geht um Heilrituale im engen Kreis). Der 3. Teil, „Modes and Varieties of Entertainment“, umfasst sechs Studien. Den Beginn macht Cemal Kafadar, „How Dark is the History of the Night, How Black the Story of Coffee, How Bitter the Tale of Love. The Changing Measure of Leisure and Pleasure in Early Modern Istanbul“ (243-269). Mit diesem poetischen
Titel ist die Geschichte des Kaffeehauses am Bosporus und allgemein im Osmanischen Reich umschrieben, Mittelpunkt des Nachtlebens einer „bürgerlichen“ Schicht mit seinen Unterhaltungen, wie Märchen erzählern (meddah) und Schattentheater (Karagöz). Die Rekonstruktion erfolgt vorwiegend 452 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen aus literarischen Quellen. Ganz dem Karagöz ist die Studie von Daryo Mizrahi gewidmet: „One Man and His Audience. Comedy in Ottoman Shadow Puppet Performances“ (271286). Es beginnt mit den Herkunftstheorien, Auflührungsbeschreibungen in der Reise literatur (vorwiegend zur verbalen und optischen Obszönität und zum Kinderpublikum), einer Berufsliste, die der Leinwandheld ausübt, die konventionellen Wortmissverständ nisse und Verballhornungen, unangebrachter Versgebrauch, Wortwitz, Nonsense usw. Die zitierte Literatur hält sich in Grenzen. Weiter geht es mit dem Schattentheater - diesmal über die ältesten Texte: „Shadow Theatre, the Karagöz (Kara Gyooz) and the Texts of Ibn Daniyal (1248-1311?)“ (287-296) von Mas’ud Hamdan, ein Kurzartikel, der einer unver öffentlichten Monographie von Ibrahim Hamada folgt.5 Der Autor ist bekannt geworden durch sein Buch „Poetics, Politics and Protest in Arab Theatre“6, seine Studie bringt jedoch nichts Neues zur Schattentheater-Trilogie des ägyptischen Hofdichters am Mamlukenhof in Kairo, nicht einmal die essentiellste, geschweige denn die neueste Bibliographie. Zu den Armeniern, die für die Theaterentwicklung im spätosmanischen Reich so wichtig geworden sind, führt dann der nächste Artikel von Noune Zeltsburg-Poghosyan, „Armenian Traditional Music and the Performance Practices in the Armenian Community ofJerusalem“ (297-310), nach Westen weist der dann folgende Beitrag: „Constructing the Performed Identity of Sephardic Songs“ von Judith R. Cohen (311 -326), wo man jedoch die vielen Arbeiten von Samuel Armistead und Joseph H.
Silverman zum osmanischen Balkanraum vermisst. Nach Norden weist dann der letzte Artikel dieses Abschnitts, „Gypsy Musicians and Performances in the Ottoman Balkans“ von Elena Marushiakova und Vesselin Popov (327-341), beide bekannt geworden durch ihre Roma-Studien.7 Zigeuner sind v. a. als Musikanten und fahrende Handwerker, Tanzbärenführer, ja sogar als Verkleidungsmaske im traditionellen Balkanbereich bekannt, Zigeunerinnen als Tänzerinnen und in Dingen der Magie bewandert, auch als Schattentheaterspieler sind sie im gesamten Balkanraum nachgewiesen; die Autoren zeigen auch zwei Roma-Tänzer(innen) als Schattenspielfiguren. Der 4. Teil ist der Ikonographie gewidmet und enthält z. T. sehr interessante Studien. Völliges Neuland betritt die Studie von Viktoria Kepetzi, „Scenes of Performers in Byzantine Art. Iconography, Social and Cultural Milieu: The Case ofAcrobats“ (345-384, mit vielen Abbildungen). Kann organisiertes Theater in Byzanz nach dem Ikonoklasmus kaum mehr nachgewiesen werden, so liegt die Quellenlage für das Schaustellerwesen etwas anders: Clowns und Spaßmacher, Maskeraden und Akrobaten sind sowohl in Schrift- wie in Bildquellen in einiger Anzahl nachzuweisen. Die Kunsthistorikerin spezialisiert sich in diesem Artikel aufAkrobaten, die ornamentartig auf Elfenbein-, Silber- und Emailarbeiten dargestellt werden, auf Marmorplastik, auf Zier- und Anfangsbuchstaben bzw. Illustrationen in Manuskripten (viele dieser insgesamt 20 Abbildungen sind zum ersten Mal veröffentlicht). Es ist erstaunlich, wie viel extrem Weldiches in den geistlichen Texten und
Bilddarstellungen zu finden ist. Weniger erstaunlich ist die Dramatik und Theatralik von Buchillustrationen und Ikonenmalereien aus der Komnenen- und Paläologenzeit, die in den byzantinischen Kunstgeschichten oft hervorgehoben worden ist (Anestis Vasilakeris, „Theatricality of Byzantine Images. Some Preliminary Thoughts“, 385-398).8 Die nächsten beiden Beiträge Südost-Forschungen 76 (2017) 453
Volkskunde sind Armenien gewidmet: Emma Petrosyan, „Theatrical Features in Armenian Manuscripts“ (399-406; es geht um Tanz und Verkleidungen in Zierbuchstaben und Illuminationen), und Hrant Khachikyan, „Capital Initials with Images of Musicians in Armenian Manuscripts“ (407-424). Den Abschnitt beschließt ein hybrider Artikel von Gabriela Currie, „Glorious Noises of Empire“ (425-449) über die Performanz von Festmusik und Schaustellerei in ver schiedenen ostmediterranen Imperien: Liudprand von Cremonas Bericht über den Kaiser hof am Bosporus 949, die Darstellungen auf dem Hippodrom-Obelisken des Theodosios in Konstantinopel, die Fresken der Sophia-Kirche in Kiew mit der Darstellung von skomorochi (hier Musikern, nach 1000), die Elfenbein-Pyxis aus Thessaloniki in der Dumbarton Oaks Collection (frühes 15. Jh.) und die berühmten Abbildungen in der Surname-і Vehbi zum Beschneidungsfest der Sultanssöhne von Ahmed III. 1720. Nach den fünf Beiträgen in Teil 4 kommt Teil 5, „Ritual Roots of Performance“ wieder auf sechs Studien. Den Anfang macht Samia Mehrez, „Representing the Moulid. Salah Jahins Al-Layla al-Kabira between Populist and Nationalist Aspirations“ (453-463) zum Weiterleben der traditionellen Festkultur in Ägypten. Dem heutigen osmanisch-asiatischen Neujahrsfest Nevruz und seiner vorislamischen historischen Entwicklung als Frühlingsfest in Anatolien wendet sich Yücel Demirer zu: „Performative Conceptions of Social Change. The Case of Nevruz Celebrations in Pre-Ottoman and Ottoman Anatolia“ (465-480, der „Neue Tag“ [pers.] wurde in ganz Zentralasien und im Mittleren
Osten gefeiert). Dem Fest kalender der Alevi widmet Fahriye Dinçer ihre Ausführungen: „Alevi Ritual Movement. Its Representation in Fifteenth- and Sixteenth-Century Texts and Today“ (481-502), welche auch auf die Bektaşi und ihre Festrituale eingehen. In den Balkan fuhrt dann der Beitrag von Elsie Iváncích Dunin, „The Moreška Dance / Drama on the Island of Korčula (Croatia). A Turkish Connection?“ (503-514), wo neben den Abbildungen aus der Feldforschung zu diesem bekannten Schwerttanzdrama die Bibliographie doch wesendiche Lücken aufweist.9 Ich glaube nicht, dass die Aufführung des Schwerttanzes durch die Korculaner Schiffsbauer in Kostantiniyye 1846 dazu geführt hat, dass der Anführer des Weißen Heeres ein Türke ist, denn Name und Kulturkontext weisen nach Westen (ital. moresca, moro y cristianos im Spanien der reconquista). Derartige „unlogische“ Substitutionen sind in der Variabilität der Formen der Volkskultur durchaus üblich und etwa auch im Kleften- und Haidukenlied nachzuweisen, wo die Haupthelden mit ihren positiven Eigenschaften manchmal auch aus dem Feindeslager stammen, um nicht von den südslawischen Guslarenliedern zu sprechen, wo ganz die gleiche Heldentypologie in beiden Lagern der Türkenkämpfe zu finden sind. Die letzten beiden Beiträge sind von Cem Behar, „The Show and the Ritual. The Mevlevi Mukabele in Ottoman Times“ (515-532) und Zhenya Khachatryan, „The Ritual of Vardan Mamikanoyan“ (533-538). Den Epilog zu diesem ungeheuer reichhaltigen Band schreibt der vielzitierte Sozial historiker Peter Burke, „The Performative Turn in Recent Cultural History“
(541-561), der als Historiker davor warnt, dass die nach Goffman, Turner, Geertz u. a. ausufernde Theater metapher, verstärkt durch die oral-poetry-¥oKc\\ung in den Endmoränen der Homerischen Frage nach Parry und Lord, die der performativen Frage große Aufmerksamkeit geschenkt 454 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen hat, auf alle nur möglichen Situationen des Alltagslebens anzuwenden.10 Diese Art der thick description der Sozialanthropologie in ihren rezenten case studies ist fur den Historiker auf grund der spärlicheren Quellenlage und ihrer beschränkteren Aussagequalität gar nicht möglich, was nicht heißt, dass aus den Archivmaterialien nicht manchmal Formen der Performativität durchscheinen können. Fazit für den modischen performative tum·. „The new approach has solved problems, helping historians to move away from determinism, but it has also generated problems of its own. We might say that the reaction against the idea of social constraints has been exaggerated, and also that the central notion of perfor mance has been over-extended“ (554)11. Wohltuende Worte nach den publikatorischen Implikations-Orgien der performance studies in allen Kulturen der fünf Kontinente, die das alte Welttheatergleichnis ihres philosophisch-theologischen Kontextes beraubt haben, wo Ästhektik und Komplexität keine Rolle mehr spielen und die Initiationsriten der Apachi mit der altgriechischen Tragödien-Aufführung in einen Topf geworfen werden.12 In solchen zusammengewürfelten Kompendien zu kulturologischen Fallstudien vom Gesamtglobus ist performativity zu einem universellen Zauberwort geworden, das sich praktisch auf alles und überall anwenden lässt, ohne dass man sich noch sicher ist, was es eigentlich bedeuten soll. Im Sinne dieses performative tum, der nun in allen Spezialfächern angewendet wird und eine neue Epoche der Kultur-Interpretation einleiten soll, kulturtheoretisch ähnlich
naiv wie die Interpretation aller Kulturphänomene als „Text“ im Strukturalismus, für einen Theater wissenschaftler freilich sympathischer, aber auch kritikanfälliger, hat sich die Performativi tät in ihrem breitesten Sinn nun auch an einen historisch-geographischen Bereich heran gewagt, der in den Theatergeschichten nicht allzu häufig auftaucht. Das ist sicherlich als Gewinn dieser neuen (alten) Kultursichtweise zu verzeichnen. Der gehaltreiche Band (mit Artikeln von ganz unterschiedlicher Güte aber hervorragend redaktioniert) geht konsequent sprach-, kultur- und religionsübergreifend vor und den Herausgebern ist diesbezüglich nur zu gratulieren. Viele Artikel und Themenstellungen hatten dabei deutlich mit einer spär lichen Quellendichte zu kämpfen, die manchmal zu Überinterpretationen verlockt. Süd osteuropa ist dabei freilich etwas zu kurz gekommen, doch sind die wiederholten Über legungen von Balkanisten diesbezüglich in Rechnung zu stellen, dass Südosteuropa ohne den Ostmittelmeerraum (und der afrikanischen Nordküste) eigentlich nicht zu untersuchen ist, ebenso wie ohne Kleinasien und den weiteren Schwarzmeerraum. Eine Tatsache die ein wichtiges Gegengewicht zu den traditionellen Komparationen und Kontexterstellungen mit Mittel- und Westeuropa darstellen mag. Insofern ist es auch für die vergleichende Balkanologie nicht nur legitim, sich mit diesen Großregionen intensiv zu beschäftigen, sondern auch zweckdienlich und zielführend, um die komplexen Kulturdynamiken über Grenzen, Sprachen und Religionen hinweg darstellbar zu machen. Hier versagen die eurozentrischen
historisch-geographischen Modelle im allgemeinen, und neue kulturgeographische Modell bildungen sind zu erstellen, die für Südosteuropa zumindest teilrelevant erscheinen. Athen, Wien Südost-Forschungen 76 (2017) Walter Puchner 455
Volkskunde 1 Richard Bauman, Story, Performance, and Event. Contextual Studies of Oral Narrative. Cam bridge 1986 (Cambridge Studies in Oral and Literate Culture, 10); ders., Verbal Art as Performance. Prospect Heights/IL 21984. 2 Shmuel Moreh, Live Theatre and Dramatic Literature in the Medieval Arab World. Edin burgh 1992. 3 Ausgabe Dresden 1815, englische Übersetzung 1974. 4 Vgl. letzthin Iosif VrviLAKis, Το κήρυγμα ως performance. Εκκλησιαστική ρητορική και θεατρική τέχνη μετά το Βυζάντιο. Athen 2013. 5 Ibrahim Hamada, Khayal Al-Zill Wa-timthiliyyat Ibn Daniyal. Al Qahira 1961. 6 Mas’ud Hamdan, Poetics, Politics and Protest in Arab Theatre. The Bitter Cup and the Holy Rain. Brighton 2006. 7 Elena Marushiakova/Vesselin Popov, Gypsies (Roma) in Bulgaria. Frankftrrt/M. u. a. 1997; vgl. meine Anzeige in Litografia 39 (1998-2003), 543-552; sowie diess., Gypsies in the Ottoman Empire. A Contribution to the History of the Balkans. Paris 2001. 8 Z. B. zur Judaskussszene vgl. Walter Puchner, Studien zum Kulturkontext der liturgischen Szene. Lazarus und Judas als religiöse Volksfiguren in Bild und Brauch, Lied und Legende Südost europas. 2 Bde. Wien 1991, Bd. 1, 71-82, 220-251. 9 V. a. Ivan Ivančan, Narodni običaji korčulanskih kumpanija. Zagreb 1967; die Fallstudien von Jasna Capo Zmegač, Odjeci dekapitacije vola u Pupnatu na otoku Korčuli. Hrvati između tra dicionalizma i modernizma, Narodna Umjetnosti! (2000), H. 2, 9-26, und Ines Риса, Povratnik s terena. Konceptualni ideal і izvedbene mogućnosti dijaloga u etnografskom tekstu, ebenda, 27-46; sowie ihr eigener Artikel;
Elsie Iváncích Dunin: Oznake u vremenu. Kostimi i scenske značajke iz vedbi bojevnih mačevnih plesova, Narodna Umjetnost 38 (2001), H. 2, 163-174. 10 Wie etwa Michael Herzfeld für das kretische Kaffeehaus als Theater-Bühne der maskulinen Selbstdarstellung: Michael Herzfeld, The Poetics of Manhood. Contest and Identity in a Cretan Mountain Village. Princeton/NJ 1985, 15£ 11 Mit Verweis auf Tracy C. Davis/Thomas Postlewait (Hgg.), Theatricality, Theatre and Per formance Theory. Cambridge 2003, 4. 12 Vgl. z. B. die amerikanische Dissertation von Marla K. Dean, Recovering Ancient Ritual and the Theatre of the Apache. A Journey through the False Consciousness of Western Theatre History. Diss. Baton Rouge/LA 2005. Michael G. Meraklēs, Σύγχρονος ελληνικός λαϊκός πολιτισμός [Heutige griechi sche Volkskultur]. Athen: Ekdoseis Herodot, 4. Aufl. 2016 (Laographia, 8). 203 S., ISBN 978-960-485-093-8 Es handelt sich um die 4., verbesserte und erweiterte Auflage eines epochemachenden Werkes, das in der 1. Auflage 1973 erschienen ist1 und das einen Wendepunkt im Selbst456 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Verständnis der griechischen kograpbia bildet, die sich nun programmatisch den modernen rezenten Entwicklungen der Populärkultur zuwendet, Folklorismus und Technologie miteinbezogen, die moderne Medienkultur und ihre Kommunikationsmöglichkeiten, neue Formen der verschriftlichten Oralität, Massenkonsum und Globalisierung, Vermarktung der Volkskunst und Feminismus, bürgerliche und urbane Volkskunde, Urban legends und Anti-Sprichwörter usw., immer unter Einbezug von und im Kontext mit den gesellschaft lichen, historischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Der vor 45 Jahren verfasste Text hat wenig von seiner Ausgewogenheit und Frische eingebüßt, ist von der seitherigen Biblio graphie jedoch überrollt worden. Seine Historizität ist jedoch auch Zeuge der historischen Fachentwicklung und ein Stück Institutionsgeschichte, hat Meraklis doch als Anführer und Gründer der soziologischen Schule von Ioannina in der Analyse der Volkskultur, auch als Generalsekretär und nachmaliger Präsident der Griechischen Volkskundlichen Gesellschaft mit einer zahlreichen Schar von Schülern und Nachfolgern die Geschicke der Disziplin, in Kontrafaktur zur Sozialanthropologie in Griechenland im Universitäts bereich und bei einer breiteren Öffentlichkeit nachhaltig beeinflusst und mitgestaltet. Somit sind die Einzelkapitel zu Kreta, Ägäisraum, Thrakien-Makedonien, Epirus, Ionische Inseln, Peloponnes, Kontinentalgriechenland, Thessalien usw. nur wenig überarbeitet, da dies praktisch einer Neukonzeption der Monographie gleichkäme, doch sind fünf weitere Kapitel angehängt, die nicht mehr nur
geographischen Kriterien folgen: Das 9. Kapitel zur bürgerlichen Volkskunde (veröffentlicht 1979), Kapitel 10 zum Folklorismus,2 Kapitel 11 zu Folklorismus und Tradition anhand der Vereinigung der Kreter in Athen,3 Kapitel 12 zur Volkskunst im Wandel von der Agrarkultur zum bürgerlichen Bereich4 und zu Athen als zweigeteilte Stadt zwischen Stadtlob in der Dichtung und desillusionierender Reali tät (zuerst 2000). Damit ist ein handlicher Reader entstanden, der sich sowohl für die Lehre als auch für eine interessierte Leserschaft eignet und in Grundprobleme der rezenten Kulturforschung von Alltag und Fest einführt, zugeschnitten auf die spezifische Kultur situation im heutigen Hellas. Athen, Wien Walter Puchner 1 Zur 2. Auflage 1983 vgl. meine Rezension in Österreichische Zeitschriftթր Volkskunde 90 (1987), 349-351. 2 Zuerst in Laografia 28 (1972), 27-38. 3 Zuerst im Band von Evangelos Gr. Avdikos (Hg.), Κρήτη. Λαϊκός πολιτισμός. Athen 2007, 33-39. 4 Zuerst in Festschrift Spyros Evangelatos. Athen 2001, 185-190. Stelios A. Mouzakěs, Συμβολή στην έρευνα της οργάνωσης και της οικονομίας της ημινομαδικής κοινότητας. Συμπληρωματικές δραστηριότητες των κτηνοτροφών της Südost-Forschungen 76 (2017) 457
Volkskunde Πίνδου [Beitrag zur Erforschung der Organisation und Wirtschaft der seminomadi schen Kommunität. Ergänzende Aktivitäten der Viehzüchter im Pindusgebirge]. Athen: Ekdoseis Elerodot 2017 (Laographia, 15). 339 S., zahir. Abb.u. Kt., ISBN 978-960485-132-4, €31,80 In einem kurzen Prolog von Manolis VmvuNis wird die Bedeutung dieser Monographie hervorgehoben. In einem Untertitel wird aufgezählt, worin diese ergänzenden Aktivitäten neben den Schafen und Ziegen der transhumanten Kommunität Vovusa in den östlichen Zagori-Dörfern im Quellbereich des Aoos-Flusses besteht: Käseerzeugung, Maultiertreiber, provisorische wasserbetriebene Sägewerke, Sattelherstellung. Der Verfasser dieser Mono graphie ist bisher durch seine Studien zur Technologie der vorindustriellen Wassermühlen aufgefallen.1 Die provisorischen wasserbetriebenen Sägewerke des Holzhandels bilden daher auch ein wichtiges Kapitel dieses Buches. Der Ausgangspunkt der Studie besteht jedoch nicht in Baudenkmälern vorindustrieller Wirtschaft, sondern in einem Familienarchiv eines Großhürdenbesitzers aus dem Bereich Vovusa/Perivoli im Quellbereich des Aoos-Flusses nordwestlich von Metsovo, Anagnostis Vasilakis, der zwischen 1871 und 1885 jährlich auf die Winterweiden in Velestino nördlich von Volos im thessalischen Magnesien zog und über seine gesamten ökonomischen Aktivitäten peinlich genau Aufzeichnungen führte. Dieses Archiv erweist sich als eine Art Schatzkammer für die vlachische Transhumanz im ösdichen Pindusgebirge, deren Weidewege jeden Oktober zu den Winterweiden bis in den Bereich von Florina und
Philippopel/Plovdiv bzw. in die thessalische Tiefebene führten. Die exakten Angaben erlauben auch eine Rekonstruktion der Wirtscharisstrategien eines vorausblickenden Hürdenbesitzers im spätosmanischen Reich, der es verstand, neben der Viehzucht in einem industriefeindlichen Ambiente auch Aktivitäten zu entwickeln, die über den transhumanten Lebensstil der Schaf- und Ziegenhirten weit hinausgeht. Die gesamten Dokumente und die Korrespondenz des Archivs ist in fehlerfreiem Griechisch (katharevusa) in sauberer Handschrift verfasst, was ein charakteristisches Licht auf das Neugriechische als Handels- und Verkehrssprache im Osmanischen Reich wirft. Vasilakis hatte sowohl mit den osmanischen Behörden, wie ab 1881 in Thessalien auch mit den griechischen Behörden zu tun; das epirotische Dorf wurde in dieser Zeit auch mehrfach von Räubern ausgeplündert und von Seuchen heimgesucht. Die Monographie hat einen systematischen Aufbau: Die Einleitung (29-37) geht auf die vlachische Viehzucht und ihre Wanderwege auf die Winterweiden ein, hebt die Bedeutung des Archivs hervor und arbeitet die Strukturen dieser Bergwirtschaft in klarer Weise heraus, die in unsicheren Zeiten auf Nebenverdienste angewiesen war. Die Viehherde als mobiler Besitz bringt eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich, angefangen von den Weiderechten und den Wanderwegen mit den Konaken (Hütten für die Übernachtung) im Schnecken tempo, bis zur Wetterlage, Überfällen, Krankheiten, Steuern usw., die einen besonderen Zusammenhalt der Arbeitsgemeinschaft erfordern und zu einem gewissen ethischen Code fuhren, der die
Vertrauensbasis für die Handelsaktionen bildet (unterentwickelte monetäre Ökonomie, Tauschgeschäfte, Anleihen, Kredite, Schulden). 458 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Der 1. Teil (43-152) bringt eine Geschichte des Dorfes und des Kulturraums der öst lichen Zagori-Dörfer {Vlacbozagoro), die von Überfallen, Kriegsereignissen und Epidemien (nach 1897 auch Auswanderung nach Rumänien) gekennzeichnet ist; ein weiteres Kapitel geht auf die wirtschaftsgeographischen Probleme des Raums ein, gefolgt von einer Be schreibung der Organisation der Kommunität; es folgt eine Beschreibung der Verhältnisse im thessalischen Dorf Velestino, wo die Hirten immerhin die Hälfte des Jahrs zubrachten, Geburtsort von Rigas Velestinlis, ab 1881 dem griechischen Staat angehörig; zu den Ein künften der Kommunität in Thessalien zählten die Ziegensteuer und die Gemeindesteuer. Ein weiterer thematischer Abschnitt beschreibt das Archiv von Vasilakis, geht auf die Familien geschichte ein, analysiert das Funktionieren der Hürde {tselingato), die Aufteilung der Herde auf die Einzelhirten, Bezahlung und Verträge, Bewirtung und Transhumanz, Maultier führer, Anmietung von Bergweiden, die Wanderrouten und Konake, gefolgt von den Vieh produkten: Milch/Melken, Käse, Häute, Wolle/Schur, und ihrem Verkauf; die Mitglieder der Hürde, Kontakte mit den Verwaltungsinstanzen durch den gewählten Vertreter der Hürde (;vekilis); osmanische Steuern: Schafsteuer pro Stück, haraç (Militärsteuer), Bezahlung eines Führers (dragatis), Maut, Fähre. Das Archiv gibt auch Auskunft über die Preise der Produkte: Eßwaren, Saat, Währungen und Geldwert; weitere Ausgaben: angeheuerte Ziegenhirten in der Winterweide, Kleidung, Lesestoffe, Zuwendungen an die Kirche. Einen eigenen Abschnitt
bilden die Dokumente über die Winteraufenthalt nach 1881 im griechischen Velestino: Mietverträge über Weiderechte, Besitzsteuer, Anheuerung von Zugtieren, Gemeindesteuer, Abgaben für die Teilnahme am Handelsmarkt. Vasilakis hat im fruchtbaren Velestino auch Felder angemietet, um Ackerbau zu betreiben (Düngung durch die Herden). Der 2. Teil der Arbeit analysierte die produktiven Aktivitäten der Hürde (155-209). Hier wird zuerst auf die inoffiziellen Genossenschaften der vlachischen Viehzüchter ein gegangen, die in den Dokumenten des Archivs aufscheinen. Es folgt das Kapitel zu den provisorischen wasserbetriebenen Sägewerken im Bereich der Sommerweiden, deren Holz konstruktionen aufgrund der Transhumanz immer wieder abgerissen wurden und rasch verfielen. Hier befindet sich der Verf. auf vertrautem Boden und lässt sich auch auf weitere Vergleiche ein (die Phasen der Arbeitsvorgänge: Abholzen, Transport der Stämme, Zer sägen, Abtransport mit Maultieren, Angaben zum Produktionsvolumen, Einkünfte). Es folgt noch ein kürzeres Kapitel zur Sattelherstellung. Der 3. Teil (213-228) bringt dann die Veröffentlichung der 35 handschriftlichen Dokumente aus dem Archiv Vasilakis, der vierte Teil (231-264) geht auf die interessante Korrespondenz ein (insgesamt sechs Briefe) sowie ausführliche Kommentare: die Be ziehungen von Vasilakis zur Kirche, zur Kommunität, zum Ältestenrat (dimogerontia), zu seinen Mitarbeitern, zu seiner Familie, die Differenzen mit der Thessalischen Eisen bahngesellschaff, über die österreichische Post in Volos, osmanische Lire und griechische Drachmen usw. Der
fünfte Teil (267-281) beschäftigt sich dann mit dem reichhaltigen Namensmaterial, den das Archiv enthält; die Häufigkeit der Taufnamen wird auch statistisch ausgewertet, sie sind fast durchwegs griechisch. Ein sechster Teil (285-296) analysiert dann die Handelspraktiken von Vasilakis: für einen Großhürdenbesitzer verfügt er über beSüdost-Forschungen 76 (2017) 459
Volkskunde merkenswerte buchhalterische Kenntnisse; in der Vielfalt seiner Aktivitäten in einem geo graphisch schwierigen Raum und in einer schwierigen Zeit bewegt er sich gleichzeitig auf mehreren Produktionsebenen und nutzt die Winterweiden im fruchtbaren Thessalien zu agrarischen Tätigkeiten aus, gehört also einerseits zur historischen balkanischen Fernweide wirtschaft, andererseits sucht er aber auch Anschluss an protoindustrielle Entwicklungen, wie seine provisorischen Holzsägewerke bekunden. Der Handelsmarkt von Velestino war darüber hinaus fast die einzige Möglichkeit, an Bargeld zu kommen, das er für die Steuerver pflichtungen dringend brauchte. Erstaunlich sind seine Griechischkenntnisse; Aromunisch wurde für die Handelsgeschäfte kaum gebraucht. Der Rückgang des Aromunischen ist auch bei den angeführten Taufnamen festzustellen, was durchaus dem „Kodex von Metsovo“ für das 19. Jh. entspricht, wo vlachische Taufnamen nur noch selten Vorkommen. Ein kurzer Epilog beschließt den durch seine luziden Analysen bestechenden Band, ge folgt von einem Generalindex, einer Zusammenfassung in Englisch und der Bibliographie. Ganz am Schluss kommt noch das Inhaltsverzeichnis. Das Archiv Vasilakis ist in vieler Hin sicht ein bedeutendes Dokument, das die Flexibilität der Bergwirtschaff und der Transhumanz mit Viehzucht und Handel mit Tierprodukten exemplifiziert, aber als Nebenver dienst noch Sägewerke und Sattelerzeugung betreibt, in den Winterweiden sogar Ackerbau und Feldwirtschaft. Die genaue Buchführung und die Korrespondenz geben Auskunft über Details dieser Lebensweise
in einem fast bis heute unterentwickelten Gebiet, das allerdings durch seine Naturschönheiten besticht. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. die historische Monographie zur vorindustriellen Wassermühle in der westeuropäischen, byzantinischen und osmanischen Wirtschaft und Gesellschaft vom 6. bis zum 19. Jh., Rechtsverhält nisse, Baubeschränkungen, gesetzliche Erlässe. Athen 2008. Pomacite. Versii za proizchod і săvremenna identičnost. [Die Pomaken. Herkunffsversionen und gegenwärtige Identität.] Hg. Evgenija Ivanova. Sofija; Izdatelstvo na Nov bälgarski universitet 2013. 200 S., ISBN 978-954-535-772-5 Seit langem widmet man sich in Bulgarien der Frage nach den Identitätsmustern der muslimischen bulgarischsprachigen Bevölkerung. Mit dem von der Friedrich-NaumannStiffung geförderten Sammelband greifen nun einige Autoren die Thematik vor bisher wenig reflektierten Hintergründen auf und geben erste Einblicke in neue Ergebnisse, welche im Mai 2012 in Smoljan auf einer gleichnamigen Konferenz präsentiert wurden. In ihrem Vorwort (5-Ю) gibt Evgenija Ivanova einen ersten Überblick über die oft diskutierte Problematik der pomakischen Selbstwahrnehmung. Es ließen sich Tendenzen 460 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen einer zunehmenden Marginalisierung und gleichzeitig einer eigenständigen ethnischen Identität der bulgarischsprachigen Muslime erkennen, die von zahlreichen gesellschaft lichen Schwierigkeiten begleitet würden (6). Daher widmet sie den ersten Text des Bandes („Identičnost і identičnosti na pomacite v Bälgarija“, 11-32) der aktuellen Situation in Bulgarien und zeigt auf, wie vielfältig sich die Eigenbezeichnung der Gruppe gestaltet. Sie kommt zu dem Schluss, dass man durch Feldforschungen zeigen könne, dass am häufigsten eine bulgarische, türkische, muslimische oder pomakische Identität zum Tragen komme. Im zweiten Beitrag mit dem Titel „Identičnosti - konstruirani, vmenjavani, nalagani. kogato izgraždaš poznanie za bălgari mjusjulmani“ (33-44) geht Irena Bokova der Frage nach, wie man sich der Gesamtproblematik von einer neuen Perspektive aus nähern könne: Sie dokumentiert anthropologisches und ethnographisches Material, da dieses authentische Einblicke in den Alltag der Pomaken ermögliche und hält fest, dass die Gruppe durch ihre Folklore als „exotisch“ und daher als „anders“ interpretiert werde (41). Der provokanteste Text des gesamten Bandes ist derjenige von Ahmed Günşen („Pomacite kato balkanska obštnost i dokazatelstva za turska prinadležnost v razbiranijata im za identičnost“, 46-60). Der Verfasser ist der Meinung, dass es genug Anzeichen da rauf gäbe, dass es sich bei den Pomaken um Türken handele. Dafür würden unzählige Traditionen sprechen, die sie mit einigen Völkern Zentralasiens teilen würden; eine Ver wandtschaft mit den orthodoxen
Balkanvölkern wird verneint (47-57). So bekommt der Leser einen ausgesprochen turkozentrischen Blickwinkel vermittelt, der jegliche Geschiehtsund Sprachforschung völlig ignoriert und standessen fragwürdige Hypothesen aufwirft, die kaum durch internationale Forschungsliteratur belegt werden können. Differenzierter nähert sich Georgi Zelengora dieser Problematik mit einem Beitrag zu den Pomaken in derTürkei („Identičnost na pomacite vTurcija“, 61-72). Sie seien dort bereits zahlreicher als in Bulgarien selber, und so gut wie niemand von ihnen sehe sich in diesem Land als bulgarischer Muslim. Besonders interessant ist die Feststellung des Autors, dass viele von ihnen dennoch gewisse Erinnerungen an Bulgarien und einen emotionalen Bezug zur Kultur des Herkunftslandes ihrer Familien hätten, ganz im Unterschied zu denjenigen Pomaken, die aus Griechenland in die Türkei gezogen seien (63-67). Es wäre interessant und lohnenswert, gerade den letztgenannten Aspekt zukünftig auch zur Er forschung pomakischer Identitätsmuster in Griechenland heranzuziehen. Anastasija Pašova und Petar Vodeničarov untersuchen das Selbstbild muslimischer Studenten („ískame da sme ravni, ne ednakvi. Oficiálni narativi na identičnostta na studenti mjusjulmani ot Zapadnite Rodopi“, 73-83). Sie beschreiben darin ihre Erkenntnisse, die sie Präsentationen entnehmen konnten, welche ihre Studenten über ihr Alltagsleben erstellten. Es ließe sich belegen, dass sich ihre Identität in erster Linie an der Religion, dann an der Ortsbezogenheit und erst an dritter Stelle an ethnisch-nationalen Mustern orientiere
(74-79). Dass die Sprache der Pomaken besonders in Griechenland eine Polemisierung erfuhr, verdeutlicht Elena Kanevska-Nikolova mit ihren Ausführungen („.Pomaskijat ezik’ kato identifikacionen príznak“, 84-94). Darin beruft sie sich auf ein nicht unumstrittenes Buch der Journalistin Tanja Mangalakova, an dem sich erkennen ließe, dass es unterSüdost-Forschungen 76 (2017) 461
Volkskunde schiedliche Ansichten innerhalb der pomakischen Gemeinschaft über die eigene Identi tät und Sprache gäbe. Letztere teile aber sämtliche Charakteristika der bulgarischen südrhodopischen Dialekte. Von griechischer (und türkischer) Seite aus werde mit der Be zeichnung „pomakische Sprache“ in erster Linie Assimilierungspolitik betrieben (85-89). Die Autorin greift somit ein heikles Streitthema auf, welches seit Jahren ein Zankapfel zwischen Bulgarien und Griechenland ist, sie hätte aber noch stärker auf die Tatsache eingehen können, dass ein ernsthafter Sprachausbau von den Pomaken in Griechenland weitestgehend abgelehnt wird. Das anschließende Papier von Sonja Chinkova („Sävremennijat ,vnos‘ na identičnosti pri pomacite v Bälgarija“, 95-116) bespricht äußere Faktoren, die die Identitätsmuster der pomakischen Gemeinschaft in Bulgarien beeinflussen. Sie hinterfragt die Gründe für das verschiedenartige Selbstverständnis der Gruppe und hält fest, dass die unterschiedlichen Möglichkeiten der Eigenbezeichnung mit Faktoren wie etwa der Globalisierung, der Ent wicklung im Nahen Osten sowie einigen Besonderheiten der Balkanregion zusammen hingen (99-110). Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich der Analyse historischer Quellen und deren Bezug zu den Pomaken. Bernard Lory geht in seinen Ausführungen mit dem Titel „Letopisa na pop Metodij Draginov kato literaturno proizvedenie ot 19. vek“ (117-134) auf französische Quellen ein, welche aufzeigen würden, dass der Begriff Pomake zunächst in der Gegend von Loveč aufgekommen sei (134). Sergej Vučkov dokumentiert in seinem
Text (,„Proizvedenata inteligencija1. Mestnite učiteli v mjusjulmanskite sela ot Zapadnite Rodopi (Blagoevgradsko) prez vtorata polovina na 40-te і 50-te godini na XX vek“, 135-148) eine sehr einschneidende Veränderung des pomakischen Alltags: Die Schulausbildung Mitte des 20. Jh.s könne als besonders nach haltige Form der Bildungsrevolution betrachtet werden, gerade im Hinblick auf ländliche muslimische Gemeinschaften (136-146). Die Maßnahmen der kommunistischen Partei Bulgariens und ihre Auswirkungen auf die Pomaken in den 1950er und 1960er Jahren werden von Michail Gruev besprochen. Sein Beitrag („Ideologičeskijat zavoj kam nacionalizam і politikata na ВКР kärn mjusjulmanskoto naselenie v stranata v kraja na 50-te i prez 60-te godini na 20 vek“, 149-159) verweist deut lich auf die Absichten des Regimes, das kulturelle Niveau der Pomaken zu heben, sie im Rahmen weitangelegter Kampagnen zu „zivilisieren“ und sie dazu zu bewegen, mit ihrer traditionellen Lebensweise zu brechen (151-158). Besonders die Beiträge von Vučkov und Gruev sind im Zusammenhang mit den Ereignissen des bulgarischen Wiedergeburts prozesses zu sehen und spiegeln die willkürliche Haltung staatlicher Instanzen gegenüber der muslimischen Bevölkerung wider. Der letzte Beitrag von Michail I. Ivanov („Nevidimite pomaci“, 160-179) dokumentiert ethnodemographische Statistiken aus unterschiedlichen Zeiträumen, die Aufschlüsse dar über geben, an welchen Orten und in welchem Umfang sich pomakische Siedlungsgebiete nachweisen ließen (161-174). Der Autor würde es begrüßen, wenn der bulgarische Zensus es zulassen
würde, die Pomaken gesondert zu erfassen, um ein genaueres Bild von der 462 Sudost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Gruppe zu bekommen (176). In der abschließenden Diskussion sind einige Kommentare zu den einzelnen Beiträgen dargestellt. Insgesamt haben wir es mit einem lesenswerten Sammelband zu tun, welcher hauptsäch lich dadurch überzeugt, dass er sich von vorurteiligen Denkweisen löst und versucht, so viel fältig wie möglich zu argumentieren. Die angefugte Diskussion wirkt in diesem Zusammen hang so, als wolle man die türkische Perspektive nicht ohne Weiteres unkommentiert lassen. Die im Titel angedeuteten Herkunftsversionen werden zwar nur tangiert und stützen sich eher auf Mythen oder Halbwahrheiten als auf belegbare Fakten. Das Werk eignet sich aber dennoch für einen ersten Überblick über die neuere Forschungslandschaft im Bereich der Identitätsvielfalt der Gruppe, da es zeigt, dass die Pomaken besonders im Hinblick auf ihre Selbstwahrnehmung eben nicht nur als bulgarische Muslime betrachtet werden können. Dresden Martin Henzelmann Manóles G. Sergés, Αστική Λαογραφία. Αναπαραστάσεις της Αθήνας (1880-1896) στο συγγραφικό έργο του Μιχαήλ Μητσάκη: χώρος, κοινωνία, πολιτισμοί, ταυτότητες [Bür gerliche Volkskunde. Der Lokalaugenschein von Athen 1880-1896 in Schriften von Mi chael Mitsakis: Raum, Gesellschaft, Kulturen, Identitäten], Athen: Ekdoseis Herodot 2016 (Laografía, 10). 895 S., zahir. Abb., ISBN 978-960-485-138-6, € 53,Im Vorwort von Michael Meraklis (13f.) wird im Allgemeinen auf die Wichtigkeit des literarischen Schrifttums als Quelle für die volkskundlich/ethnographischen Studien im urbanen Raum hingewiesen, und im Besonderen auf die Schriften dieses eher
ver nachlässigten Schriftstellers am Ende des 19. Jh.s, der ús flâneur die Gesellschaft von Athen in der Belle Epoque zwischen westlicher Bürgerkultur und autochthoner Volkskultur in seinen Feuilletons, Reiseberichten und Kurzgeschichten, Kritiken, Briefen und Gedichten beschreibt, die man zutreffend als „schriftstellerische Urbananthropologie“ bezeichnet hat. Manolis Sergis hat dieses verstreute schriftstellerische Werk 2006-2007 in einer zwei bändigen Gesamtausgabe bei der griechischen Uranis-Stiftung in Athen herausgebracht1 und präsentiert nun, nach neuerlicher Lektüre und reflektierender Distanzierung von den in ansprechendem Schreibstil der in flüssiger katharevusa verfassten Deskriptionen, eine systematische aber sensible Auswertung dieser Literaturprodukte nach Maßgabe der neueren Theorien zur Urbansoziologie und -anthropologie sowie den Interpretations strategien im Umgang mit Literaturquellen für die Faktenanalyse, die die Präsentations weisen der Sprachästhetik bzw. die Zerrspiegelfunktion der dichterischen Freiheit, persön licher Weltbildansichten bzw. einer ideologischen Wertehierarchie (Ablehnung der Mimesis der westlichen Vorbilder) in Rechnung zu stellen hat. In einem literaturnahen Vorwort geht der Autor auf die Geschichte seiner Beschäftigung mit diesem Schriftsteller ein (17Südost-Forschungen 76 (2017) 463
Volkskunde 20), in der Einleitung wird dann der theoretische Rahmen dieser „Auswertung“ festgelegt (23-67), wobei der etwas kühle Terminus ,Auswertung“ freilich nicht die qualitative Seite dieser Dokumentation trifft, denn Sergis folgt eigentlich den Texten und Beschreibungen von Mitsakis nicht nur in einer pragmatologischen Analyse, sondern bringt die satirischen Feinbeobachtungen und atmosphärischen Beschreibungen in eine thematische Systematik und stellt sie in einen theoretischen Rahmen, den die internationale Urbanforschung vor gibt, die in einer beeindruckenden bibliographischen Vielfalt jederzeit präsent ist. Der eigentliche Corpus der Monographie setzt mit Kapitel 1 ein, „Grundsätzliche theoretische Fragen“ (69-230), wo zuerst die verschiedenen soziologischen „Schulen” und Fundamentaltermini des Urbanphänomens im Laufe der industriellen Revolution in aus führlichen Diskussionen behandelt werden (soziologische Theorien der Verbürgerlichung, Schule von Chicago, folk-urban continuum, Schule von Kalifornien, postmoderne Urban bildungen, Stadtvolkskunde in Deutschland und Amerika, die griechische Urbanvolks kunde, das Stadtbild von Athen in der Novellistik gegen Ende des 19. Jh.s: Babylon und Jerusalem), sodann die Deskriptionen der Stadt in der Literatur: die Stadt als „objektiver Raum eines subjekdven Erlebens“, die Definition des Begriffesflâneur (von Walter Benjamin geprägt: ziel- und interesseloser Spaziergänger, der mit Auge, Ohr und Nase die Eindrücke aufnimmt und im literarischen Sprachkleid wiedergibt) und ihre Anwendung auf die Persönlichkeit von Mitsakis.
Es folgt ein Abschnitt über die Panorama-Theater als eine Art künstlerischer Wiedergabe der Stadt, eine ausführliche Diskussion der gesellschaftlichen Hervorbringung des Raums (Henri Lefebvre, Alltagsrhythmen, Heterotopien, die Invasion der privaten Räumlichkeit [privacy] in die öffentliche [mobile phones], Machtbegriff bei Foucault, Struktur des erzählten Raums nach Philippe Hamon). Kapitel 2 geht dann auf Bio graphie und Persönlichkeit von Mitsakis ein (231 -372): kurz nach 1860 geboren, Jusstudium in Athen, ab 1883 Teilnahme an den Literaturausschreibungen des Hestia-Verlags, wenig Anerkennung, bon viveur ohne den finanziellen Hintergrund, Redakteur, Chronist, Literat, Satiriker, Salonlöwe, 1896 in neurotischer Behandlung mit Diagnose auf Schizophrenie, 1916 in der psychiatrischen Klinik verstorben; politische Einmischung, Antike-Bild und Byzanz, hellenozentrischer Kosmopolit, jenseits von katharevusa und dimotiki in der Sprachfrage, irreligiös. Mit dem 3. Kapitel nähert man sich dann der eigentlichen Thematik:,Athen als Haupt stadt und Zentrum des Hellenismus: Raum, soziale Schichtung, Ideologien (1830-1896)“ (373-418): Neoklassizismus, die bayerischen Stadtpläne und ihre sukzessive Modifizierung, Ent-Byzantinisierung und De-Osmanisierung, Gebäude-Errichtung im 19. Jh., die Vor städte. Kapitel 4 gehört bereits zu den Kernkapiteln: „Die Transformation der Athener Stadttopographie und die Beschreibung der Stadt-Räume bei Mitsakis“ (419-524) : die aus druckslose Komplexität des Urbanzentrums (Vitrine der wesdichen Progressivität, Unter entwicklung, Baustelle), die
öffentlichen Räume (Viertel und Nachbarschaften, Plätze, Straßen, Demonstrationen, Hotels, Kaffeehäuser, café-chantant, café-aman, ambulante Panoramen, lieux de mémoires), private Räume (Mietshäuser, Gefängnis, Friedhofskapelle, Kulturzentren, Schulen). In Kapitel 5 kommen die Beschreibungen auf die sozialen 464 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen „Klassen“, Kulturverhalten, bürgerliche Kommunikation und Ideen zu sprechen (525640): „Klassen“-Einteilung nach Vergnügungsorten, Konsum und Identität (Musik als verbindendes Element, Sympathie für das „Volk“), Transformation der neugriechischen Kultur (Traditionen contra Westorientierung, Schulbildung und Universität, Gesetzes übertretungen und Subkulturen), Tierquälereien, Volksmusik und Popular music (Revue, Operette) usw. Kapitel 6 geht dann auf die devianten Randgruppen der sozialen Exklusion ein (641-694): die soziale Peripherie, Kinder und Kinderkultur, Jugendkultur, Frauen kultur, Unterwelt und Homosexualität, Irrenhaus, ambulante Musiker. Kapitel 7 beschäftigt sich mit dem performativen Aspekt des Stadtlebens (695-734): performance studies, Tier quälereien als Schauspiele (Tanzbär), Panorama, Auseinandersetzungen der Unterwelt, Ehe streitszenen, Verrückte, Begräbnisse. Ein Anhang (735-763) bringt noch Szenen aus der Provinz; es folgt der Bildteil, eine überaus ausführliche Bibliographie (781-837) sowie ein detailliertes Register von volkskundlichen Begriffen und Sachen (839-888). Der umfang reiche Band bereichert die griechische Stadtvolkskunde um ein theoretisch reich fundiertes Werk, das in Form von Stellenzitaten aus dem Literaturwerk eines weniger bekannten Autors eine detaillierte Analyse des öffentlichen Lebens von Athen im Zeitraum von 18801896 unternimmt. Dadurch ist auch methodologisch ein Leitfaden an die Hand gegeben, ähnliche Analysen auch für andere urbane Zentren und aufgrund von anderen Literatur werken vorzunehmen. Athen, Wien
Walter Puchner 1 Mandés G. Sergės (Hg.), Μιχαήλ Μητσάκης, Αφηγήματα και ταξιδιωτικές εντυπώσεις / Κριτικά κείμενα, επιστολές, ποίηση. 2 Bde. Athen 2006/2007. Südost-Forschungen 76 (2017) 465
Sprachwissenschaft SPRACHWISSENSCHAFT Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie. Hg. u. neu bearb. Jörn Albrecht. 2 Bde. Tübingen: Narr Francke Attempto 2015. Band 1 : Von Heraklit bis Rousseau. XXV, 414 S„ ISBN 978-3-8233-6896-0,€ 39,99. Band 2: Von Herder bis Humboldt. XIV, 468 S„ ISBN 978-3-8233-6953-0, € 39,99 Der in der Moldau geborene, in Rom promovierte und lange Zeit zunächst in Uruguay lehrende Eugenio Coseriu (1921-2002) gehört zweifellos zu den überragenden Vertretern der Linguistik und Sprachwissenschaft des ausgehenden 20. Jh.s. Die beiden Termini sind bewusst nebeneinander gestellt, da Coseriu sich der Linguistik, d. h. besonders dem nach dem 2. Weltkrieg florierenden Strukturalismus zuwandte, ohne jedoch das Erbe der Alt vorderen über Bord zu werfen, wie es später oft Mode wurde. Der Romanist und führende Vertreter der Allgemeinen Sprachwissenschaft hat nicht nur ein vielfältiges und beein druckendes Œuvre hinterlassen, sondern gleichzeitig in seiner späteren Hauptwirkungs stätte Tübingen eine angesehene Schule begründet. Zahlreiche bekannte Linguisten ge hören zu seinem unmittelbaren Schülerkreis, und viele andere Kollegen wurden von seinen Ideen maßgebend inspiriert. Bekannt wurde er in Deutschland zunächst durch die zahl reichen Vorlesungsnachschriften seiner Tübinger Schüler, die große Verbreitung fanden und schließlich sogar zur Gründung eines der wichtigsten deutschen sprachwissenschaft lichen Verlage führten, dessen Grundstock Coserius Vorlesungen bilden. Auf Vorlesungsnachschriften geht auch die vorliegende, von Jörn Albrecht gründlich
neu bearbeitete zweibändige „Geschichte der Sprachphilosophie“ zurück, deren 1. Band erstmals 1970 bzw. 1972 in der Nachschrift1 von Gunter Narr und Rudolf Windisch in zwei Teilen herausgegeben wurde. Dieser Band erschien bereits einmal 2003 von Jörn Albrecht neu bearbeitet sowie erweitert und wurde größtenteils vor dem Erscheinen noch mit Coseriu abgestimmt.2 Auf dieser Fassung mit nur geringfügigen Änderungen beruht der 1. Band der aktuellen Ausgabe fur den Zeitraum von Heraklit bis Rousseau. Voll kommen neu ist hingegen der 2. Band, der im Wesentlichen der deutschen Sprachphilo sophie der Spätaufklärung gewidmet ist und mit Wilhelm von Humboldt abbricht. Denn seinen ursprünglichen Plan, die Geschichte bis in die Gegenwart fortzusetzen, hat Coseriu nicht mehr ausgeführt. In den Vorworten zu den beiden Auflagen des 1. Bandes und im Vorwort des jetzt erstmals erschienenen 2. Bandes fuhrt Jörn Albrecht seine Quellen auf und erläutert die näheren Umstände der Edition und ihre Prinzipien. Zumindest für den 1. Band erfolgte sie in enger Abstimmung mit Coseriu, während für den 2. keine so konkreten Vorgaben Vor lagen. Auf den Stellenwert von Coserius „Geschichte der Sprachphilosophie“ geht - eben falls im Vorspann — Jürgen Trabant, ein wichtiger Vertreter aus dem Kreise der Schüler, in seinem Geleitwort zum 1. Band dieser Ausgabe ein, das hier unverändert aus der 2. Auf lage von 2003 übernommen wurde. Zunächst weist er auf den großen Erfolg gerade dieser Schrift seines Lehrers hin, obwohl sie nicht dem modischen Trend des sprachanalytischen 466 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Ansatzes folgt, der praktisch die abendländische Tradition fast vollständig ausblendet oder wie im Fall von Descartes in problematischer Art und Weise interpretiert. Der von der Forschung schon ausgiebig rezipierte 1. Band beginnt mit einer allgemeinen Einführung in die philosophische Problematik und gipfelt in der Frage „Was ist Sprach philosophie?“ Flierbei geht es Coseriu in erster Linie um die klare Abgrenzung zwischen den drei auf die Sprache bezogenen Disziplinen Sprachtheorie, Allgemeine Sprachwissen schaft und Sprachphilosophie. Im Unterschied zu den beiden anderen Ansätzen stellt die Sprachphilosophie die Frage nach dem Wesen der Sprache und beschäftigt sich nicht mit dem Bau und den Funktionen konkreter Sprachen (13). Nach einem kurzen Exkurs zu den Indern beginnt dann die eigentliche Darstellung ihrer Geschichte mit Heraklits schwer deutbaren Fragmenten, der die Kapitel über Platon mit seinem „Kratylos“, Aristoteles und die Stoiker folgen. Als Beispiele der lateinischen Spätantike werden Augustinus Zeichen theorie und Ansätze zu einer Unterscheidung von Objekt- und Metasprache erörtert. Die Darstellung wird im 1. Band dann über das Mittelalter bis in 18. Jh. fortgeführt und endet mit der französischen Aufklärung. Wichtige sprachphilosophische Beiträge in diesem Zeit raum stammen für Coseriu von Thomas von Aquin, Juan Luis Vives, René Descartes, John Locke, Gottfried Wilhelm Leibniz und Giambattista Vico, um nur die am ausführlichsten behandelten Autoren zu nennen. Die Arbeit am 2. Band erfolgte unter erschwerten Bedingungen, da der 2002 ver
storbene Coseriu ihn nicht mehr selbst absegnen konnte. Albrecht war bei der Edition auf sich gestellt, und dieser Band trägt daher stärkere Spuren seiner editorischen Eingriffe. Er schwerend kam übrigens hinzu, dass für diesen Band auch keine vollständige, autorisierte Nachschrift vorliegt, auf die sich der Herausgeber hätte stützen können. Ihm standen nur seine eigenen, allerdings sehr unvollständigen Aufzeichnungen, die Nachschriften in ge raffter Form von Heinrich Dem u. a.3 sowie ferner das zwar erhaltene, aber ebenfalls lücken hafte Vorlesungsmanuskript Coserius und weitere handschriftliche Materialien aus dessen Nachlass zur Verfügung. Eingearbeitet werden konnten freilich einige separat erschienene Veröffentlichungen zu dieser Epoche. Mithin trägt dieser Band verstärkt die Handschrift von Albrecht, der sich indessen weitgehend an das von Coseriu vorgegebene Modell der Vorlesung hält. Beibehalten hat er natürlich jeweils die einleitenden biographischen Be merkungen zu den behandelten Autoren, sowie die Wiedergabe wichtiger Primärtexte und ihre textnahe Interpretation. Ferner wurde die neuere Literatur berücksichtigt, da es ihm hier nicht um reine Rekonstruktionsarbeit, sondern um die Erstellung eines weiterhin mit Gewinn benutzbaren Handbuchs ging. Diese nachträglichen Zusätze, d. h. die Hinweise auf neuere Literatur bzw. auf die Fort schritte mancher Werkausgaben, die so noch nicht oder nur in Teilen vorhanden waren als Coseriu die Vorlesung konzipierte, werden durch eckige Klammern als Zusätze des Heraus gebers gekennzeichnet. Die Darstellung selbst
konzentriert bzw. beschränkt sich auf die Entfaltung der Sprachphilosophie zwischen Spätaufklärung und Romantik im deutschen Sprachraum. Vorgestellt und erläutert werden die Beiträge zu ihr von Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann, Johann Gotdieb Fichte, Friedrich Schlegel August Wilhelm Südost-Forschungen 76 (2017) 467
Sprachwissenschaft Schlegel, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Arthur Schopen hauer, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Wilhelm von Humboldt. Kompetent inter pretiert und bewertet Coseriu die Vorstellungen und geistesgeschichtlichen Entwicklungen in dieser Periode. Dabei scheut er sich nicht wie im Fall von Schopenhauer vor harschen Urteilen. Kernprobleme dieser Epoche sind u .a. der Ursprung der Sprache (Herder, Fichte, Fr. Schlegel), das Wesen der Sprache (Schelling), Sprache und Denken (Schleiermacher), Typologie usw., die ihre Aktualität nicht verloren haben. Coserius Geschichte der Sprachphilosophie fällt sicherlich aus dem Rahmen der üblichen Darstellungen, da sie ihre Herkunft aus einer Vorlesung nicht verleugnen kann. Das zeigt sich im systematischen Aufbau der Kapitel, die jeweils mit einer allgemeinen Einführung beginnen und neben knappen biographischen Informationen jeweils die ideengeschicht lichen Zusammenhänge aufzeigen. Das ist für die Lektüre kein Nachteil, insbesondere Einsteiger dürften das sogar als Vorteil betrachten. Auch die klare Gliederung, wie sie sich in den sehr ausführlichen, mehrere Seiten umfassenden Inhaltsverzeichnissen zeigt,4 dient der leichteren Orientierung und dem schnellen Nachschlagen. Erfreulich, da nicht mehr alltäglich, ist der Umstand, dass im 1. Teil die Textfragmente auch im griechischen und lateinischen Original zitiert und erst dann übersetzt sowie ausführlich kommentiert werden. All das empfiehlt diese beiden Bände nicht nur als kenntnisreiche Geschichte der Sprach philosophie, sondern auch als
zuverlässige und gut lesbare Einführung in das sprachphilosophische Denken, wobei nur zu bedauern ist, dass es keinen Anschlussband mehr aus der Feder von Coseriu geben wird. Erlangen Klaus Steinke 1 Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Teil 1, Von der Antike bis Leibniz. Vorlesung gehalten im Winter-Semester 1968/69 and. Univ. Tübingen. Autoris. Nachschrift von Gunter Narr u. Rudolf Windisch. Tübingen 1969 (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 11); ders., Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Teil 2, Von Leibniz bis Rousseau. Vorlesung gehalten im Winter-Semester 1970/71 an d. Univ. Tübingen. Autoris. Nachschrift von Gunter Narr. Tübingen 1972 (Tübinger Beiträge zur Linguistik, 28). 2 Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Neu bearb. und erw. von Jörn Albrecht. Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Trabant. Tübingen, Ba sel 2003. 3 Eugenio Coseriu, Geschichte der Sprachphilosophie von Herder bis Humboldt Gegenwart. Teil 1 : Vorlesung im WS 1985/86. Nachschrift von Heinrich Weber Tübingen 1993; Teil 2: Schlei ermacher bis Hegel: Vorlesung im WS 1987/88. Nachschr. von Christian Dern und Heinrich We ber Tübingen 1993; Teil 3: Wilhelm von Humboldt: Vorlesung WS 1988/89. Nachgeschrieben von Christian Dern und Heinrich Weber Bearb. und hrsg. von Heinrich Weber Tübingen 2000. 4 Inhaltsverzeichnisse sind einsehbar unter http://d-nb.info/968349692/04 , 12.1.2017. 468 Siidost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Thede Kahl/Michael Metzeltin, Sprachtypologie. Ein Methoden- und Arbeitsbuch für Balkanologen, Romanisten und allgemeine Sprachwissenschaftler. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. 200 S., ISBN 978-3-447-10442-5, € 38,Dieses Buch von Thede Kahl und Michael Metzeldn will laut Untertitel eine Einführung in Methodik und Praxis der Sprachtypologie sein. Dieser Einfiihrungscharakter bedeutet eine gewisse Einschränkung, aber aus einem Lehrbuch kann man Neues erfahren, zu mal die beiden Autoren für den Bereich der Typologie ein interessantes Gespann bilden. Michael Metzeltin vertritt als Wiener Romanist die romanischen Sprachen und Thede Kahl als Slawist in Jena den slawischen Süden und den Balkanraum. Beide Autoren haben sich wegen der Einführungskonzeption die romanischen und die Balkansprachen gewählt, die für die Leser einigermaßen zugänglich und zunächst wenig Exotisches bieten. Aussagen zur Materie sind daher relativ leicht plausibel zu machen. Dem Rezensenten scheint die Sprachwahl besonders glücklich, da er in einer eigenen Untersuchung nach anderen Kriterien eine Nähe feststellen konnte.1 Die Autoren gliedern ihr Buch in sechs große Abschnitte. Nach einem Vorwort folgt Ab schnitt 1, eine Einleitung, in der die wissenschaftsgeschichtliche Entwicklung der Typologie vorgestellt wird; dann Abschnitt 2 zur Dynamik der Sprache, der zahlreiche Einzelaspekte für das Herangehen an Sprache enthält; Abschnitt 3 zu Wortklassen und ihrer Bedeutung, die den Schwerpunkt des typologischen Ansatzes, nämlich die Orientierung an den Wort klassen, erkennen lassen. Abschnitt 4
stellt Deskriptoren für eine angewandte Sprachtypo logie vor und enthält ein morphologisches und ein syntaktisches Repertoire, das untersucht werden könnte; in Abschnitt 5 geht es um die Numerusbildung in den Balkansprachen und in den romanischen Sprachen; in Abschnitt 6 um volitive Konstruktionen. Beide bilden in den genannten Sprachen die eigentliche Studie, die beispielhaft zwei Bereiche aus dem Repertoire der Deskriptoren aus Abschnitt IV ausarbeitet. Abschnitt 7 schließlich bietet ein umfangreiches Quellenverzeichnis. Zusätzlich wird für jeden Abschnitt die dazugehörige Literatur angeführt. Der Text ist gut lesbar, die angewandte Gliederung ist übersichtlich; Druckfehler, auch in kyrillischer und in griechischer Schrift, sind extrem selten. Vor diesem Gesamteindruck fragt man sich, was man durch die Lektüre gewinnen kann. Das Material der Abschnitte 5 und 6 ist übersichtlich und vollständig dargestellt, be sonders die Satzunterteilungen im Abschnitt 6 gewähren einen guten Überblick. In typologischer Hinsicht erkennt man sofort bei der Pluralbildung die Gesamtheit der indo germanischen Sprachen gegenüber dem Türkischen. Alle morphologischen Mittel, alle Weiterbildungen, Umordnungen, phonetische Veränderungen hängen mit den alten indo germanischen Deklinationsklassen zusammen, wohingegen das Türkische einen anderen Typ darstellt. Die Satzmuster im Abschnitt 6 lassen eine Zweitteilung romanisch - balkanisch erkennen, während Türkisch hier nicht so stark typologisch getrennt ist. Die Abschnitte 5 und 6 könnte man fast als Lehrbuch benutzen, aber auch als Aufgabenbuch,
um die im Abschnitt 4 erfassten Deskriptoren für Morphologie und Syntax nach den Beispielen der Südost-Forschungen 76 (2017) 469
Sprachwissenschaft Abschnitte 5 und 6 zu beschreiben. Natürlich böte sich je nach Bedarf eines Interessenten auch eine andere Sprachauswahl an. Zu kritisieren gibt es wenig. So fallt den Autoren auf, „dass die Notwendigkeit einer Stückzählung in allen Kulturgemeinschaften zu einer besonderen Lexemklasse der Kardinal zahlen fuhrt“ (24). Das Zählen von 1-? stellt schon eine beachtliche Kulturleistung dar, die keineswegs von allen Sprechergruppen erreicht wurde. Selbst da, wo theoretisch alle Zahlen vorliegen, erkennt man, dass Zahllexeme entlehnt wurden, nicht für höhere Werte, sondern für die erste Dekade. Auch wird die Wichtigkeit von Kongruenz betont (28), während in Abschnitt 5 die Genera quasi als morphologische Klasse dargestellt werden. Wichtig für die Genuseinteilung ist die Kongruenzfolge Artikel - Adjektiv: Pronomen, aus der das Genus des Substantivs gefolgert werden kann. Besonders interessant ist dabei, dass im Plural Genusunterschiede verschwinden können. Französisch hat „la, Íe“, im Plural aber nur „les“, allerdings noch Genusunterschiede beim Adjektiv und bei Pronomen. Bulgarisch hat im Plural nur noch zwei Artikel, bei Adjektiven und bei Pronomina im Plural keinen Unterschied. Deutsch und Russisch kennen im Plural überhaupt keinen Genusunterschied, wohl aber morphologisch unterschiedene Deklinationsklassen im Plural. Dies ist einer typologischen Unterscheidung wert. Später im Buch wollen Kahl und Metzeltin „ähnliche und unähnliche Möglichkeiten eruieren und erklären“ (114). Sie erklären aber nicht, sie beschreiben und interpretieren die gelieferten Daten.
Erklären würde dagegen bedeuten, wie z. B. einen Zusammenhang zwischen Artikeleinführung und -gebrauch und Nominalflexion zu vermuten. Gerade die untersuchten Sprachen bieten interessante Beispiele, im Westen (Romanisch, aber auch Deutsch) ist der Artikel Träger der Nominalmorphologie, Rumänisch und Albanisch stehen in der Mitte, während Griechisch Artikel und reiche Nominalflexion aufweist. Balkanslawisch hat dagegen westeuropäische Strukturen bei Aufgabe einer alten reichen Morphologie, aber mit Artikeleinführung. Ebenso auffällig ist, dass alle hier betrachteten Sprachen eine reiche, teils recht archaische Verbalmorphologie bewahren, wohingegen die nicht balkanisch-slawischen Sprachen die indogermanische Nominalflexion fast noch be sitzen, aber den Verbalbereich stark vereinfachen. Falsches wird bei der albanischen Pluralbildung vermittelt. „Singular auf einen Kon sonanten endend, Plural unverändert; dele-dele“ (121) — Konsonant stimmt nicht; „die Pluralbildung verhält sich in den Maskulina eher analytisch mit Morphemhinzufügung“ (125); gemeint sind Fälle wie „snop/snopovi“, „car/carevi“. Wieso soll diese Bildungsart analytisch sein? Ein Problem besteht für das Französische und für das Griechische (127), da beide Sprachen orthographisch viel Pseudomorphologie bieten. Das ist den Autoren durch aus bewusst, wodurch die Beschreibung dieser Tatsache erheblich erschwert wird. Auch die albanische Pluralbildung lässt sich nur schwer beschreiben und interpretieren (122, auch so formuliert). Die syntaktischen Typen im Abschnitt 6 ließen sich dagegen gut und problemlos
darstellen. 470 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Fasst man den Gesamteindruck zusammen, so lässt einerseits eine Einschränkung auf ein Lehr- und Übungsbuch feststellen; es ist nicht zu theorielastig, es orientiert sich an den traditionellen Wortarten und Satzgliedern, es lässt ebenso Erweiterung um andere Sprachen zu. Die Eröffnung weiterführender Perspektiven ist positiv. Nützlich erscheint die wissen schaftsgeschichtliche Einführung in die Typologie im Abschnitt 1. Für den an den südosteuropäischen Sprachen Interessierten ist zu bemerken, dass die Balkansprachen und die romanischen Sprachen zwar trennende Strukturen aufweisen, anderseits aber auch verbindende. Beide Sprachgruppen könnte man zu einem neu europäischen Sprachtyp vereinen. Türkisch als agglutinierende Sprache, aber auch die übrigen slawischen Sprachen mit stärker indogermanischem Erbe, weichen dagegen ab. Für die Arbeit an Sprachen und für die Durchdringung von Sprachen bieten Kah! und Metzeltin einen gut gelungenen Einstieg. Hamburg Jürgen Kristophson 1 Jürgen Kristophson, Ein neuer Beitrag zur Sprachbunddiskussion, Zeitschriftթր Balkanologie 29 (1993), 1-11. Christos Karvounis, Diglossie, Sprachideologie, Wertekonflikte. Zur Geschichte der neugriechischen Standardsprache (1780 bis 1930). Köln, Wien, Weimar: Böhlau Verlag 2016 (Griechenland in Europa, 3). 384 S., 20 Abb., 3 Tab., ISBN 978-3-41250364-2, € 70,Christos Karvounis wurde 2014 an der Universität München die Venia Legendi für das Fach Neogräzistik erteilt. Der Titel der Habilitationsschrift lautete „Diglossie, Sprachideo logie, Wertekonflikte und sprachliche Emanzipation.
Untersuchungen zur externen Sprach geschichte der neugriechischen Standardsprache von der neugriechischen Aufklärung bis zu den 1930er Jahren“. Im Titel der hier zu besprechenden Druckversion vermisst man die Schlüsselbegriffe „Sprachliche Emanzipation“ und „Externe Sprachgeschichte“. Die Arbeit zeugt von einer beeindruckenden Gelehrsamkeit und Belesenheit. Die Biblio graphie ist sehr umfassend, und die aufgeführten Werke erscheinen gut verwertet. Verdienst voll ist insbesondere das 1. Kapitel über „Sprachliche Emanzipation, Standardisierung und Nationalsprachen“ (15-44), wo der Vergleich mit der Entwicklung romanischer Sprachen aus dem Lateinischen gemacht wird. Ausführlich wird aus soziolinguistischer Sicht der Werdegang besonders der italienischen Sprachentwicklung geschildert und die grundsätz liche Vorbildfunktion der romanischen Sprachen für das Neugriechische hervorgehoben. Dieser Konvergenz (Terminus des Rezensenten) einerseits steht eine Divergenz anderer seits gegenüber, weil das Neugriechische sich zwar auch im Verhältnis zum klassischen Südost-Forschungen 76 (2017) 471
Sprachwissenschaft Vorbild, hier also dem Altgriechischen, definiert, aber dennoch als zum Sprachbund der Balkansprachen (40) gehörend zu sehen ist. Hier weist Karvounis auf einen „Bruch“ (40) in der Entwicklung des Neugriechischen hin, der durch die Staatsgründung 1830 zustande kommt, weil höheres Prestige — wichtig für einen neuen Staat - durch die Bezugnahme auf das antike Vorbild zu erreichen war, obwohl das Griechische auch in seiner volkssprach lichen Gestalt schon (auf dem Balkan und im Osmanischen Reich) hohes Ansehen als ad ministratives und kommerzielles Vehikel genoss (345). Dieser Bruch führt dann zur Ent stehung der neuzeitlichen Diglossie, die 1830-1880 durch eine extreme „Säuberung“ der Schrift- und Unterrichtssprache die schon im Ausbau befindliche Volkssprache behinderte und verzögerte, wie Karvounis gleich am Anfang seines Vorworts (11) deklariert. Diese Sicht der Dinge veranlasst dann den Autor zur Aufstellung seiner zweiten Hauptthese. So wird im 2. (und auch im 3.) Kapitel ausführlich dafür argumentiert, dass die gängige Auffassung, nach der es seit der Antike schon immer im Griechischen Diglossie gegeben habe, nicht haltbar sei, weil gewisse von der modernen Diglossieforschung (seit Ferguson 1959) entwickelte Kriterien in Bezug auf frühere Epochen nicht erfüllt werden. Es scheint jedoch eher fragwürdig, die Feinheiten der Forderungen moderner Soziolinguistik auf ältere Perioden anwenden zu wollen. Karvounis kommt allerdings zu dem Schluss, dass man allenfalls von einer elitenorientierten oder Scbriftlichkeitsdiglossie ausgehen könne. Mit diesem
Zugeständnis ist dann meines Erachtens nach die gängige Auffassung wieder aus reichend gestützt. In den Kapiteln 4 bis 6 liegt der Schwerpunkt der Arbeit, der die Geschichte des Neu griechischen in vier je etwa 50 Jahre dauernde Einzelphasen unterteilt: 1783-1830 bzw. 1774-1830 (Kapitel 4, 115-168) 1830-1888 bzw. 1830-1880 (Kapitel 5, 169-248) 1888-1941 bzw. 1880-ca. 1930 (Kapitel 6, 249-342) 1941-1976 (wird nicht näher behandelt). Phase 1 bezieht sich auf die Zeit, die der Gründung des griechischen Staates unmittelbar vorausging und in welcher der Diskurs über eine geeignete Staatssprache geführt wurde. Die Diglossie zwischen H(igh) und L(ow) war nach Karvounis immer noch elitenorientiert, aber der Ausbau der L-Varietät begann in dieser Epoche. Als besonders aktiv in dieser Richtung gilt der Aufklärer Dimitrios Katartzis, der deutlich zwischen Alt- und Neugriechisch als zwei Sprachen unterschied. Phase 2 beinhaltete eine Spaltung des Diglossie-Verlaufs insofern, dass im Königreich Griechenland die H-Varietät (Katharevousa) nicht nur ausgebaut und etabliert wurde, sondern aus nationalistischen Gründen immer mehr streng archaistische Züge annahm, begleitet von einer Erosion der L-Varietät (Dimotiki), während auf den Ionischen Inseln (westlich vom griechischen Festland), die bis 1864 ein britisches Protektorat bildeten, das Gegenteil der Fall war: Ausbau und Etablierung der L- und Erosion der H-Varietät. 472 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Phase 3 bedeutete das Entstehen und Etablieren einer Prosaliteratur in der Dimotiki, was zu scharfen Auseinandersetzungen in der GeseUschaft führte, aber Unguistisch diese Varietät etablierte. In dieser Zeit entstand in Griechenland der Terminus δφ.ωσσ'\αΙ Di glossie (Ro'idis, Psycharis), etwa hundert Jahre vor Ferguson. In der Phase 4 wurde die Dimotild endlich auch sozial etabliert und die Diglossie (jeden falls offiziell) 1976 per Gesetz beendet. Dieser Phase wird bei Karvo unis leider kein be sonderes Kapitel gewidmet, siehe unten. Die Gliederung in Phasen ist gut begründet und mit zahlreichen längeren Beispielen illustriert, die allerdings rein sprachlich etwas ausführlicher hätten analysiert werden können. Der Autor weist auch darauf hin, dass im Laufe der Zeit mehrere L- und H-Varietäten sowie Interferenzen zwischen L und H entstanden, z. B. das Phänomen der von Karvounis so genannten „Pro-Forma-Katharevousa“ (316-322). Von einer „neugriechischen Standardsprache“ (Κοινή Νεοελληνική) kann also aber erst ab 1976 die Rede sein, vgl. oben Phase 4. „Geschichte“ im Titel der Arbeit (en) muss folg lich als „Vorgeschichte“ verstanden werden. Umso bedauerlicher ist es, dass die Periode, die auf diesen Zeitpunkt hinausläuft, nicht ausführlicher behandelt, sondern im 6. Kapitel nur knapp erwähnt wird (ansonsten ist die Arbeit umfangreich genug). Darüber hinaus wäre eine nähere Erläuterung, inwiefern sich diese neugriechische „Standardsprache“ von der herkömmlichen „Dimotiki“ unterscheidet, wünschenswert gewesen. Der Buchtitel be schränkt die Arbeit zwar auf
„[.] bis 1930“, aber die Gründe für diese Beschränkung er schließen sich dem Leser nicht. Mit der einschlägigen Fachliteratur zeigt sich Karvounis bestens vertraut. Besonders wert voll sind dabei seine vielen Hinweise auf aktuelle Forschung in Griechenland. Außerdem hat er eine mehr a!s zehnjährige neogräzistische Lehrerfahrung in Mainz/Germersheim und München. Aber trotz vielen pädagogischen Abbildungen“ und Tabellen, die für den Leser sehr hilfreich sind, und einem tadellosen deutschen Sprachgewand erschien dem Rezensenten die Lektüre durch den syntaktisch leicht überlasteten Stil des Autors zuweilen leider etwas mühsam. Zusammenfassend ist das wirklich Innovative des vorliegenden umfassenden und akribisch recherchierten Werkes in der konsequent angewendeten soziolinguistischen Sicht auf die behandelte(n) Periode(n) 1780-1930 zu sehen. Unschön und ungerecht dem Autor gegenüber ist die mangelhafte Lektorierung des Ver lags, wodurch Blüten wie „Das diglossisches (sic!) Erbe“ (8, aber 45-110 Kopfzeile ständig wiederhok) nicht beseitigt wurden. Wiesbaden Südost-Forschungen 76 (2017) Hans Ruge 473
Literatur und Theaterwissenschaft LITERATUR UND THEATERWISSENSCHAFT Roderick Beaton, Η ιδέα του Έθνους στην ελληνική λογοτεχνία. Από το Βυζάντιο στην σύγ χρονη Ελλάδα [Die Idee des Ethnos in der griechischen Literatur. Von Byzanz bis zum heutigen Griechenland]. Iraklion: Crete University Press 2015. XII, 523 S., ISBN 978960-524-347-0, € 25,„Ethnos“ wird schon bei Hesiod als Menschengruppe mit gemeinsamer Abstammung, Sprache, Religion, Sitten und Gebräuche definiert. Im Laufe der europäischen Ideen geschichte trat dann das Zusammengehörigkeitsgefühl dazu, wie es sich in der Terminologie der heutigen Sozialpsychologie und Gruppendynamik als ein entwickeltes System von Autound Heterostereotypen ausdrückt. Insofern ist der griechische Begriff „Ethnos“ etwas weiter gefasst als die „Nation“, deren Begrifflichkeit und Anwendung im Nationalismus erst in der Aufklärung und Romantik zum Tragen kommt. Dazu gibt es jede Menge Literatur; in Süd osteuropa mit seinen Reichszugehörigkeiten wird die Nationsidee mit ihrem theoretischen Überbau durch Herder, die Französische Revolution und dem Josephinismus rezipiert und wird zum ideologischen Instrument der Anstrengungen um die Loslösung von den Groß reichen (Habsburger Monarchie, Osmanisches Reich). Formen des Zusammengehörigkeits gefühls hat es jedoch schon früher in manchen Zonen der Reichsverbände gegeben, z. B. bei den Rumänen.1 Griechenland ist natürlich ein Sonderkapitel, da sich das byzantinische Jahr tausend und das hellenische Altertum für eine Rückprojizierung nationaler Vorstellungen geradezu anbieten und mit der
Sprachkontinuität ein Faktum gegeben ist, das dem Kontinui tätsdenken ein unwiderlegbares Argument an die Hand gibt. Freilich hat sich weder das hellenische Altertum noch Byzanz als eine „Nation« im Sinne von Herder verstanden, doch Formen eines Zusammengehörigkeitsgefühls und Gemeinsamkeitsbewusstseins sind zweifel los vorhanden (Sprache, Bildung, Festivitäten, Glaube, Mythologie, Eschatologie usw.). Dieser Frage geht Roderick Beaton, ausgewiesener Byzantinist und Neogräzist, in einem Studienband nach, der sich der Frage nach der Geschichte der Idee des Ethnos in der griechischen Literatur widmet, von der mittelbyzantinischen Zeit bis in die Gegenwart. In Wirklichkeit geht es um eine Zusammenstellung verschiedener Studien zur byzantinischen und neugriechischen Literatur, die sich unter diesem ideengeschichtlichen Nenner ver einigen lassen, wenn auch nicht immer ohne bedeutende Abweichungen. Unabhängig davon sind solche Zusammenstellungen von verstreuten Artikeln in Studienbänden dieser Art zu begrüßen, da sie erst im Kontext und Dialog untereinander das Forschungsprofil eines scholars und seinen Werdegang erkennen lassen. Dieser thematische Aufhänger wird in einem Einleitungskapitel angesprochen:,Antike Nation [Ethnos]? Der Begriff,Hellene“ am Vorabend der griechischen Revolution [1821] und im Byzanz des 12. Jh.s“ (l-36).2Ein Artikel, in dem der Autor die laufende Diskussion um die eventuelle Existenz von Vorformen der Nationalidee in Byzanz kommentiert, ausgehend von Andersons „imagined nations“ und Anthony D. Smiths „The Antiquity of Nations“,3 indem er den
Wortgebrauch des Terminus „Hellene“ gegenüber dem „Rhomäer“ (Römer), wie die formelle Selbstbezeichnung der 474 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Byzantiner lautete, untersucht. Das Nachfolgebewusstsein der Byzantiner gegenüber der antiken griechischen Erbschaft hat das Bewusstsein, auch „Hellenen“ zu sein, freilich nicht gänzlich erlöschen lassen. Diese Frage der Nationsbezeichnung taucht nicht nur in der Sprachfrage um 1800, sondern auch um 1900 auf, und wurde von der modernen Sozial anthropologie (Michael Herzfeld) unter ideologiekritischen Vorzeichen wieder aufgegriffen. Auf dieses Einleitungskapitel folgen drei Hauptteile. Der 1. hat den Titel „Wann und wie beginnt die neugriechische1 Literatur?“ (37-196). Bei den Einzelkapiteln handelt es sich durchweg um bereits veröffentlichte Studien, im Griechischen oder Englischen, die hier in grob chronologischer Abfolge zusammengestellt werden. Zu der Frage nach dem Beginn der neugriechischen Literatur, in Unterscheidung von der byzantinischen, der auch ein Kongress der „Neograeca Medii Aevi“ 1991 in Venedig gewidmet war, gibt es keine eindeutige Antwort, sondern nur verschiedene Vorschläge in gewisser zeitlicher Streuung. Die zeitliche Spanne, die die neun Kapitel umfassen, bewegt sich vom 12. Jh. bis zum kretischen „Erotokritos“ (17. Jh.). Es geht 2) um das byzantinische Kulturfundament des 12. Jh.s,4 3) Kappadoker am Kaiserhof: Digenes und Timarion,5 4) Die Satiren des Theodoras Pródromos und die Anfänge der neugriechischen Literatur,6 5) Ptochoprodromika III,7 6) Die byzantinische Wiederbelebung der altgriechischen Romankunst,8 7) Die Rezeption des mittelalterlichen Romans im Westen durch die byzantinische und nachbyzantinische Literatur,9 8) Die Poetik
des volkssprachigen griechischen Romans und der Chronotop nach Bachtin,10 und 9) „Erotokritos“ in der geschichtlichen Entwicklung der Romankunst11. Der 2. Teil beschäftigt sich dann mit dem 19. Jh.: „Romantik und die Errichtung des Nationalstaats“ (199-337). Auch hier steht die Nationalidee keineswegs immer im Mittel punkt. Es beginnt mit 10) Koräis, Toynbee und das Kulturerbe des neueren Griechentums,12 11) Helden mit politischer Gesinnung: die Gebrüder Sutsos und die Romankunst im neu gegründeten griechischen Königreich,13 12) Solomos als Romantiker,14 13) Die Romantik in Griechenland,15 14) Idyllischer Provinzrealismus und Volkskunde in der griechischen Prosaliteratur des 19. Jh.s,16 15) zu Psycharis und dem Gattungsproblem seiner „Reise“17 und 16) zum Epos der Neugriechen bei Kostis Palamas.18 Der 3. Teil über das 20. Jh. hat den charakteristischen Titel: „Das Jahrhundert der Labyrinthe1: Mythos und Geschichte“ (341- 480). Ihm sind weitere acht Kapitel gewidmet: 17) K. P. Kavafis: die „ironische Sprache“ und die Suche nach der Hellenizität,19 18) Seferis und der Gebrauch der Geschichte,2019) Die minoische Kultur im Werk von Kazantzakis,21 20) Zur Rolle von Byzanz im Werk von Papatsonis, Seferis und der Nachkriegsdichtung,22 21) Der Hellenismus im Werk von Seferis,23 22) Modernismus und die Suche nach der na tionalen Identität: die „Romiosyni“ von Ritsos,24 23) Außerhalb von Raum und Zeit: eine Reise mit Andreas Embirikos25. Bloß der letzte Artikel zu dem frühen Romanwerk von Rea Galanaki als postmoderne Version der nationalen Geschichte ist als Originalbeitrag hier
zur ersten Mal veröffentlicht (465-480). Es folgt noch eine Bibliographie (481-512), ein Verzeichnis der Erstveröffentlichungen (513-515) und ein Namensindex (517-523). Athen, Wien Südost-Forschungen 76 (2017) Walter Puchner 475
Literatur und Theaterwissenschaft 1 Krista Zach, Orthodoxie und rumänisches Volksbewußtsein im 15. bis 18. Jahrhundert. Wies baden 1977. 2 Zuerst veröffentlicht als Antique Nation? ‘Hellenes’ on the Eve of Greek Independence and in Twelfth-Century Byzantium, Byzantine and Modern Greek Studies 31 (2007), H. 1, 76-95. 3 Anthony D. Smith, The Antiquity of Nations. Cambridge 2004. 4 Zuerst in einer griechischen Übersetzung des Sammelbands von Beaton selbst zum Liebesro man im griechischen Mittelalter, 1989 auf Englisch, 1996 auf Griechisch. 5 Zuerst erschienen als Cappadocians at Court. Digenes and Timarion, in: Magaret MuLLETT/Dion Smythe (Hgg.), Alexios I Komenos, Bd. 1: Papers. Belfast 1996, 329-338. 6 Zuerst erschienen in Ariadne 5 (1989), 207-214. 7 Zuerst erschienen im Gedenkband für Stamates Karatzas: Mnēmē Starnate Karatza. Ereunētika problēmata neoellēnikēs philologias kai glõssologias; praktika epistēmonikēs synantésěs, Thessalonikē 5-7 Mäíu 1988. Hg. Aristoteleio Panepistėmio Thkssalonikēs Philosophise Scholē. Thessa loniki 1990, 101-107. 8 Zuerst erschienen als The Byzantine Revival of the Ancient Novel, in: Gareth L. Schmeling (Hg.), The Novel in the Ancient World. Amsterdam 1996, 713-733. 9 Zuerst erschienen als Courtly Romances in Byzantium: A Case Study in Reception, Mediter ranean Historical Review 4 (1989), H. 2, 345-355. 10 Zuerst erschienen als The poetics of the vernacular Greek romances and the chronotope accor ding to Bakhtin, Neograeca Medii Aevi 6 (2012), 249-262. 11 Zuerst erschienen in Stephanos Kaklamanis (Hg.), Ζητήματα ποιητικής στον
«Ερωτύκριτου». Heraklion 2006, 39-49. 12 Zuerst erschienen als Koraes, Toynbee and the modern Greek heritage, Byzantine and Modem Greek Studies 15 (1991), 1-18. 13 Zuerst erschienen in Pantelis Vuturis / Giorgos Georgis (Hgg.), Ο ελληνισμός του 19ου αιώ να. Athen 2006, 108-113. 14 Zuerst erschienen in Ελληνικά 40 (1989), 132-147. 15 Zuerst erschienen als Romanticism in Greece, in: Roy Porter/Mikulás Teich (Hgg.), Ro manticism in National Context. Cambridge 1988, 92-108. 16 Zuerst erschienen als Realism and Folklore in Nineteenth-Century Greek Fiction, Byzantine and Modern Greek Studies (1982-83), 103-122. 17 Zuerst erschienen in Mantatoforos 28 (1988), 46-52. 18 Zuerst erschienen in Pantelis Buturis, Κωστής Παλαμάς. Ο ποιητής και ο κριτικός. Athen 2007, 191-203. 19 Zuerst erschienen als C. P. Cavafy: Irony and Hellenism, Slavic and East European Review 59 (1981), H. 4,516-528. 20 Zuerst als Zypriotisches Kongressreferat 1997. 21 Zuerst auf Kazantzakis-Konferenz, Myrtia 2010. 22 Zuerst erschienen als Our glorious Byzantinism’. Papatzonis, Seferis, and the Rehabilitation of Byzantium in Postwar Greek Poetry, in: David Ricks/Paul Magdalino (Hgg.), Byzantium and the Modern Greek Identity. Aldershot 1998, 131-140. 476 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 23 Zuerst erschienen als ‘A Continent as Big as China’. Hellenism in the Life and Work of George Seferis, in: Vassihos Sabatakakis / Peter Vejleskov (Hgg.), Filia: Studies in Honour of Bo-Lennart Eklund. Lund 2005, 15-26. 24 Zuerst erschienen als Modernism and the Quest for National Identity. The Case of Ritsos’ Romiosini, in: Aikaterinē Makrynikola /Strates Mpurnazos (Hgg.), Ο ποιητής και ο πολίτης Γιάννης Ρίτσος. Οι εισηγήσεις. Athen 2008, 109-124. 25 Zuerst erschienen als Beyond Place and Time. Out of this World with Andreas Embirikos, Journal ofMediterranean Studies 2 (1992), H. 2, 256-270. Sabine Cismas, Invocations of Europe. Music Theatre and the Romanian Principalities 1775-1852. Wien, Köln, Weimar. Böhlau Verlag 2016 (Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert, 13). 279 S., ISBN 978-3-205-20216-5, € 60,Es handelt sich um eine am European University Institute (EUI) entstandene Dissertation (2014), die die Europäisierung und Modernisierung derTransdanubischen Fürstentümer der Mokiau und der Walachei anhand der Einführung und Pflege des Musiktheaters verfolgen will. Dabei wird großer Wert gelegt auf die Kontextanalyse der wechselnden historischen Situationen und ihre Komplexität, v. a. nach der Phanariotenherrschaft durch den russischen Faktor, und die Unterschiedlichkeit der beiden Fürstentümer je nach dem Persönlichkeits profil der regierenden Herrscher, den Reaktionen des höheren und niedrigeren Standes der lokalen Bojaren, der jeweiligen Phase in der Frage nach der angestrebten nationa len Identität, der Sprachfrage, der
Entwicklung des „europäischen” Vorbilds Frankreich usw. Diese Kontextualisierung des Musiktheaters im Kräftespiel sozialer und historischer Mega-Fakten geht über eine normale Theatergeschichte z. T. hinaus und ist in ihrer Aus führlichkeit einer gewissen selektierten Sekundärliteratur verpflichtet, deren Ansichten in extenso reproduziert werden. Die Arbeit versteht sich als ein Gegenansatz zu den „nationa listischen“ Kulturgeschichten der kommunistischen Periode, die die Phase des zaristischen Protektorats als negative Fremdherrschaft bewerten, welches als Hemmschuh für die Nationalisierung und den Europäisierungsprozess zu werten sei, während die Autorin die positive Seiten der russischen Verwaltung in der Kulturpromovierung herausstreicht (massive Einführung der französischen Kultur, nach 1840 Reduzierung der Gallomanie durch die Forcierung deutsch-österreichischer und italienischer Vorbilder aus Furcht vor der potentiellen historischen Langzeitwirkung der Französischen Revolution, Kultivierung der Musikkultur usw.). Dieses kulturgeschichtliche Positivbild weicht z.T. deutlich von den bekannten Bewertungen ab (die Frage einer wenn auch oberflächlichen Europäisierung der hohen und niederen Aristokratie und des Merkantilbürgertums wären auch mit dem Innen bild in Einklang zu bringen, das etwa Alecsandris Komödien bieten). Südost-Forschungen 76 (2017) 477
Literatur und Theaterwissenschaft Die phanariotische Epoche wird allerdings im Gegensatz dazu in traditioneller Weise durch ethnozentrisch einseitige Werturteile als überaus negativ gewertet und die griechische „Fremdherrschaft” mit der „Rückständigkeit” des Osmanischen Reich gleichgesetzt. Dieses immer noch beliebte eurozentrische Bewertungsschema „erleuchtetes Europa der Moderni tät, Wissenschaft und Aufklärung/prämodernes theokratisches Reichsgebilde der Reaktion und orientalischen Passivität und Unberechenbarkeit”, wie es sich in Konzepten wie die „Gegen-Aufklärung” noch weiterperpetuiert, ist heute eigendich nicht mehr zu halten und fur eine vergleichende Balkanologie schon gar nicht. Die nationalstaatliche Rückprojektion von Werten und Begriffen, die die „Wiedergeburtszeit” geprägt hat, ist heute nicht mehr notwendig aufgrund des historiographischen Paradigmenwandels nach der Wende. Die aufklärerische Tätigkeit und literarische-kulturelle Westorientierung zentraler Phanariotenpersönlichkeiten am ffospodarenthron erfordert eine differenziertere Betrachtungsweise. Hier herrscht in der Arbeit auch ein bedeutendes Informationsdefizit, das sich auch deutlich in der beschränkten Rezeption von Sekundärliteratur widerspiegelt, wo zentrale Werke zur Phanariotenherrschaft in den Transdanubischen Fürstentümer überhaupt nicht aufscheinen. Hier kommt es auch zu Sachfehlern, die leicht zu vermeiden gewesen wären. Das ist schade, denn im Ganzen bringt die Arbeit durchaus neue Detailerkenntnisse, was das Musiktheater betrifft (das Sprechtheater ist fast gänzlich ausgeklammert,
sodass der Theaterhistoriker Südosteuropas manches vermissen wird) sowohl aus Archivforschung als auch durch Auswertung der Presse. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Phanariotenzeit überhaupt auszuklammern (hier werden griechische Quellen und Sekundärliteratur über haupt nicht rezipiert) und gleich mit dem russischen Protektorat nach 1821 zu beginnen. Dieser Abschnitt bildet nicht nur den überwiegenden Hauptteil der Arbeit, sondern ist den früheren Ausführungen auch qualitativ und nachweismäßig deutlich überlegen. Hier lösen sich die einseitigen ethnozentrischen nationalideologischen Interpretationen in ein prismatischeres Bild auf, das durch Detailkenntnis besticht und die Musiktheatergeschichte in ihrer ereignisgeschichtlichen Dynamik in ein Geflecht von sozialen, historischen und politischen Faktoren und Akteuren integriert, das der Komplexität der rasch wechselnden Verhältnisse in den Fürstentümern jenseits der Donau gerecht wird, aber auch der not wendigen Differenzierung zwischen Moldau und Walachei. Erstaunlich bleibt, wie wenig ältere rumänische Theatergeschichte berücksichtigt wird; nicht zu reden von der griechischen, die überhaupt nicht vorkommt. Immerhin war einer der Protagonisten der letzten Phase der Phanariotenzeit in Bukarest, Konstantinos Kyriakos Aristias (Costache Aristia), bis zu seinem Lebensende in der walachischen Hauptstadt als Schauspiellehrer, Dramaturg, Übersetzer und Regisseur tätig. Die Arbeit folgt einer logischen Struktur enger werdenden konzentrischer Kreise um die Vorstelhmgen des Musiktheaters: Auf eine Einleitung folgt ein Kapitel
zu sozialen und politischen Kontexten (1775-1852), weiter „Foreign Political Control and Representation in Public Theatres in Moldavia and Wallachia“, „Political Legitimization in the Theatre“, „The Guiding Principles of Music Theatre“ und „The Transfer and Practice of European Music Theatre Companies and Repertoires“. Eine umfangreiche „Introduction“ (9-33) beschreibt 478 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen die Rahmenbedingungen und das methodische Vorgehen der Arbeit. Bereits hier fallt die eng ethnozentrisch-ideologische Tendenz in der Bewertung der Phanariotenzeit (1711/17161821) auf, die angeblich die Westkontakte verhindert haben soll.1 Die Westkontakte über das Griechische bestanden schon vorher: Dimitrie Cantemir hatte einen griechischen Lehrer, lerendas Kakavelas aus Kreta, der eine italienische Beschreibung der 2. Wiener Türken belagerung ins Griechische übersetzt hat, und der kürzlich heiliggesprochene Constantin Brâncoveanu, der als Aristoteles-Ubersetzer auch Werke im Griechischen verfasst hat, wurde aufgrund der gleichen Abhängigkeit von der Hohen Pforte in Kostantiniyye enthauptet (zusammen mit seinen vier Söhnen) - wie so viele Phanariotenfürsten nach ihm. Zu dieser Zeit bestand bereits ein griechisches Schulnetz, die Verkehrs- und Handelssprache war das Griechische, unbeachtet der ethnischen Zugehörigkeit der Merkantilschicht, der höhere Klerus war meist griechisch, Griechisch war die Diplomatensprache im Verkehr mit dem Osmanischen Reich und unangefochtene Bildungssprache. Die forcierte Gräzisierung der Oberschichten während der Phanariotenzeit baute auf ein bereits vorhandenes Fundament auf.2 Der Ausdruck „Fremdherrschaft” (Relikt der sozialistischen rumänischen Historio graphie) ist mit Differenzierungen zu gebrauchen; dasselbe gilt für den Vorwurf der Rück ständigkeit.3 Das unreflektierte Vokabular bewegt sich streckenweise nicht auf der Höhe der Ansprüche, die die Arbeit an sich selbst stellt.4 Man vermisst auch vergleichende Aus blicke auf
andere Nationsbildungen im Balkanraum und die Diskussion (und Literatur) zum spezifischen südosteuropäischen Nationalismus des 19. Jh.s. Der 2. Teil der Einleitung geht dann auf die Musiktheaterformen ein: Vaudeville, Operette und Oper. Das Musiktheater war Angelegenheit der höheren und niederen Aristo kratie sowie des wohlhabenden Merkantilbürgertums, Statussymbol und gesellschaftliches Ereignis. Es zählte nicht so sehr der ästhetische Genuss der Akustik als das Gesehenwerden, der Protektor-Status einer Primadonna usw. Die Diskussion um ein rumänischsprachiges Repertoire als Voraussetzung für ein Nationaltheater hält sich in dieser Phase in Grenzen und betrifft v. a. das Sprechtheater. Musiktheater war in jeder Hinsicht ein Import: von Frankreich, Italien und Österreich. In der Folge werden dann die Einzelkapitel vorgestellt. Kapitel 1. ist „The Social and Political Context (1775-1852)“ gewidmet (34-72) und umfasst folgende thematische Einheiten: „Social Transformation in Moldavia and Wallachia“ (von den Phanariotenprinzen zum Regulamentul Organic)1, die Nationalidee der intelligentsia, die Idee von Europa, die Sprachfrage, Zunahme des niedrigen Adels, Nach ahmung europäischer Kleidung und Sitten, Gallomanie usw. Kapitel 2 „Foreign Political Control and Representation in Public Theatre in Moldavia und Wallachia“ (73-121) bringt dann die Reformen von Alexandras Ypsilantis, der nach Sulzer auch ein Kammerquartett mit „deutscher“ Musik eingerichtet hatte.6 Die Ausführungen zu den ersten Laientheatern in Iaşi und Bukarest sind in der einschlägigen Bibliographie von vielen
Detailunsicherheiten und Ungereimtheiten begleitet, die auch hier reproduziert werden.7 Während der russischen Okkupation der Moldau 1809-1812 wurde in Iaşi von Gaetano Maggi ein Theater ein gerichtet, in dem Russisch gespielt wurde. 1816 organisierte Gheorghe Asachi hier die ersten rumänischen Vorstellungen. In Bukarest organisierte die junge Raliu Karatza mit FinanzSüdost-Forsdiungen 76 (2017) 479
Literatur und Theaterwissenschaft hilfe von Nicolae Vacărescu 1817 das Theater аш „Roten Brunnen“, wo griechische Schüler der „Universal School“ (wohl die Αυθεντική Ακαδημία)8 Szenen aus antiken Tragödien auf führten. Opern kamen dann erst durch die „Viennese company“ von Gerger zur Auf führung.9 Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich dann mit „Cultural Politics under Russian Occupation“, nach 1828, 1829-1834 unter Graf Pavel Kiselev, der sich positiv über die Theaterorganisation äußerte: 1832 wurde in Iaşi das erste öffentliche Theater errichtet („Théâtre des Variétés“). Truppen und Spielpläne wurden von den Franzosen beherrscht.10 Die Verfasserin distanziert sich von der rumänischen Theatergeschichtsschreibung, die seine Rolle durchaus negativ bewertet hat. In Bukarest wurde das Momolo-Theater errichtet. Es ist die Zeit, wo sich auch die Sprachfrage an Frankreich orientiert. Nach 1840 kommt es zu einem Umschwung: „Changing the Cultural Politics in the Romanian Theatres at the Russian Request“: Das zaristische Russland fürchtete durch die zunehmende Gallisierung ein Wiederaufleben der Ideen der Französischen Revolution; österreichische Prinzipalinnen wurden eingestellt: Therese Frisch in Iaşi und Henriette Carl in Bukarest; durch ihre Miss wirtschaft konnten sie sich nicht allzulange halten. Kapitel 3 bringt dann die Folgejahre: „Political Legitimization in the Theatre“ (122166). In der Regierungszeit von Prinz Mihai Sturdza (1834-1849) wurde die kulturelle Emanzipation forciert: Die Theaterleitung wurde in Iaşi Prinz Nicolae Suţu und dem Schau spieler Matei Millo
übertragen: In Bukarest, wo die Abhängigkeit von Russland direkter war, reagierte Gheorgie Bibescu (Amtszeit 1842-1848) konservativer; doch sein Nachfolger Prinz Barbu Ştirbei (Amtszeit 1849-1853, 1854-1856) warf dann die Frage der Emanzipierung wieder auf. 1852 wurde das Grand Theatre errichtet, zwar mit einem italienischen Impresario aber staatlicher Subvention. Ein letzter Abschnitt geht dann auf die Gründung der Phil harmonischen Gesellschaft in Bukarest 1834-1837 ein, 1836-1840 in Iaşi das Philodramatische Konservatorium. Kapitel 4 hat den Titel „The Guiding Principles of Music Theatre“ (167-199) und beschäftigt sich mit der gesellschaftliche Rolle des Musiktheaters: aristokratisches Publikum, zunehmend auch Merkantilbürgertum, „Self-presentation at the theatre“, Französisch und europäische Vielsprachigkeit, die alte aufklärerische Idee ,Д moral school for the progress of the people“ (balkanweit), „Music theatre, a gift from God perfected by man“ - die anspruchvollste Theaterform, „Opera, a dark mirror of society“ in ihrer Ausführung nicht immer (Schauspielkritik von Costache Carageali [Caragiale?] und Vasile Alecsandri). Kapitel 5 bringt dann den „harten Kern“ der Theatergeschichte: „The Transfer and Practice of European Music Theatre Companies and Repertoires“ (200-245): zu den Sängern und Primadonnen (Bukarest und Iaşi als Zwischenstationen der Reise der italienischen Opernsänger/innen nach Odessa, Konstantinopel und in den Schwarzmeer raum), zu den impresarii und dem Opernbusiness, zum französischen Repertoire (Gattungen, Genres und Werke), zur italienischen Oper
(gleiches Repertoire mit Russland und dem Osmanischen Reich), zur rumänischen Historienoper (1834 erstes Vaudeville von Elena Asachi, „Dragoş, the First Suzerain Prince of Modavia“, weitere von Johann Andreas Wach mann, Alexander Flechtenmacher, auch vertonte Komödien von Alecsandri usw.). 480 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Es folgt noch eine ausführliche Zusammenfassung (246-258), die sich noch einmal absetzt von der rumänischen Nationalgeschichte, welche das russische Protektorat bloß unter negativen Vorzeichen sieht. Die mehrfache Hervorhebung dieser Interpretations linie scheint der Autorin ein besonderes Anliegen zu sein. Weit weniger differenziert wird die Phanariotische Epoche gesehen, die bibliographisch auch massiv unterrepräsentiert bleibt (Bibliographie 259-274, der Index ist lückenhaft). Als besonders positiv sind die Archivforschungen zu Einzelfragen zu sehen sowie die Einbindung der Theatergeschichte in soziale und politisch-historische Kontexte, die differenziertere Erklärungsmodelle er lauben als die bloße Ereignisgeschichte. Europäisierung und nationale Emanzipierung werden als ergänzende Prozesse gesehen; ein vergleichender Blick auf balkanische Nach barländer hätte vielleicht noch ein prismatischeres Bild ergeben, denn ganz frei von ge wissem ideologischem Schematismus und historischen Stereotypen ist die Arbeit nicht. Was die Theatergeschichte betrifft, ist dies jedoch eine hochwillkommene Arbeit, die allerdings zwei Schwächen aufweist: 1) dass das Musiktheater in seiner Entwicklung in diesem Kommunikationsraum vom Sprechtheater gar nicht schnittklar getrennt werden kann, v. a. in dieser Phase der Theaterkonstituierung im ostbalkanischen Raum,11 und 2) dass bis zum Einmarsch von Konstantin Ypsilantis in der Moldau und der Schlacht von Drăgăşani, an der die Laienschauspieler von Bukarest und Odessa mitgekämpft haben (ein Protagonist ist gefallen, Aristias
wurde schwer verwundet), sowie dem Aufstand von Tudor Vladimirescu die Entwicklungen von rumänischem und griechischem Theater gar nicht getrennt werden können. Eine monoglossale und monokulturelle Interpretation unter ethnischen und späteren nationalen Vorzeichen führt hier zu keinen realistischen Erklärungsmodellen. Aufgrund der mangelnden komparativen Kompetenz bzw. Sachund Literaturkennmis, die nur rumänische Quellen und allgemeine Ubersichtsliteratur zur rumänischen Staatenbildung bzw. zur Theaterwissenschaft und Opernkunde rezipiert, hätte das Phanariotenkapitel ausgeklammert bleiben können oder müsste bedeutend er weitert werden.12 Aber von eigentlichem Musiktheater kann man in dieser Kulturphase der Phanarioten in den Transdaunbischen Fürstentümer ohnehin nur als Ausnahmeerscheinung sprechen.13 Trotz dieser Vorbehalte wird man diese Monographie auch in Zukunft für die Theatergeschichte der Moldau und Walachei zwischen 1826 und 1852 gern benützen. Athen, Wien Walter Puchner 1 „The Phanariot regime, which takes its name from the Phanariot princes installed by the Otto man Empire in Moldavia and Wallachia in 1711 and 1716 and lasted until 1821, oriented the Prin cipalities towards the Ottoman and Greek civilizations to the detriment of Western European in fluences“ (9). Das ist eine fast provokative Vereinfachung, die den Tatsachen nicht mehr entspricht, weder auf osmanischer Seite (Tulpenzeit, Donizetti, aL·fi·anga-ЩіоЕае), noch auf griechischer: Eine ganze Reihe von populären Lesestoffen kam über das Griechische in den Donau-Fürstentümer (Ber toldo, Erotocrit
usw.), die phanariotische Literatur entstand zum Großteil in Bukarest, Literaturüber- Südost-Forschungen 76 (2017) 481
Literatur und Theaterwissenschaft Setzungen aus Westsprachen (Cervantes, Metastasio, Molière, Alfieri, Voltaire usw.); klerikale Satiren gibt es in Bukarest auf Griechisch schon Ende des 17 Jh.s. 2 Walter Puchner, Griechische Hegemonialkultur im östlichen Balkanraum zur Zeit der Aufklä rung und der nationalen „Wiedergeburt“. Beispiele und Tendenzen, in: Maria Oikonomou/Maria A. Stassinopoulou / Ioannis Zelepos (Hgg.), Griechische Dimensionen südosteuropäischer Kul tur seit dem 18. Jahrhundert. Vorortung, Bewegung, Grenzüberschreitung. Frankfurt/M. u. a. 2011 (Studien zur Geschichte Südosteuropas, 17), 17-26. 3 Anonyme soziale Satiren auf die Walachei um und nach 1800 (1800, 1809, 1820) im Griechi schen, nach der Sprachgebung von Bojaren verfasst, beschreiben anschaulich den Ämterhandel, den Kleidungsluxus, die Verschuldung, die Westmanie, den Ärzteschwindel usw., ohne dies den Phanarioten zuzuschreiben (Walter Puchner, Satirische Dialoge in dramatischer Form aus dem Phanar und den transdanbuischen Fürstentümern 1690-1820. Eine sekundäre Textgruppe des vorrevoluti onären griechischen Theaters, Հոէտշհրփթր Balkanologie 43 (2007), H. 2, 189-206). 4 Beispiel aus der Einleitung: „They [the intellectuals] concluded that their countries were back ward and that this was due to the installment of the Phanariot regime in the eighteenth century. Not only they, but also a number of European travellers and officials harshly criticized the Romanian Prin cipalities, labelling them as backward, uneducated and culturally insignifact. The boyars thus asked themselves how their countries
could become part of Europe and contribute to progress“ (10f.). „The creation of a ‘healthy nation’ meant the adoption and integration of European ways and culture“ (11). 5 Der Ausbruch der Griechischen Revolution in der Moldau wird bloß in einer Fußnote zu Tu dor Vladimirescu erwähnt (Nr. 42, 36£). „The uprising began as part of the organized Balkan rev olution initiated by the Greek anti-Ottoman revolutionary society Philiki Etaireia, which occupied the two states as a result of the Greek War of Independence. In Moldavia they took over the govern ment, but in Wallachia the Eterist expedition encountered a more complex situation [.]“ (?). Zur politischen Rolle der griechischen Theateraufluhrungen in Bukarest und Iaşi nach 1817 vgl. nun Gonda van Steen, Liberating Hellenism from the Ottoman Empire. Comte de Marcellus and the Last of the Classics. New York 2010, 108-169. 6 Nach Franz Joseph Sulzer, Geschichte des transalpinischen Daciens, das ist: der Walachey, Moldau und Bessarabiens. 3 Bde., Wien 1781-1782, Bd. III, 234. Sulzer war kein Musiker, sondern Militäroffizier bei der österreichischen Armee, stationiert in Siebenbürger, den Ypsilantis an den Hof von Bukarest geholt hatte und der die Zustände am Hof in aufklärerischer Ironie beschrieben hat, aber auch die Volksmusik der Unterschichten zu würdigen wusste. Charakteristischerweise berichtet er, dass die Griechen ihm zu Gefallen eine SchattentheateraufRihrung als „opera“ bezeichnet hätten (II, 40l£). Die Autorin moniert, dass er in seinen Schriften nicht zwischen einheimischen und phanariotischen Bojaren
unterschieden habe (77). 7 Walter Puchner, Hof-, Schul- und Nationaltheater der griechischen Aufklärung im europäi schen Südosten, Maske und Kothurn 21 (1975), 235-262 und mit der gesamten neueren Bibliogra phie ders., Greek Theatre between Antiquity and Independence. A History of Reinvention from the Third Century BC to 1830, Cambridge 2017, 269-300. 482 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 8 Dazu immer noch unübertroffen die prosopographische Studie von Ariadna Camariano, Les Academies princières de Bucarest et de Jassy et leurs professeurs. Thessaloniki 1974, die nicht ein mal in der Bibliographie aufscheint. 9 Über Repertoire und Vorstellungen dieser Truppe gibt es eine ganze Reihe von Quellen (Bib liographie in Walter Puchner, Die Literaturen Südosteuropas. 15. bis spätes 20. Jh. Ein Vergleich, Wien, Köln, Weimar 2015, 145, 198). Nur Laurençon wird zitiert. Zum Nachweis, dass es sich um eine Siebenbürger Truppe handelt Walter Puchner, Ζητήματα τεκμηρίωσης στην ιστορία του ελληνικού προεπαναστατικού θεάτρου, Parabasis 10 (2010), 279-294, welche übrigens bereits 1815 ein Kotzebue-Stück auf Rumänisch gespielt hat. An anderer Stelle wird dann richtig erwähnt, dass die Truppe aus dem benachbarten Braşov gekommen sei (202). Die Mademoiselle Dili wird in der einschlägi gen Bibliographie als Dill geführt. Einige Seiten später bezeichnet die Autorin die Ansicht des neu eren rumänischen Theaterhistorikers Massoff, dass die Prinzentochter dies getan habe, um das grie chische Theater zu unterstützen (das mit seinen Tragödienaufführungen eine Art psychologischer Vorbereitung für den Aufstand gewesen ist), als eine Hypothese und fragt sich in einer umständli chen Argumentationsfuhrung, was es wohl gewesen sein kann, das Väcärescu zur Zusammenarbeit mit der „ausländischen“ Tochter eines sultanshörigen Phanarioten bewogen haben könnte („It could also be seen as an attempt to stabilize the turbulent internal political life with a symbolic struggle against
the Ottoman Empire“ 87f), doch wird eine solch einseitige Sichtweise aus der späteren Na tionalideologie den mentalen Mischverhältnissen eines kulturellen Kleinraums zwischen drei Groß reichen mit einer noch ungelösten Sprach- und Schriftfrage und einer praktischen Mehrsprachigkeit der gebildeten Elite nicht gerecht. Mit einem zweiten Argument, dass dies im Zuge des Wunsches nach „Europäisierung“ geschehen sei, kommt sie der Wahrheit schon näher: Wie die griechischen Quellen berichten (Alexandras Rizos Rangavis’ Memoiren), geht die Initiative auf den Wunsch der Fürstentochter zurück, ihren Laienspielern ein ästhetisches Paradigma von professioneller Qualität zu geben, um ihre schauspielerischen Leistungen zu verbessern. 10 Dazu immer noch unübertroffen materialreich Ion Horia Rădulescu, Le Théâtre français dans les Pays roumains 1826-1852. Paris 1965. 11 Zu einer Typologie der Entwicklungen vgl. Walter Puchner, Typologische Entwicklungsstruk turen der Theatergeschichte im südosteuropäischen Raum, Beiträge zur %eaterwissenschaft Südost europas und des mediterranen Raums 1 (2006), 13-72. 12 Auch spezielle internationale Literatur zu den Phanarioten und ihrer Kultur wurde nicht be nützt, und zwar auch von rumänischer Seite her (z. B. Andrei Pippidi, Phanar, Phanariotes, Phanariotisme, Revue des Etudes Sud-Est Européennes 13 (1975), H. 2, 231-239, Cornelia Papacostea-DaNIELOPOLU, Etat actuel des recherches sur Tépoque phanariote’, Revue des Études Sud-Est Européennes 124 (1976), H. З, 227-234 usw.). 13 Zur Vielfalt des Spektakelwesens am Hof in Bukarest gibt es eine ganze
Reihe von rumäni schen Quellen. Südost-Forschungen 76 (2017) 483
Literatur und Theaterwissenschaft Διά ανθύμησιν καιρού και τόπου. Λογοτεχνικές Αποτυπώσεις του Κόσμου της Κύπρου. Πρα κτικά Διεθνούς Επιστημονικού Συνεδρίου, Λευκωσία, 6-9 Οκτωβρίου 2012 [Zur Erin nerung an Zeit und Ort. Literarische Spuren der Welt von Zypern. Akten eines wis senschaftlichen Kongresses, Nikosia 6.-9.10.2012]. Hg. Michalēs Pierēs. Nikosia: Ministerium für Erziehung und Kultur / Institut für Byzantinische und Neugriechische Studien der Universität Zypern 2015. 731 S., zahir. Abb., ISBN 978-9963-0-0172-9 Das Titelzitat stammt aus dem Vorwort des berühmten zypriotischen „Chronikon“ von Leontios Machairas, das als Prosachronik dem byzantinischen Genre der exegesis nach gebildet ist, wo von Geschichte als Erinnerung an Ort und Zeit die Rede ist. Es handelt sich um die umfangreichen Akten eines Kongresses, der als zentrale Manifestation auf dem Literatursektor während des zypriotischen Vorsitzes in der Europäischen Union in der Hauptstadt des Eilands der Aphrodite abgehalten wurde und 33 Referate aus elf europäischen Ländern (und von 23 Universitäten) umfasst. Kernanliegen dieses Kongresses war es, in der Literatur den Nachweis zu fuhren, das Zypern bis ins 1. Jahrtausend zurück immerzu gleichsam organisch mit Europa verbunden war, was vielfach einfach auch da rauf zurückzuführen ist, das es als letzte Station der Seereise nach Palästina und als erste auf der Rückreise immerzu von west- und zentraleuropäischen (Durch-)Reisenden gerade zu überflutet war. Die Lusignans führten darüber hinaus im Kreuzfahrerstaat eine durch aus „europäische“ Hofhaltung, wofür
es eine Reihe von musikalischen und anderen künst lerischen Zeugnissen gibt (z. B. das geistliche Schauspiel1). Die Reihenfolge der Referate ist von chronologischen Kriterien bestimmt. Das Ein führungsreferat hält der Klassische Philologe Dimitris N. Maronitis über das „Salamis“-Gedicht von Kavafis und das im Titel gleichlautende Gedicht von Seferis, das sich auf Salamis auf Zypern bezieht (27-40). Der 1. Abschnitt ist dem Mittelalter und der Renaissance ge widmet (15-17. Jh.) und setzt mit Arbeiten zum „Chronikon“ von Leontios Machairas ein (griechische Titel werden paraphrasiert): Olesia Fedina zur moralischen und literarischen Dimension des „Chronikon“ (43-59) und Michalis Pierīs zur dichterischen Struktur des Prosawerkes (61-82). Die weiteren Arbeiten wenden sich dann dem berühmten französischen Kodex Torino B.N., J.II.9 aus der Lusignanherrschaft zu: Bertrand Bouvier zu den französischen Gedichten in der zypriotischen Handschrift (83-90); Isabelle Fabre / Gilles Polizzi, „In Memory of Janus (1398-1432): Poetics of the French Pieces of the Cyprus Codex (Turin J.II.9). For a Historical Reading“ (91-113); Martine Breuillot zu den Musikkomponisten, die an der Zusammenstellung der Kompositionen der Musikhand schrift beteiligt waren (115-132); und Gisèle Clément, „Le Codex de Chypre (Torino, Biblioteca Nazionale Universitaria, J.II.9). A New Diplomatie Edition Published by Ut Orpheus Edizioni, Bologna“ (133-142). Eine weiterer Beitrag geht auf die berühmte „Description de toute d’Isle de Cypre“ von Estienne de Lusignan ein: Maria Antonella Balsano, „The Cyprian Madrigals
by Giandomenico Martoretta“ (143-156). Den Ab schluss dieses Abschnitts bilden die Gedichte des bekannten zypriotischen Canzoniere aus dem 16. Jh.: Marina Rodosthenus-Balafa über thematische Kategorien dieses Gedicht484 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen zyklus im zypriotischen Dialekt der Zeit in petrarchischen Versmaßen (157-183); Eirini Papadaki über Nachklänge des Neoplatonismus in der zypriotischen lyrischen Dichtung der Renaissance (185-209); und auf ein bestimmtes Motiv dieser Liebeslyrik geht Alexandra Samuil ein (211-221). Verschiedene Sachbereiche greifen dann die folgenden Studien auf: Gilles Grivaud über die Bibliotheken auf Zypern der Renaissancezeit (223-237); David Holton, „The Role ofTranslation in Early Cypriot Literature“ (239-253) über die zypriotischen Fassungen der „Assiz.es“ und vorwiegend „II Fiore di Virtù“; Stefanos Kaklamanis über griechische Reimchroniken über den Krieg von Zypern und die Seeschlacht von Lepanto (beide 1571) (255-264); während Joanna Montgomery Byles auf Zypern als Literatur-Topos ein geht: „Cultural Identity and the Cyprus-Turkish Venetian Setting of Shakespeare’s Othello, The Moor of Venice“ (265-274). Zypern als literarisches Motiv beschäftigt auch Moschos Morfakidis-Fylaktos, der eine Erzählung von Cervantes daraufhin untersucht (275-290, „El amante liberal“). Am Schluss dieses Abschnitts bringt Anna Zimbone die italienische Übersetzung einer dialogischen Bühnenkomposition von Michails Pieris über die Ballade von der Arta-Brücke (291-322). Der 2. Abschnitt zum 18. und 19. Jh. ist deutlich schmaler ausgefallen: Tudor Dinu schreibt über ein Klagelied auf die Ermordung des Fürstensohns Georgios Muruzis (17711796) auf Zypern (325-338); und Gaia Zaccagni schildert Bilder des Eilands in den Ge dichten von Giosuè Carducci (1835-1907) (339-356, ital. mit griech.
Übersetzungen). Die zahlreicheren Referate zum 3. Abschnitt, dem 20. Jh. gewidmet, sind in zwei Kate gorien geteilt: A. Studien über Schriftsteller und Werke, und B. über Fragen der Ideologie, über einzelne Themenfelder und über Rezeptionsfragen. Kategorie A ist umfangreicher aus gefallen. Sie beginnt mit einer Studie von Konstantinos G. Kasinis über die griechische Rezeption von Knut Hamsun durch Luids Akritas (359-389, mit einer Auflistung der Über setzungen); ein besonders interessanter Beitrag von Mariliza Mitsu über die zypriotischen Liedaufnahmen von Hedwig Lüdeke in den 1930er Jahren (391-305, es geht v. a. um Akritenlieder und ihre ausgezeichneten deutschen Übersetzungen2 - die jüdische Altöster reicherin hat auch ungarische [die Sammlung von Bela Bartok] und schottische Lieder über setzt). Es folgt Afrodite Athanasopulu über den Besuch von Kazantzakis auf dem Ei land der Aphrodite 1926 (407-443); Katerina Kostiu über zypriotische Dialektelemente in den Erzählungen von Giannis Skaribas (445-464); über Zypern im Fragment „Varnavas Kalostefanos“ von Giorgos Seferis von Mairi Russu (465-480) und im Gedichtwerk von Odysseas Elytis (Nadia Stylianu, 481-499); die Novelle „Geschlossene Türen“ von Kostas Monds (Hero Hokwerda, 501-537); das unveröffentlichte Übersetzungeswerk von Christodulos Galatopulos während seines Gefängnisaufenthalts 1932-1936 (Frangiski Abatzopulu, 539-549); Zypern im Literaturwerk des Kreters Giorgis Manusakis (19332008) (Tasula Markomichelaki, 551-610); schießlich Fatima Eloeva zum Paradies-Image der Insel in der Literatur (611-629, v.a. im
Gedichtwerk von Michails Pieris). Der Teilabschnitt zu Ideologie, Thematiken und Rezeption beginnt mit Eratosthenis Kapsomenos in einem strukturalistischen Ansatz über Codes der Kultur in der zypriotischen Südost-Forschungen 76 (2017) 485
Literatur und Theaterwissenschaft Literatur (633-654); Dimitris Tziovas geht auf Zypern als Thema der griechischen Nachkriegsprosa ein (655-670); Marinos Purguris untersucht das Zypernmotiv in der englischen Literatur (671-682, v. a. über den Freiheitskampf); Giannis Ioannu beschäftigt die Rezeption der Lusignan-Herrschaft in der neueren und neuesten zypriotischen Literatur (683-690). Den Abschluss bildet eine pädagogische Untersuchung über Zypern als Staat und als Ethnie in den Literaturtexten der Schulbücher in der 3. Klasse des Lyceums (691-718). Der Band endet mit einem Generalindex (719-731). Nach Maßgabe der Vielfalt der Einzelphasen der zypriotischen Geschichte zwischen Ost und West und der multilingualen Gesellschaft und Literatur schon in der Kreuzfahrerzeit sind derartige Kongresse immer facettenreich und polythematisch. Zypern war im Mittelalter und in der Neuzeit in ganz Europa ein stehender Begriff, wie z. B. das bekannte Volksbuch von „Fortunatus“ beweist, das nahezu zur Gänze auf Zypern spielt. Jegliche Beschäftigung mit der zypriotischen Kultur und Geschichte hat neben der Faszination der Vielfalt auch immer das Gefühl eines eigenen „Topokosmos“, um ein Schlagwort der gängigen Kulturforschung zu benutzen. Interessant, dass sich mindestens zwei Beiträge mit dem Literaturwerk des Herausgebers beschäftigen; ein Blick auf das zypriotische Literaturlexikon überzeugt, dass ein nicht un bedeutender Teil der Gesamtbevölkerung literarisch tätig ist. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. Walter Puchner, The Crusader Kingdom of Cyprus. A Theatre Province of Medieval Eu
rope? Including a Critical Edition of the Cyprus Passion Cycle and the “Repraesentado figurata” of the Presentation of the Virgin in the Temple. Athens 2006. 2 Vgl. ders., Die Folklore Südosteuropas. Eine komparative Übersicht. Wien, Köln, Weimar 2016, 20-23. Konstantinos A. Dimadis, Power and Prose Fiction in Modem Greece. Athens: Armos Publications 2016. 273 S., ISBN 978-960-527-922-6, € 29,65 Konstantinos Dimadis, Emeritus für Neogräzistik an der Freien Universität Berlin und Vorsitzender der Europäischen Gesellschaft für Neogräzistik, legt einen Studienband mit fünf Kapiteln vor, der als Generalthema die Beziehung von politischer Macht und Prosaliteratur zum Gegenstand hat, aber auch in mehreren Kapiteln auf das Theater im neueren Griechenland und seine institutionelle Verflochtenheit mit politischen Macht konstellationen eingeht. Eines dieser Kapitel führt ins 19. Jh., die anderen vier sind den 1930er Jahren und im Speziellen der Phase der faschistischen Metaxas-Diktatur am Vor abend des 2. Weltkriegs gewidmet.1 Diese Studien bringen überwiegend unbekannte und von der Literatur- und Theatergeschichte wenig behandelte Details, die ein prismatischeres 486 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Bild über die nicht immer augenfälligen Beziehungen zwischen Politik und Literatur in schwierigen Zeiten bieten. Das 1. Kapitel, „The Politics of Translation: ,The Exile of 183 T by Alexandras Soutsos“ (11-50), bringt eine absolute Neuentdeckung: die erste fremdsprachige Übersetzung von Alexandras Soutsos’ „O Εξόριστης του 1831“.2 Mit überzeugenden Argumenten kann der Verfasser nachweisen, dass der unbekannte Übersetzer Friedrich Thiersch gewesen sein muss, der auch der Verfasser einer Ankündigung dieses Romans („Litterarische Erscheinungen in Griechenland“) in einem Supplement der,Allgemeinen Zeitung“ in drei Fortsetzungen (27., 28., 29.7.1836) mit Ausschnitten aus dieser Übersetzung sein dürfte. Der politische Zu sammenhang besteht in diesem Fall in der Tatsache, dass Thiersch als liberaler Monarchist mit aktiver Teilnahme an den Revolutionsvorgängen und der nachfolgenden Staatsbildung Gegner des Gouverneurs Kapodistrias gewesen ist, der 1831 in Nauplion ermordet wurde, was auch genau der Position des Satirikers Alexandras Soutsos entsprochen hat. Die ,All gemeine Zeitung“ war eine der renommiertesten Tageszeitungen in deutschen Landen mit gesamteuropäischem Echo und das Timing ist keineswegs zufällig. Die Anonymität des be kannten Universitätsprofessors und Philhellenen in München wurde in beiden Fällen (Buch und Fortsetzungsartikel) aus Gründen politischer Sensibilität (Preußen und die Habsburger Monarchie) gewahrt.3 Im Vorwort der Ausgabe kehren wörtliche Passagen des Zeitungs artikels wieder. Überdies gab es damals in Deutschland nicht viele Kenner,
die den Romantext von Soutsos hätten fehlerfrei übersetzen können. Die zitierten Textstellen bringen neben dem deutschen Originaltext auch eine englische Übersetzung, ein umfangreicher Anhang dann die deutsche und englische Fassung des Fortsetzungsartikels in der ,Allgemeinen Zeitung“. Das 2. Kapitel, „The Cultural Policy of the Metaxas Regime (1936-1941)“ (51-128)4 bringt eine Großübersicht über die Kulturpolitik von Ioannis Metaxas, die in der Lage war, auch klingende Namen der Literaturwelt für die Ideologie der „Dritten Hellenischen Kultur“ zu gewinnen oder zumindest deren Namen in den Propagandaapparat miteinzubeziehen, angefangen von den Literaturpreisen bis zu den Auslandstourneen des Nationaltheaters (ab 1935 mit der Wiedereinsetzung der Monarchie wiederum „Königliches Theater“), indem das gesamte Kulturleben sukzessive unter staatliche Kontrolle geriet. In der Einleitung dieses Kapitels stellt der Autor Fakten und Chronologien nebeneinander; im 2. Abschnitt geht er auf die Reformierung des Erziehungssystems, das Buchwesen und die bildende Kunst ein, auf Kultur- und Literaturzeitschriften oder den Buchindex. Abschnitt 3 ist betitelt: „Complete control of artistic and cultural life. 1937-1939: Directorate of Letters and Fine Arts, 1939: Directorate-General of Letters and the Arts“ (die Kunstausstellung in Venedig 1938 organisiert von Pantelis Prevelakis, Kostis Bastias als Direktor für Literatur und Kunst, Metaxas war selbst Unterrichtsminister). Ein eigener Abschnitt beschäftigt sich mit dem Theater - 1937 wird Bastias zum Generaldirektor des Nationaltheaters
besteht (mit Angelos Terzakis als Sekretär) und entwickelt eine systematische organisatorische Tätigkeit: staatliche Unterstützung des Kotopuli-Theaters, Vorbereitung eines Staatstheaters in Thessaloniki, Vermarktung der altgriechischen Tragödie durch Auslandstourneen.5 „To sum up: 1938 was the critical year for the Metaxas regime’s cultural policymaking and the measures taken to Südost-Forschungen 76 (2017) 487
Literatur und Theaterwissenschaft implement it. In the same period, the line the dictatorship would follow in its foreign pol icy also took shape, in the face of the deepening international crisis on the one hand and the gradual collapse of the Balkan Entente on the other [.]. In order to ensure the success and productiveness of the intertwined cultural and foreign pohcies during the period in question, the Metaxas regime contrived to win not only the toleration but also the support of a large proportion of the Athenian world of art and letters. Moreover, it had complete control of the Executive Boards of the Association of Greek Writers and the Playwrights’ Society (the Chairmen of these Boards were also members of the Panel of judges for the first literary prizes awarded by the state) and of the Executive Boards of the other unions and associations of artists. Consequently, the regime had no concerns about the fact that both the Panel that selected the winners of the state literary prizes and the candidates for those prizes included writers who were not supporters of the regime, or were people with progressive tendencies who, in the light of the Occupation and the Resistance, would lat er be politically classified, to a greater or lesser extent, as leftist [.]. This finding has sev eral important implications. In the first place, a comparison between Greece and the rest of Europe could constitute an important contribution to the theoretical analysis of how a fascist-oriented dictatorial regime operated during the period under discussion. Further more, it could
serve to help gauge the extent of the influence that such a regime exerted on artistic developments in the interwar period“ (127f.). Die beiden folgenden Kapitel - sowie z. T. auch das letzte — spezifizieren gewisse Aspekte dieser Übersicht: Kapitel 3 ist „The Athenian Royal Theatre in Great Britain and Germany on the Eve of World War II“ gewidmet (129-192). Dieses ebenfalls ausführliche Kapitel beginnt mit einer Analyse der britischen Außenpolitik, die das Metaxas-Regime unterstützte, obwohl Venizelos’ Liberale Partei anglophil gewesen ist. Hier werden nun in größerem Detail die drei Auslandstourneen des „Königlichen Theaters“ untersucht. Auf die ÄgyptenTournee im März 1937 folgte unmittelbar ein Besuch der English Old Vie Company in Athen, wobei das neu gegründete British Council in Athen die Vermittlung übernommen hatte. Noch im April fuhr Bastias nach Deutschland, um die dortigen Vorstellungen fur das „Königliche Theater“ zu sichern. Im November/Dezember 1938 kam die Frankfurter Oper nach Athen und gab Vorstellungen im Rex-Theater. Im Juni 1939 fand dann die EnglandTournee statt: „Elektra“ und „Hamlet“ in Cambridge, Oxford und London, insgesamt fünf Vorstellungen. Der Autor veröffendicht z. T. in extenso Presseankündigen, Kritiken, Be richte, Begleitinformationen, Interviews und Dankesschreiben in den führenden britischen Tageszeitungen. Zusammen mit dem „Königlichen Theater“ traf auch Kazantzakis in Groß britannien ein — ebenfalls vom British Council eingeladen, eine Vortragsreihe in Oxford zu geben. Von England begab sich die Theatertruppe nach Deutschland, wo
dasselbe Repertoire in Frankfurt am Main und Berlin gespielt wurde. Der Autor veröffendicht die Theaterkritiken in englischer Übersetzung, die in diesem Fall eher auf die schauspielerischen Leistungen von Paxinou und Minotis konzentriert waren. Das faschistische Deutschland war zu diesem Zeit punkt an Auslandskontakten überaus interessiert; soeben waren die deutschen Truppen in der Tschechoslowakei einmarschiert, und Mussolini hatte im April ganz Albanien okkupiert. 488 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Die griechische Presse feierte in hohen Tönen die beiden Auslandserfolge. Die einschlägigen Verhandlungen mit Italien im März 1940, vier griechische Tragödien in Syrakus zu spielen, scheiterten. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind bemerkenswert: „Beyond a shadow of doubt, the Royal Theatre’s tour of Great Britain and Germany on the eve of World War II was a landmark in the history of Greek state theatre from the date of foundation of the Royal Theatre in 1900 (or, more accurately, 1930) until today. That it was a tremendous ar tistic success is indisputable. From a political perspective, however, the Royal Theatre’s tour of Great Britain and Germany in the run-up to the World War II had a disturbing hidden agenda because it amounted to the direct political exploitation of a small European state, Greece, not only by its own dictatorship but also by two major European powers that were at loggerheads at that time, Great Britain and Germany - in this case the main exploiter was Great Britain“ (187). „The British press extolled the importance of the Royal Theatre’s visit and performances in Great Britain first and foremost as an artistic event, but also re lated it directly to the benefits it brought to British foreign policy in a critical international situation [.]. The German press and critics, apart from covering the official receptions giv en in honour of the Royal Theatre Company in Frankfurt and Berlin, generally avoided re ferring to the political regime in Greece. In any case, they had no reason or need to do so. They well knew that George II and
Metaxas were pawns of British foreign policy [.]. The review of the German critics constitute a rich source of information for the theatrical inter pretations, the quality of the music, the stagecraft and more generally the artistic results of the historic performance of Electra and Hamlet given by the Royal Theatre in Great Britain and Germany in 1939, and also for the central position of the study and interpretation of Greek tragedy in the German theatrical tradition. The extracts from interviews with Alex is Minotis, Katina Paxinou and Dimitris Rondiris that I reproduced above also constitute a significant testimony to the relationship between leading members of Greek theatre and the German theatre of the pre-war period“ (189f.). Diese Quellen sind nun der griechischen Theatergeschichte zugängig. Die Studie endet mit einem bibliographischen Appendix zum griechischen Presseecho der Tourneen in Athen. Kapitel 4, „Art and Power: Observations on Four Pieces of Travel Writing by Nikos Kazantzakis“ (193-236), ist auch mit dem Englandaufenthalt des Königlichen Theaters ver bunden. Die Reisebücher von Kazantzakis sind nicht häufig Gegenstand von eigenen Unter suchungen geworden, beanspruchen jedoch eigenständiges Interesse, da der Reisende mit der Brille seines jeweiligen Weltbildes seine Umgebung wahrnimmt. Kazantzakis’ Reisebücher, in denen auch seine Ansichten über politische Konflikte und Ideologien (Sowjetunion, Spanischer Bürgerkrieg) ausführlich zur Sprache kommen, haben als Zeitungsreportagen vielfach die öffentliche Meinung in Griechenland beeinflusst. Die
Zeimngsreportagen in Fortsetzungen stimmen dabei nicht immer mit den später veröffentlichten Reisebüchern überein (deutlich im Fall von Spanien und der Sowjetunion). In diesem Kapitel sind die ausführlichen griechischen Zitate ebenfalls ins Englische übersetzt. Im Spezifischen geht der Autor auf das Englandbuch ein, das einen Hymnus auf die liberale Tradition der Insel bewohner darstellt.6 Dieses Buch wurde während seines Aufenthalts in England 1939 (AnSiidost-Forschungen 76 (2017) 489
Literatur und Theaterwissenschaft kunft zusammen mit dem „Königlichen Theater“) konzipiert und 1940 aufÄgina, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Athen, geschrieben. Im Juli 1946 wurde er neuerlich vom British Council eingeladen und ließ sich in Cambridge zu Literaturarbeiten nieder, wurde jedoch im September des Jahres, nach einem internationalen Friedensaufruf am Jahrestag der Bombardierung von Hiroshima aufgefordert, als persona non grata das Land zu verlassen. Der eigentliche Grund war jedoch der Griechische Bürgerkrieg. Kazantzakis hatte dem Foreign Secretary zu verstehen gegeben, dass die 9,3 %, auf die die Linke in Griechenland eingeschätzt wurde, keiner Wirklichkeit entspräche. Auch dieser Abschnitt verfugt über einen reichhaltigen Appendix, der einschlägige griechische Zeitungsartikel in englischer Übersetzung bietet. Das letzte Kapitel, „Kazantzakis in Spain: New Literary Directions“ (237-260), be schäftigt sich mit seinem Spanienaufenthalt 1932/1933, dokumentiert durch seine Brief korrespondenz und die Zeitungsreportagen, seine Übersetzungen und die Begegnung mit Lorca (die griechische Übersetzung von „Ciudad sin sueño“ aus dem Zyklus der New orker Gedichte, war international die erste überhaupt). Unter den Bürgerkriegsberichten 1936/1937, die in der „Kathimerini“ in Fortsetzungen veröffentlicht wurden, befand sich auch die Nachricht von der Exekution Lorcas. Der Verfasser sieht dies als einen Wende punkt für seine Hinwendung zur Romankunst, wo das Motiv des Scheiterns eine dominante Rolle spielt. Der interessante und detailreiche Band zu den
politischen und historischen Rahmenbedingungen der griechischen Literaturproduktion ist von einem Index beschlossen. Seinem einschränkenden Titel zum Trotz, der nur die Prosaliteratur nennt, ist er auch für die griechische Theatergeschichte von hoher Relevanz. Athen, Wien Walter Puchner 1 Manche dieser Themen sind schon in seinem Buch Δικτατορία, Πόλεμος και Πεζογραφία 19361944. Athen 22004 angeschnitten; 1. Aufl. 1991, vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 52 (1993), 501-505. 2 Alexandres Soutsos, Ο Εξόριστης του 1831. Athen 1835; im Deutschen in Berlin 1837 unter dem Titel „Der Verbannte von 1831. Roman aus Griechenlands neuester Geschichte“ anonym er schienen; erst 1840 erscheint dann eine französische Übersetzung. 3 Thiersch war übrigens langjähriger Korrespondent des Blattes; also ein Fall präventiver Selbst zensur; weder Artikel noch die Übersetzung sind in der Biographie von Heinrich W J. Thiersch, Friedrich Thiersch’s Leben. 2 Bde. Leipzig, Heidelberg 1866 (seinem Sohn) erwähnt. 4 Eine kürzere griechische Fassung in George P. Pefanis (Hg.), Η λάμψη του χρήματος στη νεοελ ληνική λογοτεχνία. Athen 2014, 161-213. 5 Rondiris’ „Elektra“ mit К. Paxinou, 1939 Ägypten-Tournee, England mit „Elektra“ und „Ham let“ mit Minotis unter Anwesenheit von Kazantzakis, Kotopuli in Paris, Gründung der ambulanten Bühne „Thespiswagen“ mit Pelos Katselis als Direktor, „Elektra“ und „Hamlet“ auch in Frankfurt am Main und Berlin; die Italien-Pläne 1940 scheiterten. 6 Nikos Kazantzakis, Ταξιδεύοντας Г ’. Αγγλία. Athen 1941. 490 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Ελληνικότητα και ετερότητα. Πολιτισμικές διαμεσολαβήσεις και «εθνικός χαρακτήρας» στον 19ο αιώνα. Πρακτικά Συμποσίου [Gräzität und Anderssein. Kulturvermitdung und „Nationalcharakter“ im 19. Jahrhundert. Kongressakten]. Hgg. Anna Tampakē/Ourania PoLYKANDRiõTÉ. 2 Bde. Athen: Nationale Kapodistrias-Universität Athen, Ab teilung fur Theaterstudien/Nationale Forschungsstiftung, Institut fur Historische Stu dien 2016. 472 u. 558 S„ Abb., ISBN 978-618-80943-7-6 u. 978-618-809041-8-3 Die 1000-seitigen Kongressakten gehen auf eine viertägige Tagung im Mai 2015 in der Nationalen Forschungsstiftung Griechenlands in Athen zurück, die eine Kombination von zwei verschiedenen Forschungsprogrammen darstellt, „Thaies — Chrysallis“ (20122015) der Abteilung für Theaterstudien der Universität Athen mit dem Titel „Kulturver mittlung und die Herausbildung des .Nationalcharakters1 in der Presse des 19. Jh.s“ und des Forschungsprogramms „Neugriechisches Schrifttum und die Geschichte der Ideen (1820. Jh.)“ der Abteilung für Neugriechische Studien im Institut für Geschichtsforschung der Nationalen Forschungsstiftung, und wurden vom „Laboratoire d’excellence TransferS“ der Ecole Normale Supérieure in Paris mitfinanziert, dessen Direktor Michel Espagne auch das Hauptreferat über „Les transferts culturels et l’histoire culturelle de la Grèce“ ge halten hat. Mit diesem Vortrag beginnt auch der 1. Band der Kongressakten (griechisch 21-44, französisch 45-67), im Wesentlichen eine kurze Geschichte des Philhellenismus in Frankreich und Deutschland.1 Der gewichtige Band hat insgesamt 63
Referate auf vier große thematische Kreise verteilen: 1) Interkulturelle Beziehungen und Übermittlungen, 2) Literarische und ideologische Strömungen, 3) Ideengeschichte und 4) Entwicklung der Nationaldramatik. Eine Besprechung dieses Monsterwerkes kann sich eigentlich fast nur auf die Titelnennung beschränken, um einen Eindruck von der thematischen Fülle zu vermitteln. Der 1. Teil zu den interkulturellen Beziehungen und Übermittlungen ist in zwei Ab teilungen geteilt: 1. „Das nationale Schrifttum zwischen Vertrautheit und Fremde“ (71125), und 2. „Die Übersetzung als Epizentrum der interkulturellen Vermittlung“ (129-227). Die 1. Abteilung schneidet verschiedene Themenkreise an: M. Paschalis zu Italienischem und Griechischem in der Sprache von Kalvos; К. Athanasiadu zur Identitätsfrage in den „Briefen aus Amsterdam“ von St. Petru und den „Persischen Briefen“ von Montes quieu; G. Gotsi zu griechisch-englischen Netzwerken 1870-1900; und K. Karakasi zur Abhandlung von Aik. Zarku über Frauenschriftsteller in Deutschland. Umfangreicher ist der 2. Abschnitt zu den Übersetzungen: G. Varsos zu den Homer-Übersetzungen von Polylas; A. Komninelli zu griechischen Übersetzungen des Poems „Le Lac“ von Lamartine im 19. Jh.; V. Letsios zu metrischen Fragen in den Übersetzungen von Lorenzo Mavilis. Mit den Translationen von Nikolaos Dragumis beschäftigt sich S. Denisi; mit P. Panas als Übersetzer E. Stavropulu; und St. Tsupru mit den Shakespeare-Übersetzungen von Dim. Vikelas, insbesondere „Macbeth“. Der 2. Teil zu den literarischen und ideologischen Strömungen umfasst mehrere Ab
teilungen: In den 1. Band fallen vier Abteilungen - Kategorien des Schrifttums; ideoSüdost-Forschungen 76 (2017) 491
Literatur und Theaterwissenschaft logische Strömungen; die Suche nach der „nationalen Identität“; die Gelehrten des 19. Jh.s und ihre Schriftproduktion. In der 1. Abteilung kommen vorwiegend Literaturgenres zu Sprache: G. Xurias zum europäischen Vorbild der Hochdichtung in der neugriechischen Aufklärung; Th. Ieronymaki zum Motiv des Fremden in der hymnischen Dichtung der Oden und Elegien;2 Th. Agathos zum historischen Roman „Gräfin Potoski“ von K. Ramfos (1869); M. Sechopulu zum skandinavischen Einfluss auf den Demotizismus Ende des 19. Jh.s (Strindberg, Ibsen); A. Stavrakopulu zur Beziehung von Vizyinos und Ibsen und N. Mavrelos zum Hermaphrodismus der griechisch-christlichen Identität bei Korais und Roi'dis. Die 2. Abteilung behandelt ideologische Strömungen: C. Carpinato zur neu griechischen Sprache und Literatur in Italien im 19. Jh. (Tommaso Semmola und Niccolò Tommaseo); A. Mitralexi zur Rezeption der deutschen Klassik im Griechenland des 19. Jh.s; und S. Jollivet zu Gräzität und antiken Quellen in der deutschen Geschichts philosophie (Hegel, „Hyperion“ von Hölderlin). Der 3. Abschnitt zur Suche nach der „na tionalen Identität“ bringt A. Glykofrydi-Leontsini zur philosophischen Reflexivität in der Identitätsfrage im 19. Jh.; zu Identitätsfragen in der griechischen Reiseliteratur des 19. Jh.s referiert P. Karpuzu; dieselben Fragen im Popularroman von Konstantinopel beschäftigen G. Kostakiotis; und zu den neugriechischen Studien in der Bosporus-Metropole äußert sich I. Kyriakantonakis. Im 4. Abschnitt zum Gelehrtenschrifttum untersucht V. Pappas die lateinischen
Übersetzungen von Daniel Filippidis; S. Matthaiu das altertumskundige philologische Essay in den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung; S. Patura die inedierte Korrespondenz von D. Varduniotis; und L. Várelas das edierte Gesamtwerk von Ioannis Kampuroglu (mit Werkverzeichnis). Der 2. Band bringt die Fortsetzung dieser Themenabschnitte des 2. Teils, mit 5. „Ver wendung und Wiederbelebung der Antike“ ( 19-69), 6. „Fragen der Kritik und Rezeption“ (73-122) und 7. „Zeitschriften und Periodika“ (125-232). Im Abschnitt zur Antiken rezeption äußert sich E. Garantudis zu Fragen der Nachbildung der altgriechischen Metrik in der Dichtung des 19. Jh.s; K. Kardamis untersucht die Thematiken der griechischen Antike in den Opernwerken der Ionischen Inseln; und A. Mavroleon bewegt die Wieder belebung des altgriechischen Dramas als Instrumentalisierung der Nationalidentität im 19. Jh. Bei den Fragen der Kritik und der Rezeption kommen P. Antonopulos zu Wort (die Verurteilung Sapphos bei Efgenios Vulgaris und Anthimos Gazis); A. Katsigiannis zur ideologischen Verwendung des Eros-Begriffes in der romantischen Kritik des 19. Jh.s; A. Chrysogelu-Katsi zum Begriff ethnikos in den Texten von Angelos Vlachos und V Papanikolau zur „Gräfin von Athen“ von Kleon Rangavis. Bei dem Abschnitt zu den Periodika kommen mehrere Sprecher zu Wort: St. Athini zu den Literatenbiographien in den Zeitschriften; N. Falangas zur Spalte „Verschiedenes“ in der „Pandora“; V. Patsiu zu den Übersetzungen im Periodikum „Ευρωπαϊκός Ερανιστής“; M. Mitsu zu philhellenischen Beiträgen im griechischen
Zeitschriftenwesen; A. Sofu zu den Beiträgen der Auslands griechen; Chr. Palaiologu zur Rezeption der deutschen Literatur in den „Deutschen Briefen“ von G. Kampysis; und G. Kotelidis zum Indien-Bild in den griechischen Periodika des 19. Jh.s. 492 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Der 3. Teil zur Ideengeschichte enthält sich weiterer Untergliederungen und beinhaltet acht verschiedene Referate (235-354): G. Leontsinis zur Rezeption der Aufklärung und der Französischen Revolution um 1800 auf den Ionischen Inseln; P. Kimurtzis und A. Mandylara zu monarchischen Visionen von Byzanz im Bayerischen Königreich Ottos I.; M. D. Konaris zu altgriechischer Religion und Nationalcharakter bei K. Paparrigopulos; A. Sfinì zur ideologischen Seite der Sprachfrage im 19. Jh.; V. Chrysovitsanu zum archäo logischen und epigraphischen Werk von A. Rizos Rangavis; M. Veuoti-Georgopulu zum festlichen Empfang von Otto I. in Nauplion; L. Efthymiu zum „Frauenblatt“ von Kallirroi Parren und der griechischen Frauenbewegung; sowie E. Petropulu zu den deutschen Ein flüssen in den Kinderzeitschriften. Der 4. Teil zur Nationaldramatik ist in zwei Abschnitte unterteilt: 1. „Dramatische Gattungen“ (357-502) und 2. „Das Musiktheater“ (505-541). Der 1. Abschnitt enthält eine ganze Reihe von Beiträgen. K. Ritsatu zum Neraiden-Motiv in der Dramatik (Psycharis, Dirn. Kampuroglu); M. Dimaki-Zora zu den Prologen der neugriechischen Dramatik im 19. Jh.; K. Diamantaku-Agathu zu den antiken Dramenübersetzungen von Ioannis Gryparis; I. Katsioti zu den „Mylonades“ und die neugriechische Adaptation; M. Georgiu zum deutschen und griechischen Theater im 19. Jh.; V Georgopulu zur Figur des Nero in der griechischen Dramatik des 19. Jh.s; K. Petráku zum Historiendrama ,,Ιοιιλιανός ο Πα ραβάτης“ von Kleon Rangavis; K. Kyriakos zu den ersten Phasen der Rezeption russischer Dramatik in
Griechenland; Chr. Oikonomopulu zur „Iphigenie“ von Jean Moréas; A. Vasileiu zur Taurischen Iphigenia von N. A. Sutzos (1837) und ihrem französischen Vorbild; und A. Altuva zum Nationalstil der Schauspielkunst im griechischen Theater des 19. Jh. Wesentlich beschränkter ist der Abschnitt zum Musiktheater: S. Kurbana zum 1. griechischen Melodram; A. Xepapadaku zu Offenbach in Athen; und P. Vlangopulos zur Beziehung von M. Alvana-Miniati zu Edouard Schure. Die Aufmachung der beiden Bände ist ansprechend; die Redaktionsarbeit dürfte mühe voll gewesen sein. Die Verbindung der beiden Forschungsprogramme und die Einbeziehung des Laboratoire d’excellence war eine exzellente Idee, die offenbar Anna Tabaki zuzu schreiben ist, derzeitiger Institutsvorstand der Abteilung für Theaterstudien an der Uni versität Athen und gleichzeitig langzeitige Forscherin in der Abteilung für Neugriechische Studien an der Nationalen Forschungsstiffung. Das Ergebnis dieser Zusammenarbeit kann sich sehen lassen. Der rapide Forschungsfortschritt in Bezug auf das griechische 19. Jh. in den Jahren vor und nach dem Millennium spiegelt sich deutlich in der Themenvielfalt, der Spezialisierung, den Fragestellungen und der Detailinformation, die die beiden voluminösen Bände vorlegen. Krisen machen erfinderisch und flexibel. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. seine Monographie Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands. Paris 1999. 2 Vgl. ihre Dissertation zum Genre der Ode bis 1880. Nicosia 2005. Südost-Forschungen 76 (2017) 493
Literatur und Theaterwissenschaft Könstantza Geörgakakê, Βίος και πολιτεία ¡«ας γηραιάς κυρίας στην επταετία. Επιθεώρηση και δικτατορία (1967-1974) [Leben und Wirken einer alten Dame zur Junta-Zeit. The aterrevue und Diktatur (1967-1974)]. Thessaloniki: Ekdoseis Ziti 2015. 399 S., zahir. Abb., ISBN 978-960-456-437-8, € 24,Diktatur-Forschung liegt irgendwie im szientifischen Trend; die griechische ObristenDiktatur 1967-1974 (auch als heptaetia, Sieben-Jahr-Periode bekannt) bildet hier keine Aus nahme und auch das Theater nicht. Erst vor kurzem ist die Monographie von Gonda van Stehen zum Theater während der Obristendiktatur erschienen,1 und kurz davor die englische Dissertationen von Philipp Hager,2 sowie die griechische Dissertation von Tonia Karaoglu zum Theater während der Junta-Zeit in Thessaloniki.3 Die Autorin selbst, Professorin am Theaterwissenschaftlichen Institut der Universität Athen, hat zudem im Jahre 2013 eine reich bebilderte Ubersichtsmonographie zur Gesamtentwicklung der Revue im Zeitraum von 1894 bis 2014 geliefert,4 die die über 100-jährige Entwicklung dieser offenen und populären Bühnengattung verfolgt. Epitheorisi ist weder genau mit Revue, noch mit Vaudeville, noch mit Kabarett oder Musical oder Boulevard wiederzugeben, sondern eine nummernartige Hybridform, die von politisch-satirischem Verbaldialog bis zu phantasmagorischen Ballett nummern mit aufwendigem Bühnenbild und Kostümen, Gesang und Musikorchester reichen kann und praktisch offen ist für jegliche Art von Anreicherung.5 Der Werde gang dieser Gattung ist in seinen Anfängen von Thodoros
Hatzipantazis und Lila Maralta untersucht worden,6 die Fortsetzung findet sich in der Monographie zum leichten Musik theater der Zwischenkriegszeit von Manolis Seiragakis.7 Besonders interessant ist natür lich die Untersuchung der Junta-Zeit, da die epitheorisi mit ihrer häufig an die Tagespolitik gebundenen Thematik ein ganz spezifischer Bereich der Aufmerksamkeit der Zensur behörde gewesen ist, die nicht nur die eingereichten Stücke Szene für Szene durchzensierte, sondern auch in der Folge die Vorstellungen kontrollierte, ob die eingeforderten Auflagen in der Praxis auch wirklich eingehalten und nicht neue Szenen hinzugefugt wurden. Dar über existieren Beobachtungsprotokolle mit handgeschriebenen Erlässen, was im Einzel fall dann zu tun sei. Diese Aktenstücke befinden sich im Zentralsekretariat des Presse wesens der Obristen-Diktatur, heute gehortet im Allgemeinen Staatsarchiv, allerdings noch ungeordnet, sodass zukünftig noch mehr Material ans Licht kommen dürfte, das die Strategien und Kriterien der politischen Zensur, die Theater betreffend, erhellen kann. Nicht edierte Stücktexte dieses Genres befinden sich auch im Theatermuseum Athen und dem Hellenischen Literatur- und Geschichtsarchiv, sodass die Eingriffe der Zensurbehörde bis in die Einzelheiten hinein nachvollziehbar sind. Die maschinenschriftlichen Aufführungs texte sind fast alle unediert, da eine Publikation aufgrund der politischen Anspielungen und der Fluidität der Einzelnummern eine solche Vorgehensweise nicht angezeigt erschien. Die direkten und indirekten Anspielungen waren natürlich ein
Erfolgsgarant der Gattung, die von ihrer Struktur und Nummernorganisation her mit einigen Ausnahmen auf der Ebene der konventionellen Nachkriegs-^tiiÅeorrø an sich eher konservativ geblieben ist. Daher war das Fazit nach dem Regimewechsel 1974 für die intellektuelle Öffendichkeit eher ein 494 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Negatives. Diese Konservativität des Konventionellen ist im Buchtitel mit dem Terminus „alte Dame“ angezeigt. Und doch bringt diese Monographie mehr als nur das Versteckspiel mit der Zensur behörde, da auch alle anderen Faktoren der Aufführung miteinbezogen wurden. Dies beginnt (Kapitel 1) mit der allgemeinen politischen und kulturellen Lage während der Sieben-JahreDiktatur (13-49): Dies ist z. T. schon aus den Titeln der Stücke abzulesen. In konzentrischen, enger werdenden Kreisen wird nun das thematische Umfeld abgesteckt: die Kulturpolitik der Obristen, das griechische Theater während der Junta-Zeit, die epitheorisi, die Konkurrenz des Musicals, Zensurwesen und epitheorisi. Das 2. Kapitel, „Vor der AufFührung“ (51-66), wendet sich den bespielten Theatersälen bzw. Freilichttheatern zu, den Schriftstellern des Genres, den Titeln (Reklamewirkung, Anspielung auf Kritikausübung am Regime) sowie den Theaterprogrammen. Das 3. Kapitel, „Die Aufführung“, bildet den Hauptabschnitt der Monographie. Auch hier wird systematisch vorgegangen: Zuerst kommen die Texte an die Reihe (67-103, Kategorien: politische Stücke, übrige Aktualität, Jugendkultur, Be ziehungen zum übrigen Theater, zum Film und zur Musik, Fernsehübernahmen, künst lerische Thematiken, Sport, Erotik und Sexuelles, das alte Athen, ad-hoc-Nummern, melo dramatische Antikriegs-Thematik, Zusätze unmittelbar nach dem Regimewechsel,· Finale des 1. Teils der Aufführung, die Sketches des 2. Teils, die Personen- und Spieltypen), dann die Musik und Musiknummern (103-120, Instrumente, Orchester, Chansons, moderne
und traditionelle Musik), die Regie (120-125), Bühnenbild und Kostüm (125-136), Choreo graphie und Ballettnummern (136-145) sowie die Schauspieler (145-160). Ein eigener Abschnitt ist den innovativen Vorstellungen gewidmet (z. B. die historische Revue von Iakovos Kambanellis „Unser großer Zirkus“ 1973/1974, .Auch Du kämmst dich .“im Park von Pangrati von verschiedenen Autoren 1973), bzw. den Nachbarschafts theatern (161-172). Die Meinungen der ausgewählten und zitierten Kritiken sind manchmal einer gewissen persönlichen Selektion unterworfen. Z. B. dass die epochemachende Vor stellung von „Unser großer Zirkus“ von Kambanellis 1973/1974 im Nachhinein mythisiert worden ist, entspricht eigentlich nicht den Tatsachen.8 Doch für Detailkritik ist hier nicht der Raum. In einem 5. Kapitel wird noch auf die Reaktionen nach dem Regimewechsel eingegangen (173-179), die im Wesentlichen negative sind und der epitheorisi während der Junta-Zeit kein gutes Zeugnis ausstellen, da nun unter den Beurteilungskriterien der Grad des Widerstands gegen das Regime dominierend geworden ist. In einem kurzen Epi log (181f.) wird diese Pauschalkritik einer historischen Revision unterzogen. In zwei umfangreichen Anhängen, die mehr als die Hälfte des Buches ausmachen, werden im 1. Anhang die erhaltenen Texte (in ihrer Aktualität kommentiert und mit Fuß noten versehen) mit den Zensurstreichungen vorgestellt (183-305), was einen interessanten Detaileinblick in die Zensurpraktiken der zuständigen Behörde vermittelt, auf welche An spielungen sie reagierte und was ihr entgangen ist. Im 2. Anhang wird
ein Verzeichnis aller einschlägigen Aufführungen dieses Genres während der Junta-Zeit mit den üblichen systematischen Angaben zu den Ausführenden geliefert (307-386), was der Grundlagen forschung der griechischen Theatergeschichte im 20. Jh. zugute kommt. Es folgt noch Südost-Forschungen 76 (2017) 495
Literatur und Theaterwissenschaft eine knapp gehaltene Bibliographie (387-392) und ein Personenverzeichnis (393-399). Mit dieser Monographie zu einer kommerziellen und populären Theaterform während der Obristen-Diktatur, traditionellerweise satirisch und politisch eingestellt, und ihrer wider sprüchlichen Symbiose mit der Zensur, die sämdiche erhaltene (zensierte und unzensierte) Stücknummern aus den Archiven veröffentlicht und einen systematischen Überblick gibt über die einzelnen Faktoren der Produktion, vom Text über Musik und Ballett zu Bühnen bild, Kostümen und Schauspielern, ist ein wesentlicher Beitrag zur Theatergeschichte der 2. Hälfte des 20. Jh. in Athen geliefert und eine wichtige Detailfacette des Theaterlebens während der siebenjährigen Militärdiktatur systematisch ausgeleuchtet. Athen, Wien Walter Puchner 1 Gonda van Steen, Stage of Emergency. Theater and Public Performance under Greek Milita ry Dictatorship of 1967-1974. Oxford 2015. Vgl. meine Anzeige in Südost-Forschungen 73 (2014), 737-742. 2 Philipp Hager, From the Margin to the Mainstream. The Production of Politically Engaged Theatre in Greece during the Dictatorship of the Colonels (1967-1974). Diss. London 2008. 3 Tonia Karaoglu, Τα θέατρο στη Θεσσαλονίκη τα χρόνια της επταετούς δικτατορίας. Diss. Thes saloniki 2009. 4 Konstantza Georgakaki, 1894-2014. Η εφήμερη γοητεία της Επιθεώρησης. Athen 2013. 5 Vgl. auch Walter Puchner, Die Literaturen Südosteuropas . 15. bis frühes 20. Jahrhundert. Ein Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2015, 185. 6 Thodoros Hatzipantazis / Lila Maraka, Η Αθηναϊκή επιθεώρηση. 3
Bde. Athen 1977/1978; Lila Maraka, Ελληνική Θεατρική Επιθεώρηση, 1894-1926. 2 Bde. Athen 2000. 7 Manolis Seiragakis, Το ελαφρό μουσικά θέατρο στη μεσοπολεμική Αθήνα. 2 Bde. Athen 2009. 8 Vgl. den eigenen Abschnitt in meiner Monographie Walter Puchner, Τοπία γυχής και μύθοι πολιτείας. Το θεατρικό σόμπαν του Ιάκωβου Καμπανελλη. Athen 2010, 451-487. Tasuda Μ. Markomichelakē, Εδώ, εις το Κάστρου της Κρήτης.: ένας λογοτεχνικός χάρ της τον βενετσιάνικον Χάνδακα [Hier, in der Burg von Kreta. : Eine literarische Stadt karte des venezianischen Candía]. Thessaloniki: University Studio Press 2015. 364 S., zahir. Abb., ISBN 978-960-12-2220-2, € 16,Ein nostalgisches Geschichtsbuch von Literaturbeschreibungen des venezianischen Candia (Χάνδαξ, Χάνδακας, Μεγάλο Κάστρο/Große Burg, das heutige Heraklion), der Hauptstadt des venezianischen „Königreichs von Candia“ (1211-1669), die wichtigste mediterrane Hafenstadt der Serenissima im Handelsnetz des Ostmittelmeers und zu gleich Heimatstadt der Autorin, die nach den Anfängen ihrer Laufbahn an der Universität 496 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Kreta seit einigen Jahren an der Aristoteles-Universität von Thessaloniki Neugriechische Philologie lehrt - eine ausgewiesene Kretologin mit Spezialisierung auf das Schrifttum der Venezianerzeit, die durch viele Artikel und Studien zur kretischen Literatur von 14. bis zum 17. Jh. hervorgetreten ist, welche sich gewöhnlich durch philologische Akribie, aus gewogenes Urteil und zuverlässige Literaturkenntnis auf dem letzten Stand auszeichnen. Ein Prädikat, das nicht mehr unbedingt selbstverständlich ist, wenn man die Dynamik der Studien zur kretischen Literatur der Venezianerzeit bedenkt, die zahlenmäßig stark zugenommen haben und bereits eine enorme Spezialisierung auftveisen. „Eine Stadt aus Worten“ - wie es die Spezialliteratur zu den literarischen Stadtbeschreibungen will - die eine reelle, historisch rekonstruierbare Wirklichkeit mit der Imagination der Sichtweisen in den Literaturdenkmälern aus der Venezianerzeit kombiniert. Die zahlreichen Photographien von Baudenkmälern der Venezianerzeit in ihrer heutigen Verfassung fugen dieser doppelten historischen Dimension noch die Zeitschicht der rezenten Überprüfbarkeit hinzu, was dem Band einen eigentümlichen Reiz verleiht, da er sich derart zwischen Archäologie, Literatur wissenschaft und dichterischer Imagination, zwischen Wissenschaft und Literatur, äußerer und innerer Realität hin und her bewegt. Ein Buch, das Kenner zu schätzen werden wissen, aber auch interessierte Leser, Studenten der Neogräzistik und Mediterranwissenschaften, Nostalgiker der Großinsel und ihrer großen „europäischen“ Vergangenheit, von der
noch Markuslöwen, elegante Marmorbrunnen, wuchtige Stadtmauern und die enormen Forti fikationen der Hafenanlage von Heraklion zeugen, welche im heutigen Verkehrschaos der Stadt und den Touristenströmen schier untergehen mögen. Für den anspruchsvollen Kultur-Tourismus wäre vielleicht noch eine vereinfachende englische Übersetzung angezeigt, denn dass Candía eine Stadt der Dichtung, der Künste, der Maler, der Musik (westliche Kunstmusik) und des Theaters gewesen ist, ist nicht jedermann bewusst. Das Buch, das dem Andenken des verstorbenen Kretologenpaars Stylianos AJexiu und Martha Aposkiti gewidmet ist, bildet eine Art Führer in die literarischen Dokumente, die stellenweise oder auf größere Abschnitte hin die Stadt beschreiben, somit auch historische Quellen darstellen, von der großen Pestepidemie 1348, die Stefanos Sachlikis erlebt hat, bis zum endgültigen Fal! der Stadt 1669 an die Osmanen, nach einer 25-jährigen Belagerung (nachdem das übrige Kreta bereits 1645 in der Hand der Türken gekommen war). Der Aufbau der Studie ist einfach und logisch: Auf eine Einleitung, wo die einzelnen Dichter, Chronographen und Schriftsteller genannt werden, folgen neun Kapitel, die jeweils be stimmte Aspekte des Stadtlebens beschreiben. Die literarische Dokumentation der Einzel aspekte folgt nicht chronologischen Kriterien, sondern umfasst den gesamten in Frage stehenden Zeitraum der Venezianerherrschaft bis zu den Klagen auf den Fall der Stadt nach 1669 und nostalgischen Kindheitserinnerungen, die noch gegen Ende des 17. Jh.s nieder geschrieben wurden. Aufgrund der biglossalen
Gesellschaft und Literatur (eigentlich vier sprachig: spätbyzantinische koine, kretischer Literaturdialekt mit und ohne Italianismen, italienisch [toskanisch], venezianisch) sind diese Literaturzeugnisse sowohl auf Griechisch wie auch auf Italienisch (Venezianisch) verfasst. Anmerkungen mit z. T. ausführlichen Kommentaren und Literaturangaben auf dem letzten Stand begleiten die Ausführungen Südost-Forschungen 76 (2017) 497
Literatur und Theaterwissenschaft der einzelnen Kapitel und wenden sich an die Spezialisten und den anspruchsvollen Leser. Leider sind sie am Bandende plaziert (eine Forderung, die nach dem transatlantischen Vor bild immer mehr Verlage stellen), sodass sich die Lektüre in ein mühsames Hin- und Her blättern verwandelt. Die Einleitung (19-37) gibt Auskunft über die Stadtgeschichte („die Stadt als Palimpsest“) und über die Dichter, Chronographen, Schriftsteller und Dramatiker, die zu dieser Dokumentation herangezogen wurden: Stefanos Sachlikis (um 1330-nach 1391) mit seinen autobiographischen und satirischen Gedichten über seine „wilde“ Jugend (Dirnenleben, Ge fängnis) und der Diplomat Leonardos Dellaportas (1330-1419/1420), der venezianische Marineoffizier Bartolomeo dalli Sonetti, der im Zeitraum von 1477-1485 Gedichte auf die Agäisinseln verfasste („Isolano ossia Corografia del Mar Egeo in versi“), davon zwei Sonette auf Kreta, das historische Gedicht von Manolis Sklavos über das katastrophale Erdbeben von 1508, Prosatexte des Priesters Ioannis Morezinis (um 1550-1613) über Marienwunder, die bekannten Theaterstücke von Georgios Chortatsis gegen Ende des 16. Jh.s, Vicenzo Komaros mit seinem Erzählgedicht von 10 000 Versen „Erotokritos“, Markantonios Foskolos (15971662) mit seiner Komödie „Fortunatos“ (1655 im seit zehn Jahren belagerten Candía ver fasst), das umfangreiche historische Gedicht „Kretischer Krieg“ von Marinos Tzane Bunialis (ca. 1620-1685), 1681 in Venedig gedruckt, zusammen mit einem allegorischen Gedicht, wo Personifikationen der Stadt Rethymno und der
Stadt Candía in einem Streitdialog sich ihrer berühmten „Söhne“ rühmen, Klagegedichte auf den Fall der Stadt von Gerasimos Palladas (ca. 1625/1630-1714) und die handschriftlichen Memoiren im venezianischen Dialekt von Zuanne (Giovanni, Ioannis) Papadopulos (geboren ca. 1618), der gegen Jahrhundertende in der Gegend von Triest in der terraferma seine nostalgischen Kindheitserinnerungen aus dem Venezianischen Kreta aufzeichnet, das als ein wahres Paradies dargestellt wird und viele Details des kulturellen und sozialen Lebens der Hauptstadt und der Provinz enthält.1 Dar über hinaus bringt die Einleitung noch eine Diskussion über die verschiedenen Namen der Stadt und die urbangeographische Reichweite der Einzelbeschreibungen (Stadtteile, Monu mente, Ghetto, die engen Gassen, Unterwelt, Kirche, offizielle Gebäude, Hauptplatz, Um raum der Stadt, Außenansicht, die Fortifikationen usw.). Das 1. Kapitel ist dem Stadtlob (laus civitatis) gewidmet (39-67). Es gibt zwar kein ganzes Gedicht dieser Kategorie in der kretischen Literatur, doch finden sich verstreut verschiedene Stellen im Werk der angeführten Literaten. Eine genauere Diskussion dieser interessanten Stellenkompilation liegt jedoch jenseits der Möglichkeiten einer Rezension. Das 2. Kapitel (69-78) analysiert autobiographische Werke, die sich auf die Stadt beziehen, was vor allem Sachlikis und Dellaportas im 14. Jh. betrifft. Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit dem Um raum der Stadt, den Dörfern und der Provinz (79-98), wiederum mit Sachlikis beginnend. Die kretische Literatur der Venezianerzeit war eher eine städtisch-
bürgerliche, die das Dorf leben mit einem idyllischen Mantel der bukolischen Nostalgie umgibt, besonders deudich im Pastoraldrama „Panoria“ von Chortatsis (um 1600) und bei Zuanne Papadopulos im 17. Jh. Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Musikleben der Stadt (99-119): Instrumente, Gesang, nächtliche Kantaten vor den Fenstern, die Existenz westlicher Musik neben den 498 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Volksliedern usw. Der Bogen reicht von Sachlikis bis Papadopulos, diesmal mit Einbezug der einschlägigen Komödienszenen. Dem Theater ist aber das gesamte 5. Kapitel gewidmet (121-T52) und zwar sowohl dem Theaterleben, über das es außer den erhaltenen Dramen werken und den textimmanenten Indizien für die Aufführungspraxis nur wenige direkte Quellen gibt, als auch der Stadt als Bühnenbild in den Komödien des kretischen Theaters, wo besonders der Text der Komödie „Fortunatos“ von Foskolos voll ist von Anspielungen und Nennungen bestimmter Ordichkeiten von Candia. Ein weiterer metaphorischer Ge brauch der reellen Stadt besteht, neben dem Bühnenbild und dem „dramatischen Raum“ (Nennung von ojf-stage Örtlichkeiten, die auf der Bühne nicht gezeigt werden), in der Personifikation der Stadt (Kapitel 6, 153-178): Diese Tradition ist bereits in den Klage liedern auf die halosis von Konstantinopel nach 1453 etabliert (sowohl in literarischen wie oralen Lamentationen)2 und betrifft das Katastrophengedicht von Sklavos, v. a. aber die Verserzählung des „Kretischen Kriegs“ von Bunialis, wo insgesamt 1 092 Verse auf die Monologe der personifizierten Stadt fallen, die sich an ihre „Kinder“ (Einwohner) wendet und Venedig und die christlichen Mächte um Hilfe bittet, um den drohenden Fall noch abzuwenden.3 Kapitel 7 ist dann der „sündigen“ Stadt gewidmet (179-212): Prostitution, Karten- und Würfelspiel, Unterhaltungen jeglicher Art, Nachtleben, Gelage, Raubüberfälle usw. (be sonders ergiebig in diesem Fall Sachlikis aus dem 14. Jh.). Der Fall der Stadt an die Osmanen wird
konventionell dem Sündenpfuhl und Lotterleben der Einwohner zugeschrieben. So z. B. findet sich die Strafklausel im Prolog der Tragödie des „König Rodolinos“ (1647) von Ioannis Andreas Troilos, wo sich die Strafe allerdings auf das ägyptische Memphis bezieht, doch Candia liegt bereits zwei Jahre in osmanischer Belagerung. Dasselbe Motiv auch im Erbeben-Gedicht von Sklavos, wo die Katastrophe ebenfalls auf die Gottesstrafe für das Sünden-Dasein der Stadtbewohner zurückgeföhrt wird (ebenso wie das Erdbeben von 1593 in chronographischen Berichten), doch v. a. herrscht das Schuld- und Sühne-Motiv nach dem Fall von Candia an die Osmanen 1669 in Klagegedichten und dem „Kretischen Krieg“ von Bunialis vor. Im Gegensatz dazu geht Kapitel 8 auf das religiöse Leben ein (213-232): Candia galt als Stadt der Gottesmutter (Panagia) mit der wundertätigen Ikone und das re ligiöse Leben mit öffentlichen Prozessionen, feierlichen und spektakulären Messlesungen und Festliturgien war intensiv. Das Gedicht von Morezinos „Κλίνη Σολομώντος“ (älteste Handschrift 1602) enthält allein 60 Marienwunder. Wunderberichte finden sich auch im Erdbeben-Gedicht von Sklavos. Solche Umzüge, an denen Katholiken und Orthodoxe teilnahmen, beschreibt auch Papadopulos in seinen Memoiren. Kapitel 9 ist dann den Klagen auf den Fall der Stadt gewidmet (233-254): Bunialis, Palladas. Ein kurzer Epilog fasst die Ergebnisse zusammen (255-257). Es folgen noch der ausführ liche Fußnotenteil (259-332), ein kurzes Glossar zur literaturwissenschaftlichen Termino logie (333-335), das Bildverzeichnis (337-338), eine
Auswahlbibliographie (339-350) mit Texten und Studien sowie ein Index von Namen und Titeln (351-363). Der Reiz dieser Monographie mit den alten Literaturtexten im kretischen Dialekt oder kirchensprachlichem Hochgriechisch ist in einer Rezension schwer zu vermitteln. Das Buch wendet sich an ein breiteres Publikum, jede Textstelle ist erklärt und mit einem kurzen Glossar versehen. Die Südost-Forschungen 76 (2017) 499
Literatur und Theaterwissenschaft Autorin hat es verstanden, ein Nostalgiebuch auf ihre Heimatstadt in ein wissenschaftliches Werk zu verwandeln, das seinen Platz in der einschlägigen Bibliographie behalten wird. Athen,Wien Walter Puchner 1 Vgl. meine Anzeige: Memories of seventeenth-century Crete: L’occio (Time of Leisure) by Zu anne Papadopoli. Hg. mit engl. Ubers., Eini., Komm., Glossar Alfred Vincent. Venice: Hellenic In stitute of Byzantine and Post-Byzantine Studies in Venice 2007 (Graecolatinitas nostra, Sources, 8), Südost-Forschungen 67 (2008) 355-357. 2 Vgl. Walter Puchner, Die Literaturen Südosteuropas. 15. bis frühes 20. Jh. Ein Vergleich. Wien, Köln, Weimar 2015, 29-31; ders., Die Folklore Südosteuropas. Eine komparative Übersicht. Wien, Köln, Weimar 2016, 31 f, 282-284. 3 Dazu mit genauen statistischen Angaben Tasula Markomihelaki, „Kastro says .“: The per sonification of Chandakas in Cretan Literature of the Venetian period, Festschrift David Holton, „His Words Were Nourishment and His Counsel Food“. Cambridge 2014, 101-121; und die (un veröffentlichte) Dissertation bei Holton von M. Vlassopoulou, Literary Writing and the Recording of History. A Study of Marinos Tzane Bounialis’ The Cretan War (17th Century). Cambridge 2000. Μεσαιωνικές ιστορίες ζώων. Διήγησις των Τετραπόδων Ζώων Πονλολάγος. Κριτική έκδο ση [Mittelalterliche Tiergeschichten. Die Vierfüßlergeschichte das Vogelbuch. Kriti sche Ausgabe]. Hg. Hans Eideneier. Iraklion: University of Crete Press 2016. XXVI, 332 S., zahir, farb. Abb., ISBN 978-960-524-453-8, € 25,Eine neue kritische Edition
aus dem Bereich der spätbyzantinischen „Volksliteratur“ (die Problematik des Begriffs in Kontrapunktik zur byzantinischen „Hochliteratur“ hat schon Hans-Georg Beck in seiner Einleitung zur Geschichte der Byzantinischen Volksliteratur von 1971 ausführlich analysiert) ist anzuzeigen, und zwar aus der Feder des erfahrensten Philo logen in diesem Bereich. Die beiden Texte gehören zu einer Gruppe von unterhaltenden Tiergeschichten, wie auch der „Opsarologos“ (Fischbuch), „Porikologos“ (Obstbuch) und die „Eselgeschichte“, werden in den frühesten Abschriften und Versionen jedoch immer zu sammen kopiert. Die kritische Ausgabe kann sich bereits aufvorangegangene kritische Text editionen stützen,1 doch würde eine solche Neuausgabe nur den engen Kreis der Philologen der Spätbyzantinistik und Frühneogräzistik interessieren, wären hier nicht zum ersten Mal die Farbzeichnungen aus dem Constantinopolitanus Seragliensis 35 (C) zusammen mit der Originalplatzierung in den Textseiten abgebildet,2 die die Lektüre beider Poeme zu einem Lese- und Schaugenuss erweitern. Diese Leithandschrift, der der Editor im Fall der Vier füßlergeschichte bis auf einige verdorbene Stellen folgt, ist eine Abschrift aus Euböa 1461, vorgenommen von einem gewissen Nikolaos Hagiomnetes (der später als Mönch auf dem 500 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Athos wiederzufinden ist). Die Datierung des Originals auf den 15.9.6873 [=1364] dürfte wohl phantastisch sein, trotzdem wird das Werk im allgemeinen in die 2. Hälfte des 14. Jh. platziert, der anonyme Verfasser dürfte wohl in Konstantinopel anzusiedeln sein (Fehlen von Dialektelementen, Mischsprache, Fünfzehnsilber ohne Reim).3 Der „Pulologos“ dürfte eine ungeschickte Imitation dieser ersten Tierversammlung sein, die trotz der guten Vor sätze in einem Massaker endet, daher erst nach dem umfangreicheren Tiergedicht (1085 Verse) zu datieren (668 Verse). Auf das Vorwort (ХІ-ХѴП) folgt die verwendete Bibliographie (ХГХ-ХХѴІ) und dann die Einleitung, die praktisch den halben Band umfasst (1-165). Diese ist allerdings spannend zu lesen, da Eideneier seine Thesen zum mündlichen Vortrag solcher Texte, die in jahr zehntelanger Beschäftigung mit der spätbyzantinisch-frühneugriechischen Literatur des Mittelalters entstanden sind, an diesen Tiergeschichten exemplifizieren kann und auch zu weiteren Vergleichen mit anderen von ihm vorgenommenen Texteditionen ausholt. Diese detaillierten Exkurse sind nicht nur informativ, da sich auf diesem Sektor der Texteditionen in den letzten Jahrzehnten viel getan hat, sondern auch notwendig, um die methodischen Selektionen seiner eigenen Ausgabe zu rechtfertigen. Diese umfangreiche Einleitung ist in sechs verschiedene Kapitel aufgeteilt. Das 1. (Λογομύθιν, 1-32) beschäftigt sich zuerst mit dem Inhalt der „Vierfußlergeschichte“ und analysiert die Tierversammlung mit den Schmähreden und Lobpreisungen der eigenen Vorzüge der 21
Tierarten, die zur Sprache kommen und welche jeweils in Streitgesprächen von Tierpaaren besteht, ohne letzdiches Ergebnis, bis der Löwe als König der Tiere den angestrebten Frieden zwischen Wildtieren und Haus tieren bricht und die ewige Schlacht der Tiere wieder ausbricht. Doch die Gruppierung der Tiere in Pflanzen- und Fleischfresser ist keineswegs konsequent, auch andere Kriterien wie rein/schmutzig usw. dürfte dem Schaffenswillen des Autors nicht entsprechen, den offenbar nur die Unterhaltung seiner Hörer interessiert (positiv kommen nur die für den Menschen nützlichen Tiere weg). In eigenen Kapiteln wird die Terminologie (Erzählung, Geschichte, Mythos/Fabel) diskutiert, um dann am Schluss kurz auf das „Vogelbuch“ einzugehen, das nicht mit einem Kampf der Tiere, sondern der Auflösung der Vogelversammlung endet. Das 2. Kapite! geht auf die poetische koine ein (33-91), die Mischsprache der byzantinischen „Volksliteratur“, ein Kernkapitel der Einleitung. Die Ausführungen nehmen hier z. T. generellere Bedeutung an: Varianten und Variationen der Abschriften sind nicht nur auf verschiedene Vorbildtexte zurückzuführen, sondern auch der Persönlichkeit der Kopisten anzulasten, die keine mechanisch-genauen Abschreiber der meist anonymen Vor bildtexte sind. Texte und Abschriften sind für den mündlichen Vortrag bestimmt (nicht die einsame bürgerliche Lesestube); daher ist es berechtigt, diese gesamte Literaturproduktion und ihre Texttradierung von der Rezeptionsseite her zu betrachten. Schriftlichkeit und Mündlichkeit stehen in einem fortwährenden gegenseitigen
Infiltrationsprozess;4 auch die geschriebenen Texte und ihre Abschriften befinden sich in einem gewissen „flüssigen“ Zu stand. Die poetische koine gehört zum „low register“ der Stillagen der spätbyzantinischen Dichtung, auf Rechtschreibung und Texttreue wird daher in den Abschriften wenig ge achtet. Die Autoren bleiben meist anonym; auch die akrostichis im „Pulologos“ 1-9 im Südost֊Forschungen 76 (2017) 501
Literatur und Theaterwissenschaft Codex Parisiantis gr. (ΔΙΟΓΕΝΗΣ) ist nur durch eine Emendation entstanden; überdies handelt es sich um später hinzugefugte Verse. Eines der Unterkapitel geht auf die Struktur des „politischen“ Verses ein (Fünfzehnsilber), ein anderes auf Formelverse und Stereotyp formulierungen, die Strukturuntersuchung der Versform beider Tiergedichte notiert zweiund dreifache Symmetrien innerhalb des Verses bzw. des Doppelverses, weitere Analyse abschnitte bringen Auflistungen von Alliterationen, homoioteleuta (gleichlautende Endungen im gleichen Vers), beachten die Wortplatzierung im Zweizeiler, gelehrte Ausdrücke, zu sammengesetzte Wortkonstruktionen, Synonyme und Variierungstechniken, sinnvolle Variationen mit phonetischer Ähnlichkeit, Transposition von Worten und Halbversen, Italianismen und Turzismen, die nachlässige Orthographie {skasiL·-Prinzip)5 und parallele Schreibweisen. Kapitel 3 geht dann auf die Struktur der „ Vierfußlergeschichte“ ein, mit der Einberuftmg der Tierversammlung und ihren Streitgesprächen in Form von binären und bilateralen Schmähreden mit Eigenlob und mit reichhaltigen Schimpfwortregistern und phantasie vollen pejorativen Wortkonstruktionen (93-119). Die Analyse geht nach der Reihenfolge der Redner vor, deren Abfolge eine gewisse „Dramaturgie“ der Unterhaltsamkeit aufweisen (z. B. Abwechslung, um die Spannung aufrechtzuerhalten), und der Präsentationscharakter des ganzen Poems ist nicht frei von einer gewissen imaginären Theatralik. Das Spiel der Auf zählung von Vor- und Nachteilen jedes einzelnen Tieres bringt keineswegs
neue oder un bekannte Eigenschaften als Überraschung, sondern fasst im Wesendichen das Zuhörerwissen zusammen. Der Reiz des entertainment liegt in der phantasievollen Sprachgebung und der Versform, dem unerschöpflichen Wortreservoir der Beschimpfungen. Vor- und Nachteile der zoologischen Spezies werden v. a. unter einem anthropozentrischen Aspekt der Nütz lichkeit gesehen. Kapitel 4 behandelt dann die Struktur und den Inhalt des „Pulologos“ (121-147): Die Vogelversammlung unter der Leitung von König Adler ist der Vierbeiner geschichte deutlich nachgestaltet; das binäre und bilaterale Streitgespräch hat funktionell dieselben Schmähreden und das Eigenlob, doch bleibt die phantasievolle Sprachgestaltung hinter der „Vierfußlergeschichte“ zurück. Auch hier bleibt der Vogelkongress ohne eigent lichen Sieger; die Versammlung endet allerdings nicht mit einem blutigen Gemetzel, sondern mit ihrer Auflösung ohne Ergebnis. Da die Register von Vor- und Nachteilen jedes einzel nen Vogels wesentlich beschränkter sind, ist der Umfang des Gedichts auch kürzer; aber in der phantasievollen Sprachgebung der Schmähreden steht das Vogelbuch weit hinter dem Tierkongress der Vierbeiner. Auch hier wird eine strukturelle Analyse nach den einzelnen Wortmeldungen gebracht. Interessant ist das Kapitel 5 über die Handschriften und die Texttradition (149-160): 1) die Leithandschriff ist der illuminierte Constantinopolitanus Seragliensis 35 (C), eine Ab schrift von Nikoalos M. Hagiomnetes auf Euböa 14616 mit 63 Farbzeichnungen.7 Die Text verluste sind gering, die Orthographie aber ziemlich
chaotisch; zwar eine Provinzarbeit, aber der Abschreiber kannte den Text und die Illustrationen stehen fast immer an der richtigen Stelle. 2) der berühmte Vindobonensis theologicus graecus 244 (1. Hälfte 16. Jh.)8; folgt im Wesentlichen C. 3) Petropolitanus 202 (P) (2. Hälfte 16. Jh.) mit größeren Textver502 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen lusten und chaotischer Orthographie; folgt im Wesentlichen C. 4) Petropolitanus 721, olim Lesbiacus Μονή Λειμώνας 92 (L) (1625) mit Deplazierungen von Versen und chaotischer Orthographie. Beide sind für die kritische Ausgabe unerheblich. 5) Eine weitere Hand schrift, Parisinus graecus 2911 (P) (Ende 15. Jh.) bringt nur die „Vierfüßlergeschichte“, die Bebilderung fehlt, doch sind die Legenden angeschrieben. Nur den „Pulologos“ bringen Escorialiensis YIV 22 (E) (Ende 15. Jh.)9 mit problematischer Texttradition, Atheniensis 791 (A) (16. Jh.) und Zoras (Z) (17. Jh.) mit leidlicher Texttradition, aber erheblichen Abweichungen von C. Kapitel 6 erklärt dann die „Politik“ der neuen Textausgaben (161-165): Eideneier hält die Ausgabe der „Vierfußlergeschichte“ von Papathomopoulos 2010, die C und P kontaminiert, für unbefriedigend, da sie nach seiner Ansicht einen inexistenten Text konstruiert. In Ab lehnung der philologischen Stemma-Methode hält er die Edition einer Leithandschrift fur adäquater, um sich eine Vorstellung von dem „Urtext“ zu machen. Zur Verbesserung von zweifelhaften Stellen werden für die Rekonstruktion nach C auch V, A und L heran gezogen, da sie der gleichen Textgruppe angehören. Die Emendationen und Lesarten der vorangegangenen Editionen werden in den apparatus criticus nicht aufgenommen. Ähnliches gilt für den „Pulologos“; hier werden die jüngeren Handschriften von A und Z nicht be rücksichtigt, da sie in ihren Abweichungen bereits einer anderen Epoche angehören. Damit wird der kritische Apparat (hier erst nach dem gereinigten Lesetext gebracht)
entlastet und die konventionelle Häufung irrelevanter Lesarten wird derart vermieden. Nun steht dem Lektüre- und Schaugenuss dieser mittelalterlichen Unterhaltungsbücher nichts mehr im Wege: Die „Vierfüßlergeschichte“ (167-245, mit den Abbildungen, die aus der Bibliothek des Istanbuler Serail speziell für diese Ausgabe angefertigt wurden), mit dem kritischen Apparat (247-260), dann das „Vogelbuch“ (261-302, mit Abbildungen) mit kritischem Apparat (303-314). Es folgt noch ein Glossar (315-332), das nur Wörter ent hält, die im Lexikon von Kriaras nicht oder mit anderen Bedeutungen notiert sind, oder Wörter, die in den Textausgaben von Papathomopoulos und Tsavari mit abweichender Semantik erklärt sind, und auf Wörter bzw. Ausdrücke, die bei Nicholas / Baloglou, An Entertaining Tale, ausführlich erklärt sind, wird verwiesen. Auf diese Weise wird ein um ständliches und umfangreiches Glossar vermieden, und das lexilogion bleibt als praktische instrumentale Lesehilfe erhalten. Die Ausgabe ist leserfreundlich gehalten und geschmackvoll aufgemacht, die erfahrene Hand des führenden Philologen in diesem Bereich und Gründers der Kongressreihe der „Neograeca Medii Aevi“ ermöglicht dem interessierten Leser das seltene Erlebnis, in einer mittelalterlichen, illuminierten Handschrift blättern und lesen zu können, die nicht religiösen Inhalts ist, sondern der bloßen Unterhaltung dient, und in Wort und Bild Lachen evozieren soll. Worüber man lacht, ist freilich zeit- und kulturgebunden, doch gerade das Konzept und das Erlebnis des Komischen, das so viele Wertvorstellungen und Normvor gaben
enthält, ganz auf die Rezeption hin orientiert ist, und die Berücksichtigung der Performanz dieser Texte vor einem Auditorium, sollte für die Geschichtswissenschaften auch als Mentalitätsanalyse vergangener Epochen ein Kernkapitel darstellen. Darüber hinaus Südost-Forschungen 76 (2017) 503
Literatur und Theaterwissenschaft bringt die Lektüre dieser Bilderhandschrift auch einen ästhetischen Genuss, der bekannt lich aussagehaltiger sein kann als so manches Traktat historisierender Eruditai. Athen,Wien Walter Puchner 1 Zur „Vierfiißlergeschichte“: Vasiliko Tsiouni, Παιδιόφραστος διήγησις των ζώων των τετραπό δων. München 1972, englische Übersetzung und Studie in Nick Nicholas/George Baloglou, An Entertaining Tale of Quadrupeds. Translation and Comments. New York 2003; Manolis Papathomopoulos, Διογένοης Παιδιόφραστος διήγησις των ζώων των τετραπόδων. Athen 2010; zum „Pulolo- gos“: Stamatia Krawczyński, O Πουλολάγος. Berlin 1960; Isabelle Tsavari, Ο Πουλολάγος. Athen 1987. Zu Textverbesserungen und Kritik siehe E. Tsolakis, Ελληνικά 17 (1962), 318-334; Franz Dölger, Byzantinische Zeitschrift 55 (1962), 350 und Zeitschriftfür Balkanologie 1 (1962), 6-8; L. Politis, Ελληνικά 19 (1966), 169-180; Hans Eideneier, Ελληνικά 28 (1975), 453-460; ders., Südost-Forschungen 47 (1988), 481-483; Caterina Carpinato, Siculorum Gymnasium 42 (1989), 345352; Arnold F. van Gemert, Ελληνικά 40 (1989), 176-183, P. Vasileiu, Ελληνικά 46 (1996), 59-82; Hans Eideneier, Byzantinische Zeitschrift 97 (2004), 610-613; ders., Österreichisches Jahrbuch der Byzantinistik 61 (2011), 278-280. 2 Dazu die noch unveröffentlichte Dissertation von Judith Eickler, Der illustrierte Codex Constantinopolitanus Seragliensis 35. Das Zusammenspiel von Text und Bild in Werken der frühneu griechischen Unterhaltungsliteratur (Angabe des Autors, XVI). 3 Das παιδιόφραστος des Titels in manchen Handschriften (im
„Parisinus gr.“ 2911) dürfte als πεζόφραστος zu deuten sein (wie in manchen anderen Handschriften), in „Prosasprache“, also nicht dem offiziellen byzantinischen Versmaß folgend, sondern dem „politischen“ Vers. Dazu existiert ein kontroverses Schrifttum. 4 Formelverse der byzantinischen Tierdichtung finden sich noch in den rezenten Kompositio nen der zypriotischen poiitarides, siehe Hans Eideneier, Ausläufer byzantinischer Dichtung in zy priotischen Volksliedern, Beweis mündlicher Überlieferung?, in: Αντίχαρη. Αφιέρωμα στον καθηγητή Σταμάτη Καρατζά. Athen 1984, 97-109; ders., Zur mündlicher Überlieferung byzantinischer Dich tung in der Volkssprache, Omonoia 5 (1983), 218-241; vgl. auch die Kongressakten des 2. Kyprologischen Kongresses, Bd. 3, Nicosia 1985, 39-53. 5 Eideneier hat dies in seinen Vorlesungen humorvoll das skasila-Prinzip der Abschreiber ge nannt (Egalitäts- oder Wurstigkeits-Prinzip): Der Grad der Rechtschreibung hängt nicht so sehr vom Bildungsgrad des Abschreibers ab, sondern unterliegt einem gewissen generellen Desinteresse an korrekter Orthographie in dieser Art von Textsorten, bzw. dem lauten Vorlesen der abzuschrei benden Texte für eine ganze Kopistengruppe in den scriptoria (Hörfehler statt Schreibfehler). Vgl. seine Studien in Elaine Jeffreys / Michael J. Jeffreys (Hgg.), Αναδρομικά και Προδρομικά. Approa ches to Texts in Early Modern Greek. Papers from the Conference Neograeca Medii Aevi V, Oxford 2005, 3-16, und in den Akten der 25. Jahrestagung der Linguisten in der Philosophischen Fakul tät der Universität Thessaloniki, 2005, 197-205. Diese
Beobachtung des Desinteresses an korrek ter Orthographie mag z. T. auch für die Manuskripte anderer Sprachen gelten, ja sogar noch für ältere Druckausgaben. 504 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen 6 Zu Beschreibung dieser wichtigen Handschrift, die neben den beiden Tiergeschichten auch den „Spaneas“ enthält, die „Erzählung über das berühmte Venedig“, das Kalender-Gedicht „Auf die Zwölf Monate“, das 3. und 4. Gedicht der „Ptochoprodromika“, den „Porikologos“, das „Lied auf Armuris“
und die „Schlacht von Varna“, vgl. Diether Roderich Reinsch, Kodikologisch-Prosopographisches zum Codex Seragliensis graecus 35, in: Ioannis Vassis / Günther S. Henrich / Diether Roderich Reinsch (Hgg.), Lesarten. Festschrift für Athanasios Kambylis zum 70. Geburtstag. Ber lin, New York 1998,
248-258; und Diether Roderich Reinsch, Ο Νικόλαος Αγιομνήτης ως γραφέας και λογιών και δημωδών κειμένων, in: David Holton u. a. (Hgg.), Κωδικογράφοι, συλλέκτες, διασκευαστες και εκδότες. Heraklion 2005, 43-65. 7 In Schwarz-Weiß-Abbildungen bei Nicholas / Baloglou, An Entertaining Tale und
Papathomopoulos, Διογένους Παιδιάφραστος διήγησις των ζώων των τετραπόδων, die Abbildungen des „Pulo- logos“ sind hier überhaupt zum ersten Mal ediert. 8 Von dieser Handschrift hat Wieland Wagner die erste kritische Ausgabe der „Vierfüßlerge schichte“ vorgenommen (Carmina Graeca medii aevi, Leipzig
1874). Zur Beschreibung des be rühmten Kodex Herbert Hunger/Wolfgang Lackner/Christian Hannick, Katalog der griechi schen Handschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 3, Teilb. 3: Codices theologici 291-337. Wien 1992, 145-157; P. Vejleskov, Codex Vindobonensis theologicus graecus
244, in: Holton u. a. (Hgg.), Κωδικογράφοι, 179-214. 9 Zur Beschreibung v. a. Helma Winterwerb (Hg.), Πωρικολάγος.
Köln 1992, 369-382. Walter Puchner, Von Herodas zu Elytis. Studien zur griechischen Literaturtradition seit der Spätantike. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2012. 522 S., ISBN 978-3205-78710-5, €59,Der Herbert Hungers Andenken gewidmete Band umfasst zehn Kapitel, Vorwort, Schlusswort sowie Quellennachweis (d. h. die Liste der den Kapiteln entsprechenden Erst veröffentlichungen des Verfassers), Literaturverzeichnis, Personen-, Titel- und Ortsregister sowie (ein gemeinsames) Sach- und Begriffsregister. Es handelt sich nicht um originäre Auf sätze, sondern vorwiegend um aus dem Griechischen (bei Kapitel 3 dem Englischen) über setzte und überarbeitete ältere Arbeiten Walter Puchners. Lediglich die Kapitel 2 und 10 beruhen auf deutschen Aufsätzen. Ein Kapitel betrifft antike vorchristliche Literatur, 1.: „Die spätantiken Mimiamben des Herodas. Mimischer Solovortrag oder theatralische Aufführung?“ ( 15-40), zwei Kapitel das Mittelalter, 2.: „,Christus patiens“ und antike Tragödie. Vom Verlust des szenischen Ver ständnisses im byzantischen Mittelalter“ (41-86) und 3.: „Der Zypriotische Passionszyklus und seine Probleme“ (87-156); eines die kretische Literatur, 4.: „Das griechische Volksbuch des,Bertoldo1 (1646). Von der Dialoghaftigkeit eines popularen Lesestoffes“ (157-178). Der Schwerpunkt des Bands liegt aber auf der im engeren Sinne neugriechischen Literatur, 5.: Südost-Forschungen 76 (2017) 505
Literatur und Theaterwissenschaft „,Germanograecia‘ zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die literarischen Übersetzungen von Konstantinos Kokkinakis und Ioannis Papadopoulos“ (179-224); 6.: „Frauendramatik zur Zeit der griechischen Revolution“ (225-273); 7.: „Die patriotische Dramatik im 19. Jahr hundert“ (275-293); 8.: „Griechische Sprachsatire im bürgerlichen Zeitalter“ (295-422; mit 127 Seiten das längste Kapitel); 9.: Der Tod des Pallikaren“ von Kostis Palamas (1891). Studien zur griechischen Dorfnovelle“ (423-454); 10.: „Odysseas Elytis und der griechische Surrealismus in der Dichtung des 20. Jahrhunderts“ (455-471). Die Kapitel des Buches sind also diachronisch geordnet, wobei die unglaubliche Sprachund Stilvielfalt des (neueren) Griechischen fasziniert, die teilweise der chronologischen Anordnung widerstrebt. Die Themenauswahl ergibt sich daraus, dass es sich bei Puchner um einen Theaterwissenschaftler und Volkskundler handelt, den insbesondere Fragen der Dialoghaftigkeit, Spielbarkeit sowie Handhabung von Raum und Zeit umtreiben. Über setzungsproblematik wird in den Kapiteln 5 und 6 besprochen, die heute meist unver standene Cento-Technik in 2 und 3. Das Augenmerk in den Kapiteln 4 und 9 liegt auf Prosa, im 10. auf moderner Dichtung. Puchner versteht diesen Band als vorwiegend philo logische Ergänzung seiner beiden Bände zur Theaterwissenschaft und Volkskunde Südost europas und des mediterranen Raums.1 Betrachten wir die einzelnen Kapitel näher: Im 1. Kapitel argumentiert Puchner über zeugend gegen Giuseppe Mastromarco,2 der die Mimiamben als für
Theateraufführungen bestimmt ansah. Herodas’ sieben ganz erhaltene Mimiamben werden von Puchner ana lysiert, wobei er betont, dass es in ihnen im Gegensatz zum eigentlichen Drama keinerlei Bühnenanweisungen gibt. Es handle sich um dialogische Milieustudien. Fazit: Es müsse der Annahme von Realisierung der Mimiamben durch „gestenbegleiteten [so zu lesen statt „-begleitenden“] und stimm-modulierenden“ Lesevortrag der Vorzug gegenüber der einer mehrpersonigen Aufführung gegeben werden. 2. Kapitel: Bei dessen Thema geht es um eine dialogisierte Marienklage in CentoKomposition, um den umfangreichsten je unternommenen Tragiker- Cento, dessen Verse hauptsächlich Euripides entlehnt sind. Puchner betont, dass der „Christus patiens“ mit einer Einortbühne nicht auskäme, da sechs Schauplätze gebraucht würden, und dass die Szenenübergänge häufig gleitend sind. Auch von angestrebter Zeiteinheit könne keine Rede sein. Der CćTzto-Dichter wende zwar Formkonventionen der antiken Tragödie an, gebe sich aber über deren bühnentechnische Konsequenzen keine Rechenschaft. Plausibel legt der Autor dar, dass die Berechtigung der Gattungszuordnung „Tragödie“ trotz der Nach ahmung antiker Dramenstrukturen einzuschränken ist, da die klassischen Tragödien in ihrer Wesenheit als Theater-Stücke offenbar nicht mehr erkannt wurden. Dies weise aufs Mittelalter, da ja zur Zeit der Kirchenväter das Theater noch lebendig war. Er plädiert mit guten Argumenten (ikonographische Einzelheiten, penetrante Judasverfluchungen) für eine nachikonoklastische Entstehungszeit in Gelehrtenkreisen Konstantinopels. 3.
Kapitel: Der sog. „Zyprische Passionszyklus“ (vor 1320) ist eine dialogische CentoKompilation von Bibelstellen eines unbekannten Autors. Wie sich aus den Anweisungen im Imperativ ergibt, war der Text für Aufführungen bestimmt, doch ist nach Puchner 506 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen so gut wie ausgeschlossen, dass es solche wirklich gegeben habe. Die Besonderheit des Zyklus besteht darin, dass die Zitationen nur in Incipits sozusagen angedeutet werden Auffiihrungsorganisator(en) und Schauspieler hätten so bibelfest sein müssen, überall den vollen Text zu ergänzen. Es handelt sich um einen einzigartigen Fall in der byzantinischen Literatur, wozu Puchner bereits vor wenigen Jahren das Wesentliche gesagt hat.3 4. Kapitel: Ausgehend von Jan Mukařovskýs Begriff der Dialoghaftigkeit analysiert Puchner das frühneugriechische Volksbuch des Bertóldo(s) — die griechische Variante dieses Bauernschlauen sollte man mit -s schreiben —, wobei auch auf viele andere Schwänke sowie die Fortsetzung über den dummen Sohn Bertoldino (s) und Übersetzungen des italienischen Stoffes eingegangen wird. Puchner weist darauf hin, dass die Figur ins Rumänische, Bulgarische, Serbokroatische und Türkische durch die griechische Gestalt vermittelt und dort z. T. mit einheimischen Schelmengestalten kontaminiert wurde. Es folgt eine Inhalts angabe der griechischen Szenen nach der Ausgabe von A. Angelu, nützlich für Komparatisten mit geringen Griechischkenntnissen. Betont wird das starke Vorwiegen des Dialogs gegen über den Erzählpassagen: Mehr als zwei Drittel beider griechischen Texte entfallen auf die Dialoge. Deren Tempo sei ähnlich hoch wie in der gleichzeitigen kretischen Komödie, dreimal so hoch wie in der Tragödie. Die „Theatralität“ erweise sich beim lauten Lesen.4 Das 5. Kapitel ist besonders für Germanisten von Interesse. Puchner geht den vier Kotzebue-
Übersetzungen von Konstantinos Kokkinakis (sämtlich 1801) und den beiden Übersetzungen des Ioannis Sergiu Papadopulos5 (1813/1814 von Kotzebues Einakter „Die Quäker“ und 1818 in Prosa von Goethes Versfassung der „Iphigenie in Tauris“) nach, die für kurze Zeit Breschen in die sonst ausschließlichen Übertragungen aus dem Französischen und Italienischen schlugen. Die Biographien der beiden Übersetzer werden rekonstruiert, wobei Puchner sich besonders um diejenige von Ioannis Papadopulos (* ca. 1794, f schon 1819 an Tuberkulose) bemüht, den die Literaturgeschichten überhaupt nicht verzeichnen. Kokkinakis’ (* 1775 oder 1781, t 1831) Übersetzung von Kotzebues „Menschenhass und Reue“ lag der ersten Theateraufführung (1803) auf griechischem Gebiet, im durch seine Färbergenossenschaff bekannten thessalischen Ambelakia, zugrunde. Ioannis Papadopulos hatte an der Bukarester Griechischen Akademie Deutsch gelernt; dort entstand wahr scheinlich seine „Quäker“-Übersetzung. Er ging als Student nach Jena, und seine Über setzung der „Iphigenie“, die er mit Goethe besprochen hat, zeigt Fortschritte im Deutschen. Willkommen sind Puchners Listen seltener griechischer Wörter aus Kokkinakis mit ihren deutschen Entsprechungen (190-194).6 Übrigens hat Puchner beide Übersetzungen des Papadopulos herausgegeben.7 Das 6. Kapitel behandelt einen außerhalb Griechenlands noch unbekannten Bereich der griechischen Literatur des frühen 19. Jh.s: die von Frauen verfassten (Prosa-)Dramen. Puchner stellt die Bio- und Ergographien der drei entsprechenden Autorinnen ausführlich vor: von Mido Sakellariu (1789
bis nach 1863), Elisavet Mutzan-Martinegu (1801-1832) und Evanthia Kairi (1799 bis nach 1866). Alle standen zwar im Schatten kultivierter Männer (Gatten, Väter, Brüder, Lehrer), wandten sich jedoch expressis verbis an ein weibliches Lese publikum. Sakellariu übersetzte die Goldoni-Komödien „Amor paterno“ und „La vedova Südost-Forschungen 76 (2017) 507
Literatur und Theaterwissenschaft scaltra“, wobei sie - auch aus autobiographischem Anlass ֊ auf das Motiv des frir seine Ehe frau zu alten Mannes hinwies und ihrem Wunsch Ausdruck gab, dass die Lektüre jungen Damen als „Lehre“ für eine richtige Gattenwahl dienen solle. Vom äußerst umfangreichen Werk Mutzan-Martinegus ist nur eine Art Prosaparaphrase des „Geizigen“ von Molière er halten und gedruckt, eine Abrechnung mit ihrem Vater. Die Handschriften aller wohl 21 übrigen Stücke (davon neun italienischer), die sich im Lamilienbesitz auf Zakynthos be fanden, gingen 1953 durch das Erdbeben verloren. Ihr Sohn, bei dessen Geburt sie den Tod fand, hat allerdings 1881 ihre Autobiographie publiziert - nach Puchner die interessanteste griechische des gesamten 19. Jh.s -, welche der Einsamkeit und Verzweiflung einer nach dem Usus der Zeit im Hause ihrer großbürgerlichen Familie eingesperrten Tochter bewegenden Ausdruck verleiht. Für Katri bedeutete die Abfassung ihres einzigen Dramas „Nikiratos“ (1826) Befreiung von der Bedrückung über den Exodus Mesolongis. Sie fuhrt sich selbst als Tochter des heroischen Kommandanten in die Tragödie ein. Ihr Stück war das früheste der griechischen „patriotischen Dramatik“ im 19. Jh.; Puchner leitet damit zum nächsten Kapitel über. Von den Werken der drei Dramatikerinnen ist nur „Nikiratos“ aufgeführt worden. Im 7. Kapitel stellt Puchner die These auf, dass die griechische Dramatik des 19. Jh.s eine eigene Gattung hervorgebracht habe, eben das „patriotische“ Drama. Es sei aber darauf hingewiesen, dass etwa nach den Napoleonischen Kriegen in
verschiedenen europäischen Literaturen ebenfalls patriotische Themen als Sujets fürs Theater gedient haben, wenn auch nicht in solcher Menge wie in Griechenland. Dort entnahm das frühe patriotische Drama seine Stoffe überwiegend dem Befreiungskampf von 1821, daneben antiken Thematiken. Später werden Aufstände in den osmanisch gebliebenen Gebieten thematisiert, besonders das Niederbrennen des kretischen Klosters Arkadi (1866). Puchner beschränkt sich in einem knappen Durchgang aufs patriotische Drama im engeren Sinne, kommentiert also nur Stücke über den Unabhängigkeitskampf. Er unterscheidet drei Phasen: 1) von der Revolution bis zum Ende der Herrschaft Ottos (1862), als sich die ersten professionellen Ensembles festigten und die Preisausschreiben der Universität für patriotische Literatur be gannen; 2) von 1862 bis zur Niederlage im Griechisch-Türkischen Krieg von 1897 - der Irredentismus führte zu einer Flut von Historienstücken, die allerdings selten den Weg auf die Bühne fanden; sowie die 3. Phase, in der sich die Dimotiki durchsetzte, betrifft bereits das 20. Jh. Die frühe Phase wurde von Ionnais Za(m)belios mit seinen zwölfTragödien ge prägt, von denen die Hälfte Persönlichkeiten des Freiheitskampfes gewidmet war (Gesamt ausgabe 1860). Besonders beliebt war Marko Botsaris’ Person (bis zum Jahrhundertende zehn Werke über ihn). Puchner erwähnt, dass Panagiotis Sutsos in seinen romantischen Versdramen bereits die klassizistischen Konventionen verlässt, und weist auf das Phänomen derjenigen Dramadker hin, die sich in der Revolution als Kämpfer ausgezeichnet hatten
(Alkäos, Lassanis, Churmuzis u.a.), sowie auf Hermúpolis als erste „Theaterhauptstadt“ des Landes. Aus der 2. Phase mit ihren irredentistischen Themen, v. a. den kretischen Auf ständen, führt Puchner kurz Werke u. a. von Ambelas, Moraïtidis, К. Arvanitis, Antonusa Kamburaki, Stamatiadis, Ly(m)berios, Veakis, Triantafyllidis, A. Antoniadis, Vernardakis und Andrikopulos an. 508 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Das umfangreiche 8. Kapitel machte eine Dreiteilung notwendig: 1. Abschnitt „Die Saure auf die Verwendung des Altgriechischen“ (299-348): Diese Gruppe von Sprachkomödien entstand aufgrund der griechischen Sprachfrage (sog. „Diglossie“) und beginnt 1813 mit den „Korakistika“ („Rabensprache“) von Iakovakis R(h)izos Nerulos. Dieser verspottet aus parodistischer Laune die μέση οδός des Koraïs (u. a. Anspielung des Titels auf dessen Namen). Puchner analysiert die Satire im Einzelnen und verfolgt ihre nachhaltige Wirkung auf Demotizisten wie Archaisten. Gestreift werden Sprachsatiren von Kanellos und Vilaras sowie die beliebte „Hochzeit des Kutrulis“, eine Parodie auf die Presse, und solche auf die Dichterwettbewerbe (Tertsetis, Stamatiadis). Ausführlicher geht Puchner auf den beliebten Einakter „Die Krämertochter“ von A. Vlachos (1871) ein, womit der Übergang von der Katharevusa zur Dimotiki in der Komödie beginnt. Er stellt die soziale Täuschungsfimktion der Katharevusa als Vehikel sozialen Aufstiegs heraus, wie sie besonders im bis heute ge spielten „Schwindler“ von Misitzis zum Ausdruck kommt. Weiter werden Beispiele aus der Belle Époque gegeben, in denen der sprachliche Gegensatz Athen — Provinz eine große Rolle spielt. Schön die Interpretation von Psycharis’ eigenartigem, nie aufgeführtem „Guanaco“ (1901), worin ein Athener Schulmeisterlein bemüht ist, die Sprache der feuerländischen Indianer (!) zu „verbessern“; ein Lama lernt (normal) sprechen und wird zum Menschen. Im Gegensatz zu dieser Satire hatte ihr Prolog „Für das rhomäische Theater“, ein Manifest,
Dramen in der Volkssprache zu verfassen, Erfolg. 2. Abschnitt „Sprachenbabel“ (348-413): Hier steht die „Babylonia“ von Dimitrios Chatziaslanis (Vyzantios) im Mittelpunkt während in den „Korakistika“ nur drei Szenen in Dialekten gehalten sind, sprechen bei Vyzantios alle Personen mehr oder weniger ausgeprägt dialektal, mit Ausnahme des Puristen, dessen „gelehrter“ Jargon aber mindestens ebenso viel Anlass zu Missverständnissen gibt. Obwohl zahlreiche echte idiomatische Elemente verwendet werden, weist Puchner nach, dass es sich bei Vyzantios’ Dialekten um „Bühnenidiome“ handelt, die in seiner Nach folge in vielen Werken mindestens bis Xenopulos Konjunktur hatten (der Rezensent, der ja hauptsächlich Sprachhistoriker ist, stimmt nicht mit allen gegebenen linguistischen Er klärungen überein, doch kann das hier nicht näher ausgeführt werden). Einem Ausblick aufs Schattentheater folgt der 3. Abschnitt, „Europäisierung und Modesprache“ (413-422), worin Parodien unmäßiger Verwendung „europäischer“ Fremdwörter, v. a. von Gallizismen, in Satiren der 2. Jh.-Hälfte interpretiert werden. Der Gebrauch französischer Brocken in der „guten Gesellschaft“, aber auch durch Hochstapler, war ja dadurch gefördert worden, dass das Französische unter König Otto Hofsprache wurde. Sozialkritische Betrachtung französischer Phrasen findet sich u. a. in Churmuzis’ Werken, besonders im „Neureichen“ (Konstantinopel 1878). Auch „europäische“ Sitten, etwa Kleidermoden, werden verspottet. Bei der Analyse des 9. Kapitels zielt Puchner auf eine Erweiterung der Kategorie „ethno graphische
(provinzrealistische) Erzählung“: Sie trage bereits die Dynamik der eigenen Überwindung in sich, indem sie von Anfang an das ausweglose ästhetische Dilemma des strengen Naturalismus in wissenschaftlichen Beschreibungen vermeide, die den Sozio logen mehr interessierten als den Literaten. So sei es in Griechenland kaum wie sonst in Europa zu antinaturalistischen Bewegungen, besonders dem Expressionismus, gekommen, Südost֊Forschungen 76 (2017) 509
Literatur und Theaterwissenschaft man könne vielmehr von Koexistenz der Ethnographie mit frühem Symbolismus, sozial kritischen Tendenzwerken und simplifizierender Nietzsche-Rezeption sprechen. Palamas gibt in der Erzählung „Tod des Pallikaren“ (1891), worin ein junger Mann den Tod der Bein amputation vorzieht, aus bürgerlich-städtischer Sicht der modernen Medizin, welche, früh genug eingesetzt, den Helden hätte heilen können, erwartungsgemäß den Vorzug gegenüber der Rückständigkeit der Bewohner Mesolongis, die „praktischen Ärzten“ und Magierinnen die Behandlung überlassen, welche so zur Todesursache durch Wundbrand wird. Puchner interpretiert den Spannungsbogen der 21 Erzähleinheiten mit ihren kryptischen Voraus deutungen im Einzelnen (u. a. Technik der Falsifizierung von Lesererwartungen). 10. Kapitel: Tiefergehende Analysen von Odysseas Elytis’ Dichtung sind auch in Griechenland selten, trotz der umfangreichen Sekundärliteratur. Das liege v. a. an seiner Sprache; nach eigener Aussage hat er sich ja „an den Sandstränden Homers“ mit nichts als Sprache beschäftigt. Diese erschließe sich aber keiner diskursiven Analyse. Puchner inter pretiert knapp mehrere Gedichtsammlungen des Autors, wobei er die Vielfalt seiner Formen konventionen betont (Metrik: freie Rhythmen, Strophenbau; Zahlenallegorese; „auto matisches Schreiben“), dazu die Verschichtung der verschiedenen Sprachtraditionen und Elytis’ ständigen Bezug auf die Ägäis. Genauer wird das Gedicht „Der närrische Granat apfelbaum“ untersucht: Puchner geht auf die Verknüpfung eigentlich nicht zusammen gehöriger
Bildteile und die Collagetechnik des Dichters ein sowie auf seine Lichtmeta physik, wobei das großartige Axion esti, von dem es die Vertonung durch Theodorakis und u. a. zwei deutsche Übersetzungen gibt, in den Vordergrund tritt. Zu Elytis’ Neologismen: Er gehe „mit den Wörtern um wie ein Bildhauer mit seinem Material oder ein Maler mit seinen Farben.“ Abschließend wird auf Elytis’ andere große Komposition, „Maria Nefeli“, Bezug genommen und sie als eine Art „neugriechischer Politeicľ bezeichnet. Seine Sprach igste seien im Grunde unübersetzbar. Gelegentliche Redundanzen waren in einem so umfangreichen, erhebliche Teile der griechischen literarischen Diachronie betreffenden Werk unvermeidbar. Dies gilt allerdings nur eingeschränkt für die nicht wenigen Druck- und anderen Flüchtigkeitsfehler. Zusammenfassend sei konstatiert, dass Puchner, dessen Ansichten der Rezensent fast immer zustimmt, wieder einmal ein hochgelehrtes Buch gelungen ist. Auch diesmal ruft seine stupende Kenntnis der Sekundärliteratur und überhaupt seine enorme ευρυμάθεια Bewunderung hervor. Der Nutzen des Bandes ist, v. a. für Komparatisten, beträchtlich. Hamburg Günther S. Henrich 1 Walter Puchner, Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums. 2 Bde. Wien, Köln, Weimar 2006/2007, 27 Studien; ders., Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums. Wien, Köln, Weimar 2009, 24 Studien. 2 Giuseppe Mastromarco, The Public of Herondas. Amsterdam 1984. 3 Walter Puchner, The Crusader Kingdom of Cyprus. A Theatre Province of Medieval Europe? Research Programme History
of Greek Theatre and Drama from the Middle Ages to the Greek re510 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen volution of 1821. Athens 2006. Zu 9If. des jetzigen 3. Kapitels: Leiden [NL] ist nicht identisch mit Leuven/Louvain [В]; zu 127: M. Falleros gehört ins 15. Jh. 4 173f., 177 sowie 240, 333, 418: esprit mit ungerechtfertigtem accent aigu. 5 Der Rezensent transkribiert (nach schon lateinischer Tradition) alt-, aber auch mittel- und neugriechisches ου ausschließlich als u: also nicht nur Musik oder Thukydides, sondern auch Armenopulos, Sergiu, Nerulos u. ä. Bei neugriechischen Namen hält er die Setzung eines Akzents fur angezeigt. 6 Einige Ableitungen sind diskutabel: So ist z. B. γιουρίζω (Anm. 66) eher idiomatische Neben form zu γυρίζω als Ableitung von γ!ουρούσι türk, yürüyüş (vgl. etwa Insel Γιούρα Γύαρα, -ος). Κουτζ κουτζ [-ts] dürfte franz. couche, nicht „slawisch“ sein, und das ebenfalls daher kommende dt. ku schten] ist nicht nur wienerisch. 7 Io. Serg. Papadopulu, Θεατρικές μεταφράσει. Athen 2004, 60-122. Irina V. Tresorukova, Karagiozis - grečeskij Petruška. Sovremennij grečeskij teatr te nej. įstoki, personāži, sjužeti, jazik [Karagkiozis - der hellenische Petruschka. Mo dernes griechisches Schattentheater. Wurzeln, Helden, Sujets, Sprache]. Moskva: Maks Press 2016. 200 S., 8 Abb., ISBN 978-5-317-05225-6, RUB 758,Bei dem hier anzuzeigenden Buch, das als eine fundierte Zusammenfassung der Karagiozis-Studien auf internationaler Ebene angesehen werden kann, handelt es sich um die russische Monographie von Irina Tresorukova, Associated Professor am Institut für Byzantinische und Neugriechische Studien an der Lomonossow-Universität in Moskau, die sich
bereits mehrfach mit dem Thema auseinandergesetzt1 und auch ihre Dissertation dieser Thematik gewidmet hat. Die Arbeit ist bibliographisch hervorragend belegt und geht auf eine Reihe von Fragestellungen ein, die nicht unbedingt im Zentrum der bisherigen Forschung gestanden haben, so die Formen des Witzes mit typologischen Vergleichen aus der gesamten griechischen Tradition oder ein internationaler Vergleich der Trickster-Figur in den mündlichen Erzählungen. Das 1. Kapitel beschäftigt sich sachkundig mit dem antiken Puppentheater, der Idolhandhabung und dem marionettenartigen Kinderspielzeug und stellt die wenigen Nachrichten aus Quellen zusammen, die sich mit der Existenz eines Schattentheaters eventuell in Zusammenhang bringen lassen (18-40). Die Hinweise auf die eleusinischen Mysterien und das Platonische Höhlengleichnis brauchen heute nicht mehr diskutiert zu werden. Interessant ist die Beistellung russischer Bibliographie zu dem Thema. Jedes Kapitel ist von Fußnoten mit ausführlichen Verweisen beschlossen. In ähnlicher Weise geht auch das 2. Kapitel zu Byzanz vor (41 -62) ; die älteren Theorien werden mit der nötigen Vorsicht zitiert. Ein 3. Kapitel beschäftigt sich mit den Herkunftstheorien des rezenten griechischen Schattentheaters (63-73). Südost-Forschungen 76 (2017) 511
Literatur und Theaterwissenschaft Auf die eher historischen Kapitel folgen die systematischen: zuerst zum Figurensystem des neugriechischen Schattentheaters (74-118) mit individueller und typisierter Witzlage, Dialogbeispielen, absichdichen und unabsichtlichen Missverständnissen, Charakterisierung der Einzelfiguren, das Motiv des Hungers, der Prahlerei und weiteren Modven; dieses Kapitel endet in einem Vergleich mit dem osmanischen Karagöz und dem hellenistischen MaskenKatalog von Pollux. Ein weiteres Kapitel geht auf Sujet und Kompositionstechnik der Stücke ein (119-154): die drei Stückkategorien und ausgewählte Einzelwerke. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit texdichen Analoga der Witzerzeugung in einem typologischen Vergleich mit der aristophanischen Komödie und etwa der Sprachkomödie „Korakistika“ von I. R. Neroulos (1811; 155-183), wo v. a. auf die Verballhornungen und Sprachmissverständnisse eingegangen wird sowie auf die Dialekthandhabung bei den Dialekttypen. Die interessante Monographie, die auch sprachwissenschaftliche Thematiken der dia chronischen Gräzistik anschneidet, endet mit der reichhaltigen Bibliographie (184-194) und dem Bildteil. Durch die Verbindung mit der russischen Bibliographie und Literaturtheorie2 gewinnt die griechische Schattenspielforschung einen etwas differenten Zugang zu Kernfragen der sprachlichen Improvisation sowie eine typologische Komparation mit dem internationalen Trickster-Phänomen der Oralerzählungen sowie eine Auseinandersetzung mit vergleich baren Themen, Figuren und Techniken der Lacherzeugung in der griechischen
Tradition seit der Antike. Athen, Wien Walter Puchner 1 Vgl. z. B. das Kongressreferat, unter www.eens-congress.eu/?main_page=l main_ lang=de eensCongress_cmd=showPaper eensCongress_id=235 , 17.3.2017. 2 Z. B. Olga M. Frejdenberg, Mif i literatura drevnosti. Moskva 1978; dies., Mif i teatr. Lek cii po kursu Teorija dramy dija studentov teatrabnyh vuzov. Moskva 1988; dies., Poétika sjužeta і žanra. Moskva 1997. Von Hora, Doina und Lautaren. Einblick in die rumänische Musik und Musikwis senschaft. Hg. Thede Kahl. Berlin: Frank Timme 2016 (Forum: Rumänien, 33). 623 S., zahir., teils farb. Abb., Musiknoten, 2 CD, ISBN 978-3-7329-0310-8, € 68,Aus einer Tagungsreihe „Forum Rumänien“ in Wien ist vorliegender umfangreicher Band zu Volks- und Kunstmusik und Musikwissenschaft in Rumänien mit seinen 32 Beiträgen entstanden. Der Titel freilich verweist auf die Volksmusik. In einer kurzen Einleitung (1121) erklärt der Herausgeber die verwendeten Begriffe: horă als balkanweiter Reigentanz mit z. T. asymmetrischen Rhythmen, doina als Balladenform mit der charakteristischen Tonlage 512 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen einer reflektiven und emotionalen Melancholie, und lăutari {lăută als Geige) als herum ziehende professionelle Zigeunerensembles der Volksbelustigung, die früher bei Dorf- und Familienfeierlichkeiten aufspielten (unter den Phanarioten auch Musiksklaven am Hof), mit einem hybriden balkanweiten und mitteleuropäischen Repertoire. Das Professionym ist nicht eng als Ethnonym zu verstehen. Die Reihe der Beiträge fuhrt von Volksmusik und Kirchengesang zu Kunstmusik und Musikwissenschaft, und ist nicht hermetisch eng an Rumänien gebunden. Der 1., einer der umfangreichen Beiträge, von Marian Lupaşcu, „Folklorui românesc. De la cântări medievale la variante actualizate“ (23-52) gibt einen Überblick über die Instrumente (v. a. die Flötenformen bis zu den alphornähnlichen Gebilden wie bucium, Dudelsack), doina-Lieder und andere Lied- und Tanzformen (mit Auflistung der Auf nahmen). Ihm folgt der Kirchenmusik-Spezialist Nicolae Gheorghiţă mit „Codices and Musicians in the Communion Chants’ Repertoire during the Turcocracy (1453-1821). Case Study: Sunday — Koinonikon“ (53-66) *; zur Salonmusik in der Phanariotenzeit und zur 1. Hälfte des 19. Jh.s Constanţa Vintila-Ghiţulescu (67-78). In die Antike ent führt uns Richard Witt, „Daphnis, Chloe, Shepherd Music, and the Sound of the Nať (79-100) und referiert über die musikologischen Informationen im bukolischen Roman von Longus. Zur nationalen Instrumentalisierung von Volksmusiksammlungen im 19. Jh. äußert sich Maurice Mengel, „Political Modes of Musical Representation. Romanian Folk Music Anthologies 1830s-1910s“ (101-121, zu
Alecsandri, Kogalniceanu u.a.). Kurz hält sich Speranţa Rädulescu, „Oral Musics in Contemporary Romania: a Few Particularities. The ‘Ideal’ Past“ (123-128) und benennt die rezenten Entwicklungen: Professionalisierung, Stadtmusik, Eingliederung in größere regionale Identitäten, Hybridisierung des Repertoires und Sanktifizierung der Folklore in der kommunistischen Ära. Eine Reihe von Fallstudien bringt Margaret H. Beissinger, „Romani Performance and the Music of Celebration. Traditional Weddings in Pre- and Post-1990 Southern Romania“ (129-141)2: Es geht um die Hybridform der manele, ähnlich der bulgarischen čalka.3 Traditioneller geben sich Mírela Kozlovsky, „Zur traditionellen Musik der Meglenorumänen aus Cerna“ (143153) und Anca Giurchescu, „Enacting Tradition. The ora - Event Marker of Ethnie and Cultural Adentity of the Vlachs Settled in Denmark“ (155-165). Über colinde-Ansingelieder im Kreis Covasna berichtet Constantin Secară (167-193); ebenfalls zu carolFormen in einem umfangreichen Beitrag Thede Kahl und Rasvan Roşu (195-240); zu den Ansingeliedern der Meglenorumänen Virgil Coman (241 -262), hier auch griechische kalanda und bulgarische kolede. Vergleichend angelegt ist die Studie von Ileana Cornescu, „Liebesausdrücke in rumänischen und deutschen Volksliedern. Eine Analyse unter Vergleichskategorien der Direktheit“ (263-299). Den Übergang zur Kunstmusik bringt dann Franz Metz, „Franz Liszt und seine Lăutari. Eine Spurensuche nach den Konzerten Liszts 1846-47 auf dem Gebiet des heutigen Rumänien“ (301-313), gefolgt von Raluca Ştirbăţ, „George Enescus ,Klaviersuite“ in
D-Dur, op. 10 Nr. 2 (Des cloches sonores, 1903) - Eine einzigartige Ver schmelzung von Impressionismus, Neobarock, Spätromantik und rumänischem Melos“ Südost֊ Forschungen 76 (2017) 513
Literatur und Theaterwissenschaft (313-341) und Olguţa Lupu, „Symphonie No. 3 by Tiberiu Oláh - Analysis and Re interpretation of a Beethovian Work“ (343-352), während sich Florinela Popa mit dem Komponisten Mihail Jora auseinandersetzt („Elements of a Postmodernism avant և lettre. Case Study“, 353-362). Mit dem Drehkreuz Siebenbürgen zwischen Ost und West be fasst sich Carmen Daniela, „Siebenbürgen als Beispiel einer Symbiose europäischer Musikkulturen“ (363-380, Musikbeispiele auf CD). Auch für die Theatergeschichte interessant ist der Artikel von Haiganuş Preda-Schimek, „Die Musikerfamilie Wach mann im Bukarest des 19. Jahrhunderts“ (381-403): Wachmann war Dirigent bei ver schiedenen deutschen und französischen Theatertruppen, beim ersten rumänischen Theater von Costache Caragiale, Leiter der Musiksektion des Nationaltheaters 1855-1858 und bei Matei Millo, späterhin Gründer des ersten Symphonieorchesters. Es geht weiter mit Persön lichkeiten der Musikschöpfung: Christine Papp, „Béla Bartók, die Volksmusik und die Politik“ (405-429), Christine Stieger, „Franz Xaver Dressier (1898-1981). Bild eines schöpferischen Menschen im Kontext der Zeitgeschichte“ (431-443, über den Gründer des „Brukenthalchors“ 1922 und des „Bach-Chors“ 1931 in Hermannstadt); zum Buffon in der zeitgenössischen rumänischen Musik Csilla Csákány (445-460). Gleich zwei Beiträge sind der Integrationsfigur Dimitrie Cantemir (1673-1723) ge widmet, und zwar aus musikologischer Sicht: Odette Arhip, „Dimitrie Cantemir and the Beginnung of European Musicology“ (461-468), und weit ausführlicher, auch auf
Bio graphie und Gesamtwerk eingehend Rainer Redl, „Dimitrie Cantemir und das ,Buch der Musikwissenschaft1“ (469-511): Sein Notationssystem ermöglichte erst die Aufzeichnung und Reproduktion der osmanischen Musiktradition; er war sowohl Instrumentenspieler wie Musiktheoretiker. Cantemisr „Kitäb-i edvär“ erlaubt sowohl die Notation der Melodien führung des makam wie die komplizierten Rhythmen des usul. Durch seine Notenschrift wurden viele Instrumentalstücke für die Nachwelt erhalten.4 Heinz Panteleymon Gstrein berichtet dann über „Die Bedeutung des Athos für die rumänische Kirchenmusik. Von loan Cucuzel bis zum Schitul Sfântul Dimitrie“ (513528), das ist von ca. 1280-1360 bis in die Gegenwart. Einen völlig anderen Themen kreis schneidet Peter Mario Kreuter an: „Prolegomena zu einer vergleichenden Kultur geschichte der südosteuropäischen Nationalhymnen. Mit einem besonderen Fokus auf die rumänische Hymnengeschichte“ (529-541). Das ist ein interessantes und wenig erforschtes Thema für die Komparatistik, denn immer noch werden Nationalhymnen gesungen, die weder textlich / inhaltlich noch in ihrem spätromantischen Musikpathos irgend etwas mit der Gegenwart zu tun haben, sozusagen Schall-Relikte einer anderen Zeit.5 Dann geht es mit großen Schritten dem Ende zu: Mädälina Diaconu, „Ciorans romantische Meta physik der Musik“ (543-563); Gerda Lechleitner, „.Rumänisches“ im Wiener Phonogrammarchiv“ (565-574); Stellán Mândruţ, „Studierende aus Rumänien an der Hoch schule für Musik und darstellenden Kunst in Wien (1867-1918)“ (575-588); Marina Cap-Bun, „Muzica românească în
Portofoliul Muzical European“ (589-605); schließlich Ana Szilágyi, „Die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft - eine Reaktion des Komponisten Aurel Stroe auf die politische Situation?“ (607-615). 514 Südost-Forschungen 76 (2017)
Rezensionen Damit ist man beim Autorenverzeichnis angelangt und bewundert die editorische Leistung von Petra Himstedt-Vaid, die in einer nachträglichen Danksagung (623) noch gewürdigt wird. Das hybride Material mit seiner ausufernden Thematik lässt sich wohl nicht besser strukturieren; wichtiger ist sicherlich, dass solche Sammelbände überhaupt erscheinen können, denn sonst hätten manche dieser Beiträge das Licht einer mittel europäischen Öffentlichkeit vermutlich nicht erblickt. Insofern ist auch dem Verlag für dieses reichhaltige und in seiner Aufmachung ansprechende Buch zu danken, wie auch dem Herausgeber, der sich auf dieses Unternehmen eingelassen und es mit Erfolg zu Ende geführt hat. Die Ethnomusikologie, Balkanologie und Musikwissenschaft wird es ihm zu danken haben. Die beigebundenen Compact-Disks entschädigen mit ihrem Hörgenuss für jegliche Lesemühe. Doch Sammelbände sind ohnehin für selektiven Gebrauch gedacht, und außer dem Rezensenten wird wohl niemand den umfangreichen Band von Anfang bis zum Ende durchlesen. Athen,Wien Walter Puchner 1 Vgl. auch meine Anzeige in Südost-Forschungen TI (2013), 625£ 2 Vgl. auch ihre Monographie Margaret H. Beissinger, The Art of Lautan The Epic Tradition of Romania. New York 1991. 3 Dazu auch Vesa Kurkela, Bulgarian Chalga on Video. Oriental Stereotypes, Mafia Exoticism, and Politics, in: Donna A. Buchanan (Hg.), Balkan Popular Culture and the Ottoman Ecumene. Music, Image, and Regional Political Discourse. Lantham/MD 2007, 143-173; Donna A. Bucha nan, Wedding Musicians, Political Transition, and National Consciousness in
Bulgaria, in: Mark Slobin (Hg.), Returning Culture. Musical Changes in Central and Eastern Europe. Durham/NC 1996, 200-230. 4 Dazu Walter Feldman, Music of the Ottoman Court. Makam, Composition and the Early Otto man Instrumental Repertoire. Berlin 1996; Gültekin Oransay, Die traditionelle türkische Kunstmu sik. Ankara 1964; ders., Die melodische Linie und der BegriffMakam der traditionellen türkischen Kunstmusik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert. Ankara 196Ճ; Eugenia Popescu-Judetz, Prince Dimitrie Cantemir. Theorist and Composer of Turkish Music. Istanbul 1999, Kurt Reinhard / Ursula Reinhard, Musik in der Türkei, Bd. 1: Die Kunstmusik. Wilhelmshaven 1984. 5 Dazu Ulrich Ragozat, Die Nationalhymnen der Welt. Ein kulturgeschichtliches Lexikon. Freiburg/Bg., Basel, Wien 1982; Harry D. Schurdel, Nationalhymnen der Welt. Entstehung und Ge halt. Mainz 2006; Vilmos VbiGT, ,Gott erhalte. ‘ und andere soziosemiotische Glückwünsche. Aus der bunten Geschichte europäischer Nationalhymnen, in: Wolfgang Dahmen u. a. (Hgg.), Grenz überschreitungen. Tradition und Identitäten in Südosteuropa. Festschrift für Gabriella Schubert. Wiesbaden 2008, 679-685. Südost-Forschungen 76 (2017) 515 |
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