Andreas Okopenko

Andreas Okopenko (1974) Seine „lyrische Grundhaltung“ rettet Okopenko hinüber in die Formgefäße anderer Gattungen. So tritt beispielsweise in der Erzählung ''Die Belege des Michael Cetus'' (1967) oder auch im ''Lexikon-Roman'' (voller Titel: ''Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden'') von 1970 an die Stelle narrativer Gleichförmigkeit eine Montage von „konkretionistischen“ Partikeln, von Protokollen, Briefen, Notizblättern, Lexikonbeiträgen, Gesprächsfetzen und versprachlichten „Ansichtskarten“. Die ungewöhnliche Anordnung (jeder Abschnitt ist mit einem lexikalischen Stichwort versehen und kann in beliebiger Reihenfolge gelesen werden) tut der Lesbarkeit des Werkes dennoch keinen Abbruch. Das Sujet der „Exporteursreise“ kann man als Verschmelzung der aus der Tradition bekannten Symbole einer Reise als Sinnbild für Leben und Welt-Erfahrung mit dem „Handeltreiben“ als einer Metapher für Transfer und Zirkulation, besonders die Transfertätigkeit des Dichters, verstehen.

Der Autor wolle „sich und die Leser aus dem Schnarchfluß stören“, heißt es zu Beginn des ''Lexikon-Romans'', in dem Okopenko sich dem fraglosen Erzählen verweigert und mit der alphabetischen Anordnung von Stichwörtern Fabel, Zeitkontinuum und psychologische Glaubwürdigkeitsgebote sprengt. Okopenko weist auf die auf Freiheiten der Lektüre hin und fordert den Leser zum Flanieren durch den Text auf:

Der Umstand, dass das Ende des Romans nicht zugleich das Ende des Buches ist und nicht einmal genau auszumachen ist, verstärkt beim Lesen den Eindruck eines literarischen Experiments, das zu zeigen versucht, was sich im Rahmen üblicher Literaturdarstellungen nicht darstellen lässt. Die Geschichte entsteht sogar bei erneuter Lektüre neu zusammengesetzt und wird fortgeschrieben. Die Betonung der Entscheidungskompetenz des Lesers führt aber auch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Eigenheiten der literarischen Rezeption selbst, deren Regeln nicht mehr vom Text diktiert werden, sondern abhängig sind vom Leser selbst und davon, wie er in dem Buch blättert. Okopenko selbst sprach von einem „Möglichkeitsroman“: An die Stelle der ''Wirklichkeit'' als Maßstab für die Kunst tritt die ''Möglichkeit'' und insofern eine Prosa, die sich sogar vom Autor gelöst hat und den Leser selbst aktiv werden lässt. Okopenkos Prosa ist hier „absolut“ in einem Sinne, der über den Terminus „absolut“ hinausweist, den noch Gottfried Benn mit den Möglichkeiten der Prosa verband. Benn hatte unter anderem eine Prosa „außerhalb von Raum und Zeit“ gefordert: „Der Stil der Zukunft wird Roboterstil sein, Montagekunst.“

Durch die poetische Experimentierfreude wird der ''Lexikon-Roman'' zum literarischen Vorreiter des Hypertextes. Er nimmt bereits zahlreiche Verfahren vorweg, die Jahrzehnte später die digitale Textkommunikation auszeichnen: Textbausteine, verschiedene Verweisstrukturen (Links), mögliches Einschlagen eigener Lektürepfade (Pathways) und auch Aktivieren und Einbeziehen der Leserinnen und Leser (User). So verzichtet Okopenko beispielsweise unter dem Stichwort „Lexikonromane“ auf das literarische „Patent“ des Lexikonromans. Stattdessen findet sich hier ein Aufruf an die Leser, eigene Texte nach dem Vorbild des vorliegenden zu verfassen. Dass der ''Lexikon-Roman'' im Grunde schon der HTML-Logik von Webseiten folgt, zeigt sich auch an der späteren Adaption des Buches in elektronischer Form. Der Roman wurde 1998 in Zusammenarbeit zwischen dem Autor, dem Kollektiv ''Libraries of the Mind'' und dem Komponisten Karlheinz Essl als ''ELEX – Elektronischer Lexikon-Roman'' auf CD-ROM veröffentlicht. Unter anderem komponierte Essl durch Algorithmen eine Lexikon-Sonate, die näherungsweise eine Umsetzung des Hypertext-Prinzips in die Musik ist. Sie sprengt den Rahmen eines herkömmlichen Klavierstücks in vielfacher Hinsicht insofern, dass es weder eine Partitur gibt, sie sich in Echtzeit verändert, es keine Wiederholungen gibt und die Dauer prinzipiell unendlich ist. Der Leser wird im ''Lexikon-Roman'' an verschiedenen Stellen auch aufgefordert, eigene Erinnerungen einzutragen, Nuancen von Eindrücken, Gedichte, ganze Dissertationen, Malereien und Zeichnungen und vieles mehr. Einige dieser vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise das Hineinkopieren von Bildern, konnten in ELEX nicht eingebaut werden. Gründe dafür waren einerseits die technisch noch beschränkten Möglichkeiten des Jahres 1998, andererseits grundsätzliche Unterschiede der verschiedenen Medien. In gewisser Weise bot der ''Lexikon-Roman '' also sogar mehr Interaktionsmöglichkeiten als ELEX.

Eine Auswahl seiner „Spleengesänge“ (1969) hat der Liedermacher Ulrich Roski vertont und auf seiner LP „So hat es die Natur gewollt“ (TELDEC 6.23548, 1978) veröffentlicht.

Unbekümmertheit um den Zeitgeist bewies Okopenko, als er 1976 – zu einer Zeit, als die meisten seiner Kollegen neue Zugänge zu einer epischen Verbindlichkeit hergestellt hatten – seinen zweiten Roman ''Meteoriten'' vorlegte, in dem das Prinzip erneut eine alphabetische Vokabelreihe ist. Im Gegensatz zum ''Lexikon-Roman'' sind hier die Stichwörter nicht mehr nur einem substantivischen Repertoire entnommen, sondern ein großer Teil der Roman–„Artikel“ wird in chaotischer Folge durch Vor-, Für-, Umstands-, Eigenschaftswörter eingeleitet. Nach einer „Präludium und Fuge“ genannten Einleitung folgt in ''Meteoriten'' die Leseanweisung:

}}}} Im Zuge der Digitalisierung der Geisteswissenschaften, die zum neuen institutionalisierten Forschungsfeld der Digital Humanities geführt hat und deren Aufgabenbereich unter anderem die Anwendung und Reflexion der neuen digitalen Kommunikationsformen, neue Anwendungsbereiche und Methoden in Forschung und Lehre umfasst, aber auch eine zeitgemäße Archivierung und Vernetzung, werden Okopenkos Tagebücher seit 2018 digital und in gedruckter Form herausgegeben. Das Ziel dieser Herausgabe ist, aufzuzeigen, wie Kommunikation unter digitalen Gesichtspunkten unabhängig bleiben kann, indem das Denken ''fluidisch'' nicht den Algorithmen und die Navigation ''konkretionistisch'' nicht den Domains überlassen wird.

Okopenko war von 1973 bis 1985 Mitglied der Grazer Autorenversammlung; seit 1999 gehörte er dem Österreichischen Kunstsenat an.

Er wurde in einem ehrenhalber gewidmeten Grab am Grinzinger Friedhof (Gruppe 24, Reihe 8, Nummer 5) in Wien bestattet. Andreas Okopenkos Nachlass wird im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrt. Veröffentlicht in Wikipedia
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