Gerhard Richter
Zu Beginn der 1960er Jahre benutzte Richter erstmals Fotografien als Vorlagen für Gemälde; ein Verfahren, das er danach regelmäßig anwendete. Es handelt sich dabei um beiläufige Motive aus Zeitungs- und Illustriertenausschnitten (später auch auf eigenen Aufnahmen beruhend), die er abmalend vergrößerte, überwiegend in Grau-Weiß auf die Leinwand übertrug und damit überhöhte. Richter selbst kommentierte diese Werke so: „Es demonstriert die Zahllosigkeit der Aspekte, es nimmt uns unsere Sicherheit, weil es uns die Meinung und den Namen von einem Ding nimmt, es zeigt uns das Ding in seiner Vieldeutigkeit und Unendlichkeit, die eine Meinung und Ansicht nicht aufkommen läßt.“ In diesen Zusammenhang gehört auch das 200 × 650 cm große, fünfteilige Bild ''Alpen'' (1968), in dem Richter das Alpenmotiv nicht verwischt, sondern in einem Duktus (Strichführung), der an späte Bilder von Cézanne erinnert, regelrecht ‚vermalt‘.Diese dem Fotorealismus nahe Methode ist durch eine verwischt wirkende Unschärfe gekennzeichnet, die den Realismus der Vorlagen verfremdet. Ein typisches Beispiel ist die Nr. 1 des Werkverzeichnisses, ''Tisch''. Mit seinem Gemälde ''Ema (Akt auf einer Treppe)'' vom Mai 1966, dem eine Farbfotografie seiner damaligen Frau zugrunde lag, zitierte Richter eines der bekanntesten Gemälde der Neuzeit, den ''Akt, eine Treppe herabsteigend'' (1912) von Marcel Duchamp.
Die Kunstkritikerin Helga Meister hat als erste eine konkrete Beschreibung des Abmalvorgangs geliefert: „In Illustrierten, Zeitungen, Fotoalben und Fachbüchern sucht er seit Jahren nach geeigneten Fotos, schneidet sie aus, legt sie unter ein Episkop und projiziert die nun stark vergrößerten Bilder auf eine leere Leinwand. Auf ihr zieht er mit Kohle nach und pinselt Menschen wie Räume mit schwarzer, grauer und weißer Farbe aus. […] Die noch nassen Farben übermalt er mit einem breiten Pinsel, zieht die Konturen ineinander, egalisiert die Farbunterschiede.“
Vielfach ging Richter über die Verfremdungstechnik der unscharfen Darstellung hinaus und zog Furchen durch die Oberfläche der Gemälde, ein Mittel, das er später in expressiv abstrakten Gemälden wieder aufgegriffen hat. Oder aber er reduzierte die abgemalte Fotografie auf verschwimmende Ansichten, denen kaum noch Bezüge zur fotografierten Wirklichkeit anzusehen sind. An diesen Bildern wird deutlich, wie fern Richter in den 1960er Jahren den aktuellen Trends der Pop Art, des Fotorealismus oder der Fluxus-Bewegung war: Strömungen, mit denen sich Gerhard Richter auseinandersetzte, von denen er sich aber in seiner künstlerischen Praxis absetzte – wenn man davon absieht, dass die Benutzung von Fotografien von der Pop-Art angeregt worden sein dürfte.
Richter erläuterte hierzu, er verdanke Andy Warhol die Anerkennung des Mechanischen in seinem Prozess des Abmalens von Fotografien. Damit triebe er der Malerei alle idealistischen und subjektiven Momente aus. Dem Kunstwissenschaftler Johannes Meinhardt zufolge schließt „die mechanische Arbeit des Abmalens […] alle bewußte Wahl und Entscheidung aus, läßt der kreativen Imagination keinerlei Platz“. Das Verwischen der Fotos verstärke den nicht subjektiven und nicht intentionalen Charakter des Bildes als auch der Handarbeit und betone die Beliebigkeit des gefundenen Sujets. Der Kunsthistoriker und Museumsdirektor Uwe M. Schneede schreibt dem Foto bei Richter eine Bedeutung analog zum Readymade von Marcel Duchamp zu. Stefan Germer weist darauf hin, dass Richter seine Kunst „weniger zur Produktion neuer als zur Reflexion bereits vorhandener Bilder“ nutzt.
Neben den Abmalungen von Fotos banaler Gegenstände (wie ''Klorolle'', ''Küchenstuhl'', ''Tisch'' oder ''Wäschetrockner'') stehen Abmalungen von zeitgeschichtlichen Personen oder Ereignissen, die nach Richters Worten „meine Gegenwart zeigen“; dazu zählen ''Sportwagen'', ''Motorboot'' und ''Militärflugzeug'', ''Sekretärinnen'', die Prostituierte ''Helga Matura'', der Euthanasietäter ''Werner Heyde'', der verwandte ''Onkel Rudi'' im Wehrmachtsuniform und der Kennedy-Attentäter Oswald. Für Uwe M. Schneede gruppieren sie sich – schon durch ihre für Richter typische Verwischung – zu „Bildern einer Epoche“, die ihren abschließenden Höhepunkt im sogenannten RAF-Zyklus ''18. Oktober 1977'' fanden. Er beendete damit seine Arbeit an Bildern nach Schwarz-Weiß-Fotos, mit seinen Worten: „in der Form einer komprimierten Zusammenfassung, die kein Weitergehen mehr zulässt“.
Zu den Kriterien seiner Motivauswahl bekannte er sich 1986 in einem Interview mit dem Kunsthistoriker Benjamin Buchloh „ganz bestimmt“ zu inhaltlichen Kriterien, die er „früher vielleicht verleugnet habe“. Indirekt bestätigt Richter damit die Auffassung des Kunsthistorikers Eckhart Gillen, der Richters Aussagen, seine Fotovorlagen seien Zufallsfunde, willkürlich und bedeutungslos, „bei näherer Betrachtung als Tarnung“ begreift.
Auch Stillleben, Landschaften und Meeresbilder sowie bekannte Sehenswürdigkeiten wie die Niagarafälle sind Gegenstand der Abmalungen. Fotorealistisch wirken hingegen das 1978 als Auftragsarbeit für das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, Düsseldorf, entstandene ''Wolkenbild ohne Titel'' und aus den 1980ern stammende Landschaftsbilder, z. B. ''Davos'' von 1981, ''Eis'' (1981 und geradezu in der Tradition eines Caspar David Friedrich) oder ''Besetztes Haus'' 1989, das allerdings auch nicht ohne Unschärfen auskommt. Es sind Gemälde, die in ihrer Perfektion zwar abbilden, gleichermaßen jedoch mehr das Typische verfremdet darstellen. Richters Biograf Dietmar Elger nennt sie „Anschauungsmaterial einer verlorenen Wahrheit“. Veröffentlicht in Wikipedia
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